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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die "Runst" des Lichtspieltheaters

liebes Einschreiten mit dem geltenden Recht nicht in Einklang stehe, hat, da es
sich ja um Vorschläge ac leM ferericla handelt, keine Bedeutung. Die Angst
vor der polizeilichen Bevormundung mag in Preußen bis zu einem gewissen Grade
berechtigt sein, in Württemberg ist sie es nach dem Urteil der Sachkenner jeden¬
falls nicht. Der Hauptfehler aber, den Hellwig macht, ist der, daß er die kinemato¬
graphischen Vorführungen -- ich meine natürlich immer nur die "Dramen" --
als Kunstwerke behandelt, was sie nicht sind, was sie schon aus rein äußerlichen
Gründen nicht sein können. Und da dies der Punkt ist, den die meisten
Menschen gar nicht zu verstehen scheinen, sei es mir gestattet, darauf etwas
näher einzugehen.

Es ist bekannt, daß die Kunst sehr vieles darstellen darf, was in der
Wirklichkeit verboten ist, d. h. Anstoß erregen, ja sogar bestraft werden würde.
Maler und Dichter dürfen Handlungen und Vorgänge schildern, die an sich
unerlaubt sind, und ihre Werke werden an öffentlichen Orten ausgestellt, vor¬
gelesen und aufgeführt, wo der wirkliche Vorgang einfach verboten wäre. Nicht
nur, daß die bildende Kunst ganz ungeniert, und zwar mit vollem Recht, das
Nackte darstellt. Männlein und Weiblein in adamitischem Kostüm nebeneinander
stehen läßt, was in der Wirklichkeit durchaus verpönt ist. Auch die Poesie
schildert ohne Bedenken die allerschlimmsten Verbrechen, Mord und Totschlag,
Ehebruch, Verführung. Raub, Diebstahl und Brandstiftung, auf denen im Leben
zum Teil schwere Strafen stehen, deren Anblick uns deshalb durch Sitte und
Gesetz aufs strengste verwehrt wird. Ja gewisse Kunstgattungen, wie die
Tragödie und der soziale Roman, haben sogar im allgemeinen eine Vorliebe
für grausige, häßliche und verbrecherische Handlungen, gegen deren Anblick wir
uns im Leben mit allen Mitteln zu schützen suchen.

Der Grund, warum Kunst und Wirklichkeit hierin so ganz auseinandergehen,
ist bekannt. Die Kunst, die nach starken Gefühlswirkungen strebt, bietet uns
diese ausgesprochenen Handlungen nicht als Wirklichkeit, sondern in der Form
von Scheinhandlungen dar. Wir nehmen den Inhalt eines Kunstwerkes,
wenn ich mich so ausdrücken darf, immer nur hypothetisch, mit einem gewissen
Vorbehalt in uns auf. Um Gefühle erleben zu können, setzen wir den Fall,
daß es so wäre, wie der Künstler es darstellt. Beim Anblick eines auf der
Bühne dargestellten Mordes sagen wir uns im stillen: dieser Mord würde
sich, wenn er in Wirklichkeit passierte, ungefähr so abspielen. Bei dem Bilde
einer Hinrichtung sagen wir, sie würde, wenn wir sie miterleben dürften, etwa so
vorbereitet werden wie es der Maler hier darstellt. Durch dieses "hypothetische
Schauen", wie ich es einmal nennen will, durch diesen imaginären Charakter
alles in der Kunst von uns Gesehenen werden die inhaltlichen Gefühle, d. h.
die Gefühle, die denjenigen entsprechen, welche ver dargestellte Inhalt in der
Wirklichkeit bei uns auslösen würde, ganz bedeutend abgeschwächt. Und zwar
wird diese Abschwächung umso größer sein, je mehr wir bei der Anschauung
des Kunstwerks an den Künstler denken, der das Werk geschaffen hat, d. h. je


Die „Runst" des Lichtspieltheaters

liebes Einschreiten mit dem geltenden Recht nicht in Einklang stehe, hat, da es
sich ja um Vorschläge ac leM ferericla handelt, keine Bedeutung. Die Angst
vor der polizeilichen Bevormundung mag in Preußen bis zu einem gewissen Grade
berechtigt sein, in Württemberg ist sie es nach dem Urteil der Sachkenner jeden¬
falls nicht. Der Hauptfehler aber, den Hellwig macht, ist der, daß er die kinemato¬
graphischen Vorführungen — ich meine natürlich immer nur die „Dramen" —
als Kunstwerke behandelt, was sie nicht sind, was sie schon aus rein äußerlichen
Gründen nicht sein können. Und da dies der Punkt ist, den die meisten
Menschen gar nicht zu verstehen scheinen, sei es mir gestattet, darauf etwas
näher einzugehen.

Es ist bekannt, daß die Kunst sehr vieles darstellen darf, was in der
Wirklichkeit verboten ist, d. h. Anstoß erregen, ja sogar bestraft werden würde.
Maler und Dichter dürfen Handlungen und Vorgänge schildern, die an sich
unerlaubt sind, und ihre Werke werden an öffentlichen Orten ausgestellt, vor¬
gelesen und aufgeführt, wo der wirkliche Vorgang einfach verboten wäre. Nicht
nur, daß die bildende Kunst ganz ungeniert, und zwar mit vollem Recht, das
Nackte darstellt. Männlein und Weiblein in adamitischem Kostüm nebeneinander
stehen läßt, was in der Wirklichkeit durchaus verpönt ist. Auch die Poesie
schildert ohne Bedenken die allerschlimmsten Verbrechen, Mord und Totschlag,
Ehebruch, Verführung. Raub, Diebstahl und Brandstiftung, auf denen im Leben
zum Teil schwere Strafen stehen, deren Anblick uns deshalb durch Sitte und
Gesetz aufs strengste verwehrt wird. Ja gewisse Kunstgattungen, wie die
Tragödie und der soziale Roman, haben sogar im allgemeinen eine Vorliebe
für grausige, häßliche und verbrecherische Handlungen, gegen deren Anblick wir
uns im Leben mit allen Mitteln zu schützen suchen.

