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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Adolf Matthias und das höhere Schulwesen

Jedenfalls leuchtet ein, wie groß der Gewinn sein würde, der unseren
Schulen aus einer solchen Neuerung erwachsen könnte und wie sehr sie geeignet
wäre, Mängeln unseres heutigen Unterrichtswesens abzuhelfen. Solche Mängel
zeigt auch heute noch, nach mancherlei Besserungsversuchen, besonders die Vor¬
bildung und am meisten die pädagogische Vorbildung unserer Oberlehrer.
Matthias wiederholt, wenn auch in schonender Form die Klagen, die von so
vielen Seiten und leider mit allzu großem Recht erhoben werden, darüber, daß
die Universitäten oder genauer die philosophischen Fakultäten in übel angebrachter
Einseitigkeit ihre pädagogischen Aufgaben und damit zugleich die Rücksicht auf
das Bedürfnis unseres Schulwesens ablehnen. Auch er erhebt die Forderung
nach pädagogischen Universitätsprofessoren, "damit endlich einmal eigene Stätten
der freien Forschung vorhanden sind, an denen die Pädagogik nicht nur als
Anhängsel auftritt, sondern als selbständige Wissenschaft". Am schärfsten und
für den einzelnen am nachteiligsten tritt der Zwiespalt zwischen der Vorbildung
und den Anforderungen des Berufes bei den Staatsprüfungen hervor. Auch hier
schöpft Matthias aus persönlicher Erfahrung. Er macht beachtenswerte Vorschläge
zu einzelnen Besserungen: sie gipfeln darin, daß nur pädagogisch tüchtige Männer
auch unter den Hochschullehrern in diese Kommissionen ernannt werden sollen.
Hier nun wäre der Ort für jene pädagogische Kommisston, um einzugreifen
und zu bessern. Sie müßte die Prüfungsordnung einer ernsten Revision unter¬
ziehen und dem pädagogischen Gesichtspunkt zu seinem Rechte verhelfen.

Noch in einer anderen Hinsicht zeigt Matthias, was die "wissenschaftliche
Deputation", wie sie Humboldt nannte, leisten könnte und sollte.

Mit besonderem Nachdruck nämlich bekämpft er dasjenige, was er als
"Dogma von der Aufrechterhaltung der Lehrziele" bezeichnet; d. h. die bereits
traditionelle Forderung, daß bei allen Neuerungen und Entwicklungsphasen
unseres Unterrichtswesens die Lehrziele in den einzelnen Fächern die gleichen
bleiben oder jedenfalls nicht herabgesetzt werden dürften. Es ist ein Beispiel
von dem Goethescher "Vernunft wird Unsinn". Statt die Lehrforderungen und
Unterrichtsziele nach den Kräften der Jugend und der Zeit, die zur Verfügung
steht, zu bemessen und einzuteilen, tut man diesen Gewalt an, um jene zu
befriedigen, als ob das Mehr oder Weniger an grammatikalischen oder mathe¬
matischen Kenntnissen ein unveräußerliches Recht oder mindestens den Hauptwert
der Schulbildung darstellte. Die Bedürfnisse wandeln sich mit der Zeit, die
einzelnen Stoffe vermehren und vertiefen sich, aber unverrückbar "steht das
Unterrichtsziel als drohende Macht, als des äußerlichen Berechtigungsgesetzes
Gespenst im Hintergrunde und verscheucht zu leicht alles andere, was inneren
Wert und innere Bedeutung für wahre Bildung hat". Auch von anderer Seite
sind schon oft Klagen über diesen falschen Begriff, der die Bildung ausschließlich
nach der Masse des Wissensstoffes bemißt, erhoben. Aber es ist freilich nicht
leicht und für eine Verwaltungsbehörde fast unmöglich, die Lehrziele der Schule
dauernd im richtigen Verhältnis zur Entwicklung der Wissenschaft und den An-


Adolf Matthias und das höhere Schulwesen

Jedenfalls leuchtet ein, wie groß der Gewinn sein würde, der unseren
Schulen aus einer solchen Neuerung erwachsen könnte und wie sehr sie geeignet
wäre, Mängeln unseres heutigen Unterrichtswesens abzuhelfen. Solche Mängel
zeigt auch heute noch, nach mancherlei Besserungsversuchen, besonders die Vor¬
bildung und am meisten die pädagogische Vorbildung unserer Oberlehrer.
Matthias wiederholt, wenn auch in schonender Form die Klagen, die von so
vielen Seiten und leider mit allzu großem Recht erhoben werden, darüber, daß
die Universitäten oder genauer die philosophischen Fakultäten in übel angebrachter
Einseitigkeit ihre pädagogischen Aufgaben und damit zugleich die Rücksicht auf
das Bedürfnis unseres Schulwesens ablehnen. Auch er erhebt die Forderung
nach pädagogischen Universitätsprofessoren, „damit endlich einmal eigene Stätten
der freien Forschung vorhanden sind, an denen die Pädagogik nicht nur als
Anhängsel auftritt, sondern als selbständige Wissenschaft". Am schärfsten und
für den einzelnen am nachteiligsten tritt der Zwiespalt zwischen der Vorbildung
und den Anforderungen des Berufes bei den Staatsprüfungen hervor. Auch hier
schöpft Matthias aus persönlicher Erfahrung. Er macht beachtenswerte Vorschläge
zu einzelnen Besserungen: sie gipfeln darin, daß nur pädagogisch tüchtige Männer
auch unter den Hochschullehrern in diese Kommissionen ernannt werden sollen.
Hier nun wäre der Ort für jene pädagogische Kommisston, um einzugreifen
und zu bessern. Sie müßte die Prüfungsordnung einer ernsten Revision unter¬
ziehen und dem pädagogischen Gesichtspunkt zu seinem Rechte verhelfen.

