Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Adolf Matthias und das höhere Schulwesen

Das Biographische tritt ganz zurück. Es beschränkt sich auf gelegentliche, mit
der Amtstätigkeit des Autors unmittelbar zusammenhängende Einzelheiten. Auch
das Schulgeschichtliche bildet nur in dem Kapitel über die beiden entscheidenden
Schulkonferenzen in den Jahren 1890 und 1900 den Gegenstand der Darstellung.
Vielleicht wird es nicht nur klatschsüchtige Neugier, sondern auch ernsthaft
historisches Interesse bedauern, daß Matthias uns, in offenbar gewollter Dis¬
kretion, so wenig von der internen Geschichte des Althoffschen Schulregimentes
verrät, von der schwerlich ein anderer soviel weiß als er. Allein die persön¬
lichen Erfahrungen aus Unterrichtsverwaltung, Schule und Erziehung bilden nur
die Unterlage und im einzelnen die Ausgangspunkte für die Darlegungen von
Anschauungen und Überzeugungen, welche den Gesamtkreis dieser Gebiete um¬
fassen und den eigentlichen Inhalt des Buches ausmachen. "Lebenserinnerungen,"
so charakterisiert Matthias die Anlage des Buches, "verweben sich überall mit
den Gedanken über Schule und Erziehung, die in festem Grund und Boden
einer nicht ganz armen Lebenserfahrung fußen."

Wenn somit die Ziele, denen die Darstellung zustrebt, rein sachlicher Natur
sind, so wird durch sie doch auch das persönliche und historische Interesse ent¬
schädigt. Denn die Persönlichkeit des Autors tritt gerade dadurch in ein um
so helleres und schärferes Licht, daß sie sich weniger absichtlich, gewissermaßen
naiver und ursprünglicher gibt, als es in einer Autobiographie der Fall sein
könnte. Der sachliche Gehalt des Buches aber zeigt uns zusammenfassend, was an
praktisch pädagogischen Ideen in jener geschichtlichen Epoche unseres Unterrichts¬
wesens lebendig geworden ist und ihr die Richtung gegeben hat. Zugleich aber
zeigt sich auch das Maß des Erreichten im Verhältnis zu dem, was unerreicht
geblieben ist.

Matthias, wie er uns in diesem Buche persönlich entgegentritt, ist ein im
schönsten Sinne freiheitlich gerichteter Mann. Nichts liegt ihm serner als Kräfte
zu binden, fremder Eigenart seinen Stempel aufzudrücken. Wie er für sich selbst
das Recht in Anspruch nimmt, unverhohlen seine Meinung zu sagen, so räumt er
jedem anderen das gleiche Recht ein, immer zur Anerkennung, immer zu hoffnungs¬
vollen Gewährenlassen bereit. Und es ist nicht nur angeborene oder durch Selbstzucht
erworbene Gerechtigkeitsliebe, die ihn leitet, wie sie etwa Paulsen oder auch Mlwch,
der ein anderer Typus verwandter Gattung war, geleitet hat, sondern vielmehr
eine Art von ästhetischer Freude am Anblick eigenartiger Kräfte und ihrer Ent¬
faltung, sei es auch und vielleicht auch ganz besonders in Wettstreit und Kampf.
Mehr als einmal tritt uns die Anschauung entgegen, wie der Streit, selbst
wenn er sich nicht in den erquicklichsten Bahnen und Formen bewegt, es doch
eigentlich ist, der die Entwicklung vorwärts bringt. "Die höheren Knaben¬
schulen sind zu dem was sie sind, erwachsen aus einem heftigen Kampfe, der
eine Klärungs- und Übungsstätte geistiger Kräfte bildete und der das Ganze
förderte, indem er durch offenen und ehrlichen Gegensatz der Meinungen Vor¬
urteile beseitigte und vor weiteren Einseitigkeiten und Irrwegen schützte." Gemeine