Der Grund, warum Kunst und Wirklichkeit hierin so ganz auseinandergehen,
ist bekannt. Die Kunst, die nach starken Gefühlswirkungen strebt, bietet uns
diese ausgesprochenen Handlungen nicht als Wirklichkeit, sondern in der Form
von Scheinhandlungen dar. Wir nehmen den Inhalt eines Kunstwerkes,
wenn ich mich so ausdrücken darf, immer nur hypothetisch, mit einem gewissen
Vorbehalt in uns auf. Um Gefühle erleben zu können, setzen wir den Fall,
daß es so wäre, wie der Künstler es darstellt. Beim Anblick eines auf der
Bühne dargestellten Mordes sagen wir uns im stillen: dieser Mord würde
sich, wenn er in Wirklichkeit passierte, ungefähr so abspielen. Bei dem Bilde
einer Hinrichtung sagen wir, sie würde, wenn wir sie miterleben dürften, etwa so
vorbereitet werden wie es der Maler hier darstellt. Durch dieses „hypothetische
Schauen", wie ich es einmal nennen will, durch diesen imaginären Charakter
alles in der Kunst von uns Gesehenen werden die inhaltlichen Gefühle, d. h.
die Gefühle, die denjenigen entsprechen, welche ver dargestellte Inhalt in der
Wirklichkeit bei uns auslösen würde, ganz bedeutend abgeschwächt. Und zwar
wird diese Abschwächung umso größer sein, je mehr wir bei der Anschauung
des Kunstwerks an den Künstler denken, der das Werk geschaffen hat, d. h. je


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[0524] Die „Runst" des Lichtspieltheaters liebes Einschreiten mit dem geltenden Recht nicht in Einklang stehe, hat, da es sich ja um Vorschläge ac leM ferericla handelt, keine Bedeutung. Die Angst vor der polizeilichen Bevormundung mag in Preußen bis zu einem gewissen Grade berechtigt sein, in Württemberg ist sie es nach dem Urteil der Sachkenner jeden¬ falls nicht. Der Hauptfehler aber, den Hellwig macht, ist der, daß er die kinemato¬ graphischen Vorführungen — ich meine natürlich immer nur die „Dramen" — als Kunstwerke behandelt, was sie nicht sind, was sie schon aus rein äußerlichen Gründen nicht sein können. Und da dies der Punkt ist, den die meisten Menschen gar nicht zu verstehen scheinen, sei es mir gestattet, darauf etwas näher einzugehen. Es ist bekannt, daß die Kunst sehr vieles darstellen darf, was in der Wirklichkeit verboten ist, d. h. Anstoß erregen, ja sogar bestraft werden würde. Maler und Dichter dürfen Handlungen und Vorgänge schildern, die an sich unerlaubt sind, und ihre Werke werden an öffentlichen Orten ausgestellt, vor¬ gelesen und aufgeführt, wo der wirkliche Vorgang einfach verboten wäre. Nicht nur, daß die bildende Kunst ganz ungeniert, und zwar mit vollem Recht, das Nackte darstellt. Männlein und Weiblein in adamitischem Kostüm nebeneinander stehen läßt, was in der Wirklichkeit durchaus verpönt ist. Auch die Poesie schildert ohne Bedenken die allerschlimmsten Verbrechen, Mord und Totschlag, Ehebruch, Verführung. Raub, Diebstahl und Brandstiftung, auf denen im Leben zum Teil schwere Strafen stehen, deren Anblick uns deshalb durch Sitte und Gesetz aufs strengste verwehrt wird. Ja gewisse Kunstgattungen, wie die Tragödie und der soziale Roman, haben sogar im allgemeinen eine Vorliebe für grausige, häßliche und verbrecherische Handlungen, gegen deren Anblick wir uns im Leben mit allen Mitteln zu schützen suchen. Der Grund, warum Kunst und Wirklichkeit hierin so ganz auseinandergehen, ist bekannt. Die Kunst, die nach starken Gefühlswirkungen strebt, bietet uns diese ausgesprochenen Handlungen nicht als Wirklichkeit, sondern in der Form von Scheinhandlungen dar. Wir nehmen den Inhalt eines Kunstwerkes, wenn ich mich so ausdrücken darf, immer nur hypothetisch, mit einem gewissen Vorbehalt in uns auf. Um Gefühle erleben zu können, setzen wir den Fall, daß es so wäre, wie der Künstler es darstellt. Beim Anblick eines auf der Bühne dargestellten Mordes sagen wir uns im stillen: dieser Mord würde sich, wenn er in Wirklichkeit passierte, ungefähr so abspielen. Bei dem Bilde einer Hinrichtung sagen wir, sie würde, wenn wir sie miterleben dürften, etwa so vorbereitet werden wie es der Maler hier darstellt. Durch dieses „hypothetische Schauen", wie ich es einmal nennen will, durch diesen imaginären Charakter alles in der Kunst von uns Gesehenen werden die inhaltlichen Gefühle, d. h. die Gefühle, die denjenigen entsprechen, welche ver dargestellte Inhalt in der Wirklichkeit bei uns auslösen würde, ganz bedeutend abgeschwächt. Und zwar wird diese Abschwächung umso größer sein, je mehr wir bei der Anschauung des Kunstwerks an den Künstler denken, der das Werk geschaffen hat, d. h. je

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/524>, abgerufen am 28.07.2024.