Noch in einer anderen Hinsicht zeigt Matthias, was die „wissenschaftliche
Deputation", wie sie Humboldt nannte, leisten könnte und sollte.

Mit besonderem Nachdruck nämlich bekämpft er dasjenige, was er als
„Dogma von der Aufrechterhaltung der Lehrziele" bezeichnet; d. h. die bereits
traditionelle Forderung, daß bei allen Neuerungen und Entwicklungsphasen
unseres Unterrichtswesens die Lehrziele in den einzelnen Fächern die gleichen
bleiben oder jedenfalls nicht herabgesetzt werden dürften. Es ist ein Beispiel
von dem Goethescher „Vernunft wird Unsinn". Statt die Lehrforderungen und
Unterrichtsziele nach den Kräften der Jugend und der Zeit, die zur Verfügung
steht, zu bemessen und einzuteilen, tut man diesen Gewalt an, um jene zu
befriedigen, als ob das Mehr oder Weniger an grammatikalischen oder mathe¬
matischen Kenntnissen ein unveräußerliches Recht oder mindestens den Hauptwert
der Schulbildung darstellte. Die Bedürfnisse wandeln sich mit der Zeit, die
einzelnen Stoffe vermehren und vertiefen sich, aber unverrückbar „steht das
Unterrichtsziel als drohende Macht, als des äußerlichen Berechtigungsgesetzes
Gespenst im Hintergrunde und verscheucht zu leicht alles andere, was inneren
Wert und innere Bedeutung für wahre Bildung hat". Auch von anderer Seite
sind schon oft Klagen über diesen falschen Begriff, der die Bildung ausschließlich
nach der Masse des Wissensstoffes bemißt, erhoben. Aber es ist freilich nicht
leicht und für eine Verwaltungsbehörde fast unmöglich, die Lehrziele der Schule
dauernd im richtigen Verhältnis zur Entwicklung der Wissenschaft und den An-


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[0518] Adolf Matthias und das höhere Schulwesen Jedenfalls leuchtet ein, wie groß der Gewinn sein würde, der unseren Schulen aus einer solchen Neuerung erwachsen könnte und wie sehr sie geeignet wäre, Mängeln unseres heutigen Unterrichtswesens abzuhelfen. Solche Mängel zeigt auch heute noch, nach mancherlei Besserungsversuchen, besonders die Vor¬ bildung und am meisten die pädagogische Vorbildung unserer Oberlehrer. Matthias wiederholt, wenn auch in schonender Form die Klagen, die von so vielen Seiten und leider mit allzu großem Recht erhoben werden, darüber, daß die Universitäten oder genauer die philosophischen Fakultäten in übel angebrachter Einseitigkeit ihre pädagogischen Aufgaben und damit zugleich die Rücksicht auf das Bedürfnis unseres Schulwesens ablehnen. Auch er erhebt die Forderung nach pädagogischen Universitätsprofessoren, „damit endlich einmal eigene Stätten der freien Forschung vorhanden sind, an denen die Pädagogik nicht nur als Anhängsel auftritt, sondern als selbständige Wissenschaft". Am schärfsten und für den einzelnen am nachteiligsten tritt der Zwiespalt zwischen der Vorbildung und den Anforderungen des Berufes bei den Staatsprüfungen hervor. Auch hier schöpft Matthias aus persönlicher Erfahrung. Er macht beachtenswerte Vorschläge zu einzelnen Besserungen: sie gipfeln darin, daß nur pädagogisch tüchtige Männer auch unter den Hochschullehrern in diese Kommissionen ernannt werden sollen. Hier nun wäre der Ort für jene pädagogische Kommisston, um einzugreifen und zu bessern. Sie müßte die Prüfungsordnung einer ernsten Revision unter¬ ziehen und dem pädagogischen Gesichtspunkt zu seinem Rechte verhelfen. Noch in einer anderen Hinsicht zeigt Matthias, was die „wissenschaftliche Deputation", wie sie Humboldt nannte, leisten könnte und sollte. Mit besonderem Nachdruck nämlich bekämpft er dasjenige, was er als „Dogma von der Aufrechterhaltung der Lehrziele" bezeichnet; d. h. die bereits traditionelle Forderung, daß bei allen Neuerungen und Entwicklungsphasen unseres Unterrichtswesens die Lehrziele in den einzelnen Fächern die gleichen bleiben oder jedenfalls nicht herabgesetzt werden dürften. Es ist ein Beispiel von dem Goethescher „Vernunft wird Unsinn". Statt die Lehrforderungen und Unterrichtsziele nach den Kräften der Jugend und der Zeit, die zur Verfügung steht, zu bemessen und einzuteilen, tut man diesen Gewalt an, um jene zu befriedigen, als ob das Mehr oder Weniger an grammatikalischen oder mathe¬ matischen Kenntnissen ein unveräußerliches Recht oder mindestens den Hauptwert der Schulbildung darstellte. Die Bedürfnisse wandeln sich mit der Zeit, die einzelnen Stoffe vermehren und vertiefen sich, aber unverrückbar „steht das Unterrichtsziel als drohende Macht, als des äußerlichen Berechtigungsgesetzes Gespenst im Hintergrunde und verscheucht zu leicht alles andere, was inneren Wert und innere Bedeutung für wahre Bildung hat". Auch von anderer Seite sind schon oft Klagen über diesen falschen Begriff, der die Bildung ausschließlich nach der Masse des Wissensstoffes bemißt, erhoben. Aber es ist freilich nicht leicht und für eine Verwaltungsbehörde fast unmöglich, die Lehrziele der Schule dauernd im richtigen Verhältnis zur Entwicklung der Wissenschaft und den An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/518>, abgerufen am 27.07.2024.