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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die "Runst" des Lichtspieltheaters

lieren würde. Daraus sieht man ganz deutlich, wie gering gegenwärtig die
Entwicklung der übrigen Nummern des Repertoirs ist, wie wenig sich Dichter,
Schauspieler und Musiker bisher bemüht haben, die im Wesen des Kine¬
matographen liegenden Möglichkeiten der Entwicklung auszunutzen, d. h. einen
eigentlichen Kinostil auszubilden.

Solange die Dinge so liegen, muß man sagen, daß der Kino seine Kinder¬
krankheiten noch nicht überwunden hat. Und das ist deshalb sehr schlimm, weil
aus der einseitigen und übertriebenen Betonung der Dramen dem wirklichen
Theater eine Konkurrenz erwächst, die in ihrer vollen Tragweite noch immer
nicht erkannt zu sein scheint. Wohl weiß man, daß in Deutschland viele
kleinere Theater infolge der Konkurrenz des Kinos eingegangen sind und geradezu
in Lichtspieltheater haben umgewandelt werden müssen. Aber man sagt sich zur
Beschwichtigung wohl: das waren Possen- und Operettenbühnen, an denen nicht
viel verloren war, und gegen die ein gutes Lichtspieltheater vielleicht sogar als
Gewinn gelten könnte. Und man unterschätzt dabei den Verlust an wirklich
künstlerischen Werten, der mit diesem Vordringen der Lichtspieltheater verbunden
ist. Denn sie bereiten dem echten Theater nicht nur insofern Konkurrenz,
als sie ihm durch ihre Billigkeit und das sensationelle ihrer Vorführungen
das Publikum abspenstig machen und damit die Lebensfähigkeit untergraben,
sondern sie schädigen auch die Bühne und die ganze dramatische Kunst
dadurch, daß sie das Publikum der Fähigkeit, dramatische Werte zu erkennen
und zu genießen, völlig berauben, und zwar in einer Weise, die, wenn das
so fortgeht, notwendig zum Verfall der Bühnenkunst führen muß. Daß man
diese Gefahr in weiteren Kreisen immer noch nicht erkannt hat, daß man in¬
folgedessen auch die Gesetze und Gesetzentwürfe, die sich auf die Einschränkung
des Lichtspieltheaters beziehen, immer wieder falsch beurteilt und ungerecht
kritisiert, beruht auf einer ganz verkehrten Auffassung von dem angeblich "künst¬
lerischen" Charakter der kinematographischen Vorstellungen. Man stellt diese
nämlich vielfach mit wirklich künstlerischen Theateraufführungen auf eine Stufe
und will sie genau wie diese behandelt, d. h. von jeder strengen Zensur befreit
wissen. Dafür nur ein Beispiel:

Der erwähnte württembergische Gesetzentwurf bestimmt im Artikel 2: "Die
Zulassung eines Bildstreifens ist zu versagen, wenn seine öffentliche Vorführung
vermöge der dargestellten Vorgänge oder der Art, wie sie dargestellt werden,
geeignet wäre, die Gesundheit oder Sittlichkeit der Zuschauer zu gefährden, oder
eine verrohende oder die Phantasie verderbende oder überreizende oder den
Sinn für Recht und öffentliche Ordnung verwirrende oder abstumpfende Ein¬
wirkung auf sie auszuüben." Eine durchaus zutreffende Bestimmung, die
insbesondere auf die sogenannten Schundfilms, d. h. Bildstreifen mit sexuell
anstößigen oder sonstwie sensationellen Inhalt, vollkommen paßt. Aber freilich
eine Bestimmung, durch die ein großer Teil der Dramen unmöglich gemacht
werden würde. Das darf aber natürlich nicht sein, denn darunter könnten ja


Die „Runst" des Lichtspieltheaters

lieren würde. Daraus sieht man ganz deutlich, wie gering gegenwärtig die
Entwicklung der übrigen Nummern des Repertoirs ist, wie wenig sich Dichter,
Schauspieler und Musiker bisher bemüht haben, die im Wesen des Kine¬
matographen liegenden Möglichkeiten der Entwicklung auszunutzen, d. h. einen
eigentlichen Kinostil auszubilden.

Solange die Dinge so liegen, muß man sagen, daß der Kino seine Kinder¬
krankheiten noch nicht überwunden hat. Und das ist deshalb sehr schlimm, weil
aus der einseitigen und übertriebenen Betonung der Dramen dem wirklichen
Theater eine Konkurrenz erwächst, die in ihrer vollen Tragweite noch immer
nicht erkannt zu sein scheint. Wohl weiß man, daß in Deutschland viele
kleinere Theater infolge der Konkurrenz des Kinos eingegangen sind und geradezu
in Lichtspieltheater haben umgewandelt werden müssen. Aber man sagt sich zur
Beschwichtigung wohl: das waren Possen- und Operettenbühnen, an denen nicht
viel verloren war, und gegen die ein gutes Lichtspieltheater vielleicht sogar als
Gewinn gelten könnte. Und man unterschätzt dabei den Verlust an wirklich
künstlerischen Werten, der mit diesem Vordringen der Lichtspieltheater verbunden
ist. Denn sie bereiten dem echten Theater nicht nur insofern Konkurrenz,
als sie ihm durch ihre Billigkeit und das sensationelle ihrer Vorführungen
das Publikum abspenstig machen und damit die Lebensfähigkeit untergraben,
sondern sie schädigen auch die Bühne und die ganze dramatische Kunst
dadurch, daß sie das Publikum der Fähigkeit, dramatische Werte zu erkennen
und zu genießen, völlig berauben, und zwar in einer Weise, die, wenn das
so fortgeht, notwendig zum Verfall der Bühnenkunst führen muß. Daß man
diese Gefahr in weiteren Kreisen immer noch nicht erkannt hat, daß man in¬
folgedessen auch die Gesetze und Gesetzentwürfe, die sich auf die Einschränkung
des Lichtspieltheaters beziehen, immer wieder falsch beurteilt und ungerecht
kritisiert, beruht auf einer ganz verkehrten Auffassung von dem angeblich „künst¬
lerischen" Charakter der kinematographischen Vorstellungen. Man stellt diese
nämlich vielfach mit wirklich künstlerischen Theateraufführungen auf eine Stufe
und will sie genau wie diese behandelt, d. h. von jeder strengen Zensur befreit
wissen. Dafür nur ein Beispiel:

Der erwähnte württembergische Gesetzentwurf bestimmt im Artikel 2: „Die
Zulassung eines Bildstreifens ist zu versagen, wenn seine öffentliche Vorführung
vermöge der dargestellten Vorgänge oder der Art, wie sie dargestellt werden,
geeignet wäre, die Gesundheit oder Sittlichkeit der Zuschauer zu gefährden, oder
eine verrohende oder die Phantasie verderbende oder überreizende oder den
Sinn für Recht und öffentliche Ordnung verwirrende oder abstumpfende Ein¬
wirkung auf sie auszuüben." Eine durchaus zutreffende Bestimmung, die
insbesondere auf die sogenannten Schundfilms, d. h. Bildstreifen mit sexuell
anstößigen oder sonstwie sensationellen Inhalt, vollkommen paßt. Aber freilich
eine Bestimmung, durch die ein großer Teil der Dramen unmöglich gemacht
werden würde. Das darf aber natürlich nicht sein, denn darunter könnten ja


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[0522] Die „Runst" des Lichtspieltheaters lieren würde. Daraus sieht man ganz deutlich, wie gering gegenwärtig die Entwicklung der übrigen Nummern des Repertoirs ist, wie wenig sich Dichter, Schauspieler und Musiker bisher bemüht haben, die im Wesen des Kine¬ matographen liegenden Möglichkeiten der Entwicklung auszunutzen, d. h. einen eigentlichen Kinostil auszubilden. Solange die Dinge so liegen, muß man sagen, daß der Kino seine Kinder¬ krankheiten noch nicht überwunden hat. Und das ist deshalb sehr schlimm, weil aus der einseitigen und übertriebenen Betonung der Dramen dem wirklichen Theater eine Konkurrenz erwächst, die in ihrer vollen Tragweite noch immer nicht erkannt zu sein scheint. Wohl weiß man, daß in Deutschland viele kleinere Theater infolge der Konkurrenz des Kinos eingegangen sind und geradezu in Lichtspieltheater haben umgewandelt werden müssen. Aber man sagt sich zur Beschwichtigung wohl: das waren Possen- und Operettenbühnen, an denen nicht viel verloren war, und gegen die ein gutes Lichtspieltheater vielleicht sogar als Gewinn gelten könnte. Und man unterschätzt dabei den Verlust an wirklich künstlerischen Werten, der mit diesem Vordringen der Lichtspieltheater verbunden ist. Denn sie bereiten dem echten Theater nicht nur insofern Konkurrenz, als sie ihm durch ihre Billigkeit und das sensationelle ihrer Vorführungen das Publikum abspenstig machen und damit die Lebensfähigkeit untergraben, sondern sie schädigen auch die Bühne und die ganze dramatische Kunst dadurch, daß sie das Publikum der Fähigkeit, dramatische Werte zu erkennen und zu genießen, völlig berauben, und zwar in einer Weise, die, wenn das so fortgeht, notwendig zum Verfall der Bühnenkunst führen muß. Daß man diese Gefahr in weiteren Kreisen immer noch nicht erkannt hat, daß man in¬ folgedessen auch die Gesetze und Gesetzentwürfe, die sich auf die Einschränkung des Lichtspieltheaters beziehen, immer wieder falsch beurteilt und ungerecht kritisiert, beruht auf einer ganz verkehrten Auffassung von dem angeblich „künst¬ lerischen" Charakter der kinematographischen Vorstellungen. Man stellt diese nämlich vielfach mit wirklich künstlerischen Theateraufführungen auf eine Stufe und will sie genau wie diese behandelt, d. h. von jeder strengen Zensur befreit wissen. Dafür nur ein Beispiel: Der erwähnte württembergische Gesetzentwurf bestimmt im Artikel 2: „Die Zulassung eines Bildstreifens ist zu versagen, wenn seine öffentliche Vorführung vermöge der dargestellten Vorgänge oder der Art, wie sie dargestellt werden, geeignet wäre, die Gesundheit oder Sittlichkeit der Zuschauer zu gefährden, oder eine verrohende oder die Phantasie verderbende oder überreizende oder den Sinn für Recht und öffentliche Ordnung verwirrende oder abstumpfende Ein¬ wirkung auf sie auszuüben." Eine durchaus zutreffende Bestimmung, die insbesondere auf die sogenannten Schundfilms, d. h. Bildstreifen mit sexuell anstößigen oder sonstwie sensationellen Inhalt, vollkommen paßt. Aber freilich eine Bestimmung, durch die ein großer Teil der Dramen unmöglich gemacht werden würde. Das darf aber natürlich nicht sein, denn darunter könnten ja

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/522>, abgerufen am 22.12.2024.