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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die "Kunst" des Lichtspieltheaters

teils rohen und sensationellen, teils schwächlichen und sentimentalen "Kunstfilms"
sind es vor allem, gegen die sich die Opposition richtet, und auf die sich denn
auch die gesetzlichen Bestimmungen, von denen eben die Rede war, vorzugs¬
weise beziehen. Nur von ihnen soll deshalb ini folgenden gehandelt werden.
Damit ist aber gesagt, daß es sich für uns nicht um einen Kampf gegen
den Kino als solchen handelt, sondern nur um eine Opposition gegen bestimmte
Teile der Aufführungen, bestimmte Nummern des Repertoirs. Nichts wäre
verkehrter als dieser schönen Erfindung überhaupt Schwierigkeiten in den Weg
legen zu wollen. Daran denkt auch, soviel ich sehe, niemand. Kein Mensch
wird dem Kino verwehren, allerlei Tagesereignisse nach der Art eines gewissen¬
haften Reporters photographisch festzuhalten und im bewegten Bilde dem Pub¬
likum vorzuführen. Noch niemals ist etwas dagegen eingewendet worden, daß
schöne Landschaften und Neiseaufuahmen, z. B. Darstellungen der bewegten See
oder Blicke aus dem fahrenden Eisenbahnwagen im Lichtspieltheater zur An¬
schauung gebracht werden. Und wer hätte wohl je ein Bedenken dagegen
gehabt, daß interessante Bewegungsvorgänge wie Manöverszenen, technische
Manipulationen, landwirtschaftliche Arbeiten und dergleichen im bewegten Bilde
vorgeführt werden, ganz zu schweigen von der Benutzung des Kinemato¬
graphen für wissenschaftliche Zwecke, z. B. die Veranschaulichung gewisser sich
in Bewegungen äußernder Naturvorgänge oder dergleichen mit der Absicht,
über Fragen der Medizin und der Naturwissenschaft Licht zu verbreiten?

Ja selbst sür künstlerische Zwecke kann das Lichtspieltheater ohne Bedenken
nutzbar gemacht werden. Zunächst in Form der Burleske, die mit ihren spa߬
haften Übertreibungen und phantastischen Kombinationen so recht das spezifische
Feld einer Technik ist, für die es eigentlich keine Unmöglichkeiten gibt. So¬
dann als ein Surrogat des Tanzes und der Pantomime, das in dieser Form,
besonders in Verbindung mit wirklich guter Musik, Effekte hervorbringen kann,
die dem wirklichen Tanz und der wirklichen Pantomime nur wenig nachstehen.

Wogegen sich der Kampf allein richtet, das sind vielmehr jene fast immer
nur in notdürftiger Weise zugestutztem, des Wortes beraubten und ganz auf
die Bewegung eingeschränkten szenischen Arrangements, die mit wirklichen
Theateraufführungen eigentlich nur das mimische Element der Bewegung und
des Gesichtsausdrucks und die Tatsache gemein haben, daß Schauspieler bei
ihnen als Modelle benutzt worden sind. Aber gerade sie nehmen in der
Regel einen so großen Teil der Vorstellung in Anspruch -- oft bis zu zwei
Stunden --, daß man ganz ruhig sagen kann: sie sind es, die ihr den eigentlichen
Charakter verleihen. Und mehr als das: sie bilden auch denjenigen Teil der
Vorführungen, der die größte Anziehungskraft ausübt, auf den deshalb nicht
nur die Besitzer, sondern auch die Besucher des Kinos den meisten Wert legen.
Man kann deshalb sehr oft das Urteil hören, daß mit den "Dramen" das
ganze Lichtspieltheater steht und fällt, daß, wenn man sie beseitigen oder ein¬
schränken wollte, der ganze Kino seine Lebensfähigkeit mit einem Schlage ver-


Die „Kunst" des Lichtspieltheaters

teils rohen und sensationellen, teils schwächlichen und sentimentalen „Kunstfilms"
sind es vor allem, gegen die sich die Opposition richtet, und auf die sich denn
auch die gesetzlichen Bestimmungen, von denen eben die Rede war, vorzugs¬
weise beziehen. Nur von ihnen soll deshalb ini folgenden gehandelt werden.
Damit ist aber gesagt, daß es sich für uns nicht um einen Kampf gegen
den Kino als solchen handelt, sondern nur um eine Opposition gegen bestimmte
Teile der Aufführungen, bestimmte Nummern des Repertoirs. Nichts wäre
verkehrter als dieser schönen Erfindung überhaupt Schwierigkeiten in den Weg
legen zu wollen. Daran denkt auch, soviel ich sehe, niemand. Kein Mensch
wird dem Kino verwehren, allerlei Tagesereignisse nach der Art eines gewissen¬
haften Reporters photographisch festzuhalten und im bewegten Bilde dem Pub¬
likum vorzuführen. Noch niemals ist etwas dagegen eingewendet worden, daß
schöne Landschaften und Neiseaufuahmen, z. B. Darstellungen der bewegten See
oder Blicke aus dem fahrenden Eisenbahnwagen im Lichtspieltheater zur An¬
schauung gebracht werden. Und wer hätte wohl je ein Bedenken dagegen
gehabt, daß interessante Bewegungsvorgänge wie Manöverszenen, technische
Manipulationen, landwirtschaftliche Arbeiten und dergleichen im bewegten Bilde
vorgeführt werden, ganz zu schweigen von der Benutzung des Kinemato¬
graphen für wissenschaftliche Zwecke, z. B. die Veranschaulichung gewisser sich
in Bewegungen äußernder Naturvorgänge oder dergleichen mit der Absicht,
über Fragen der Medizin und der Naturwissenschaft Licht zu verbreiten?