Adolf Matthias und das höhere Schulwesen

Das Biographische tritt ganz zurück. Es beschränkt sich auf gelegentliche, mit
der Amtstätigkeit des Autors unmittelbar zusammenhängende Einzelheiten. Auch
das Schulgeschichtliche bildet nur in dem Kapitel über die beiden entscheidenden
Schulkonferenzen in den Jahren 1890 und 1900 den Gegenstand der Darstellung.
Vielleicht wird es nicht nur klatschsüchtige Neugier, sondern auch ernsthaft
historisches Interesse bedauern, daß Matthias uns, in offenbar gewollter Dis¬
kretion, so wenig von der internen Geschichte des Althoffschen Schulregimentes
verrät, von der schwerlich ein anderer soviel weiß als er. Allein die persön¬
lichen Erfahrungen aus Unterrichtsverwaltung, Schule und Erziehung bilden nur
die Unterlage und im einzelnen die Ausgangspunkte für die Darlegungen von
Anschauungen und Überzeugungen, welche den Gesamtkreis dieser Gebiete um¬
fassen und den eigentlichen Inhalt des Buches ausmachen. „Lebenserinnerungen,"
so charakterisiert Matthias die Anlage des Buches, „verweben sich überall mit
den Gedanken über Schule und Erziehung, die in festem Grund und Boden
einer nicht ganz armen Lebenserfahrung fußen."

Wenn somit die Ziele, denen die Darstellung zustrebt, rein sachlicher Natur
sind, so wird durch sie doch auch das persönliche und historische Interesse ent¬
schädigt. Denn die Persönlichkeit des Autors tritt gerade dadurch in ein um
so helleres und schärferes Licht, daß sie sich weniger absichtlich, gewissermaßen
naiver und ursprünglicher gibt, als es in einer Autobiographie der Fall sein
könnte. Der sachliche Gehalt des Buches aber zeigt uns zusammenfassend, was an
praktisch pädagogischen Ideen in jener geschichtlichen Epoche unseres Unterrichts¬
wesens lebendig geworden ist und ihr die Richtung gegeben hat. Zugleich aber
zeigt sich auch das Maß des Erreichten im Verhältnis zu dem, was unerreicht
geblieben ist.