Ja selbst sür künstlerische Zwecke kann das Lichtspieltheater ohne Bedenken
nutzbar gemacht werden. Zunächst in Form der Burleske, die mit ihren spa߬
haften Übertreibungen und phantastischen Kombinationen so recht das spezifische
Feld einer Technik ist, für die es eigentlich keine Unmöglichkeiten gibt. So¬
dann als ein Surrogat des Tanzes und der Pantomime, das in dieser Form,
besonders in Verbindung mit wirklich guter Musik, Effekte hervorbringen kann,
die dem wirklichen Tanz und der wirklichen Pantomime nur wenig nachstehen.

Wogegen sich der Kampf allein richtet, das sind vielmehr jene fast immer
nur in notdürftiger Weise zugestutztem, des Wortes beraubten und ganz auf
die Bewegung eingeschränkten szenischen Arrangements, die mit wirklichen
Theateraufführungen eigentlich nur das mimische Element der Bewegung und
des Gesichtsausdrucks und die Tatsache gemein haben, daß Schauspieler bei
ihnen als Modelle benutzt worden sind. Aber gerade sie nehmen in der
Regel einen so großen Teil der Vorstellung in Anspruch — oft bis zu zwei
Stunden —, daß man ganz ruhig sagen kann: sie sind es, die ihr den eigentlichen
Charakter verleihen. Und mehr als das: sie bilden auch denjenigen Teil der
Vorführungen, der die größte Anziehungskraft ausübt, auf den deshalb nicht
nur die Besitzer, sondern auch die Besucher des Kinos den meisten Wert legen.
Man kann deshalb sehr oft das Urteil hören, daß mit den „Dramen" das
ganze Lichtspieltheater steht und fällt, daß, wenn man sie beseitigen oder ein¬
schränken wollte, der ganze Kino seine Lebensfähigkeit mit einem Schlage ver-


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[0521] Die „Kunst" des Lichtspieltheaters teils rohen und sensationellen, teils schwächlichen und sentimentalen „Kunstfilms" sind es vor allem, gegen die sich die Opposition richtet, und auf die sich denn auch die gesetzlichen Bestimmungen, von denen eben die Rede war, vorzugs¬ weise beziehen. Nur von ihnen soll deshalb ini folgenden gehandelt werden. Damit ist aber gesagt, daß es sich für uns nicht um einen Kampf gegen den Kino als solchen handelt, sondern nur um eine Opposition gegen bestimmte Teile der Aufführungen, bestimmte Nummern des Repertoirs. Nichts wäre verkehrter als dieser schönen Erfindung überhaupt Schwierigkeiten in den Weg legen zu wollen. Daran denkt auch, soviel ich sehe, niemand. Kein Mensch wird dem Kino verwehren, allerlei Tagesereignisse nach der Art eines gewissen¬ haften Reporters photographisch festzuhalten und im bewegten Bilde dem Pub¬ likum vorzuführen. Noch niemals ist etwas dagegen eingewendet worden, daß schöne Landschaften und Neiseaufuahmen, z. B. Darstellungen der bewegten See oder Blicke aus dem fahrenden Eisenbahnwagen im Lichtspieltheater zur An¬ schauung gebracht werden. Und wer hätte wohl je ein Bedenken dagegen gehabt, daß interessante Bewegungsvorgänge wie Manöverszenen, technische Manipulationen, landwirtschaftliche Arbeiten und dergleichen im bewegten Bilde vorgeführt werden, ganz zu schweigen von der Benutzung des Kinemato¬ graphen für wissenschaftliche Zwecke, z. B. die Veranschaulichung gewisser sich in Bewegungen äußernder Naturvorgänge oder dergleichen mit der Absicht, über Fragen der Medizin und der Naturwissenschaft Licht zu verbreiten? Ja selbst sür künstlerische Zwecke kann das Lichtspieltheater ohne Bedenken nutzbar gemacht werden. Zunächst in Form der Burleske, die mit ihren spa߬ haften Übertreibungen und phantastischen Kombinationen so recht das spezifische Feld einer Technik ist, für die es eigentlich keine Unmöglichkeiten gibt. So¬ dann als ein Surrogat des Tanzes und der Pantomime, das in dieser Form, besonders in Verbindung mit wirklich guter Musik, Effekte hervorbringen kann, die dem wirklichen Tanz und der wirklichen Pantomime nur wenig nachstehen. Wogegen sich der Kampf allein richtet, das sind vielmehr jene fast immer nur in notdürftiger Weise zugestutztem, des Wortes beraubten und ganz auf die Bewegung eingeschränkten szenischen Arrangements, die mit wirklichen Theateraufführungen eigentlich nur das mimische Element der Bewegung und des Gesichtsausdrucks und die Tatsache gemein haben, daß Schauspieler bei ihnen als Modelle benutzt worden sind. Aber gerade sie nehmen in der Regel einen so großen Teil der Vorstellung in Anspruch — oft bis zu zwei Stunden —, daß man ganz ruhig sagen kann: sie sind es, die ihr den eigentlichen Charakter verleihen. Und mehr als das: sie bilden auch denjenigen Teil der Vorführungen, der die größte Anziehungskraft ausübt, auf den deshalb nicht nur die Besitzer, sondern auch die Besucher des Kinos den meisten Wert legen. Man kann deshalb sehr oft das Urteil hören, daß mit den „Dramen" das ganze Lichtspieltheater steht und fällt, daß, wenn man sie beseitigen oder ein¬ schränken wollte, der ganze Kino seine Lebensfähigkeit mit einem Schlage ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/521>, abgerufen am 22.12.2024.