Matthias, wie er uns in diesem Buche persönlich entgegentritt, ist ein im
schönsten Sinne freiheitlich gerichteter Mann. Nichts liegt ihm serner als Kräfte
zu binden, fremder Eigenart seinen Stempel aufzudrücken. Wie er für sich selbst
das Recht in Anspruch nimmt, unverhohlen seine Meinung zu sagen, so räumt er
jedem anderen das gleiche Recht ein, immer zur Anerkennung, immer zu hoffnungs¬
vollen Gewährenlassen bereit. Und es ist nicht nur angeborene oder durch Selbstzucht
erworbene Gerechtigkeitsliebe, die ihn leitet, wie sie etwa Paulsen oder auch Mlwch,
der ein anderer Typus verwandter Gattung war, geleitet hat, sondern vielmehr
eine Art von ästhetischer Freude am Anblick eigenartiger Kräfte und ihrer Ent¬
faltung, sei es auch und vielleicht auch ganz besonders in Wettstreit und Kampf.
Mehr als einmal tritt uns die Anschauung entgegen, wie der Streit, selbst
wenn er sich nicht in den erquicklichsten Bahnen und Formen bewegt, es doch
eigentlich ist, der die Entwicklung vorwärts bringt. „Die höheren Knaben¬
schulen sind zu dem was sie sind, erwachsen aus einem heftigen Kampfe, der
eine Klärungs- und Übungsstätte geistiger Kräfte bildete und der das Ganze
förderte, indem er durch offenen und ehrlichen Gegensatz der Meinungen Vor¬
urteile beseitigte und vor weiteren Einseitigkeiten und Irrwegen schützte." Gemeine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0514" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326034"/>
          <fw type="header" place="top"> Adolf Matthias und das höhere Schulwesen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2372" prev="#ID_2371"> Das Biographische tritt ganz zurück. Es beschränkt sich auf gelegentliche, mit<lb/>
der Amtstätigkeit des Autors unmittelbar zusammenhängende Einzelheiten. Auch<lb/>
das Schulgeschichtliche bildet nur in dem Kapitel über die beiden entscheidenden<lb/>
Schulkonferenzen in den Jahren 1890 und 1900 den Gegenstand der Darstellung.<lb/>
Vielleicht wird es nicht nur klatschsüchtige Neugier, sondern auch ernsthaft<lb/>
historisches Interesse bedauern, daß Matthias uns, in offenbar gewollter Dis¬<lb/>
kretion, so wenig von der internen Geschichte des Althoffschen Schulregimentes<lb/>
verrät, von der schwerlich ein anderer soviel weiß als er. Allein die persön¬<lb/>
lichen Erfahrungen aus Unterrichtsverwaltung, Schule und Erziehung bilden nur<lb/>
die Unterlage und im einzelnen die Ausgangspunkte für die Darlegungen von<lb/>
Anschauungen und Überzeugungen, welche den Gesamtkreis dieser Gebiete um¬<lb/>
fassen und den eigentlichen Inhalt des Buches ausmachen. &#x201E;Lebenserinnerungen,"<lb/>
so charakterisiert Matthias die Anlage des Buches, &#x201E;verweben sich überall mit<lb/>
den Gedanken über Schule und Erziehung, die in festem Grund und Boden<lb/>
einer nicht ganz armen Lebenserfahrung fußen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2373"> Wenn somit die Ziele, denen die Darstellung zustrebt, rein sachlicher Natur<lb/>
sind, so wird durch sie doch auch das persönliche und historische Interesse ent¬<lb/>
schädigt. Denn die Persönlichkeit des Autors tritt gerade dadurch in ein um<lb/>
so helleres und schärferes Licht, daß sie sich weniger absichtlich, gewissermaßen<lb/>
naiver und ursprünglicher gibt, als es in einer Autobiographie der Fall sein<lb/>
könnte. Der sachliche Gehalt des Buches aber zeigt uns zusammenfassend, was an<lb/>
praktisch pädagogischen Ideen in jener geschichtlichen Epoche unseres Unterrichts¬<lb/>
wesens lebendig geworden ist und ihr die Richtung gegeben hat. Zugleich aber<lb/>
zeigt sich auch das Maß des Erreichten im Verhältnis zu dem, was unerreicht<lb/>
geblieben ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2374" next="#ID_2375"> Matthias, wie er uns in diesem Buche persönlich entgegentritt, ist ein im<lb/>
schönsten Sinne freiheitlich gerichteter Mann. Nichts liegt ihm serner als Kräfte<lb/>
zu binden, fremder Eigenart seinen Stempel aufzudrücken. Wie er für sich selbst<lb/>
das Recht in Anspruch nimmt, unverhohlen seine Meinung zu sagen, so räumt er<lb/>
jedem anderen das gleiche Recht ein, immer zur Anerkennung, immer zu hoffnungs¬<lb/>
vollen Gewährenlassen bereit. Und es ist nicht nur angeborene oder durch Selbstzucht<lb/>
erworbene Gerechtigkeitsliebe, die ihn leitet, wie sie etwa Paulsen oder auch Mlwch,<lb/>
der ein anderer Typus verwandter Gattung war, geleitet hat, sondern vielmehr<lb/>
eine Art von ästhetischer Freude am Anblick eigenartiger Kräfte und ihrer Ent¬<lb/>
faltung, sei es auch und vielleicht auch ganz besonders in Wettstreit und Kampf.<lb/>
Mehr als einmal tritt uns die Anschauung entgegen, wie der Streit, selbst<lb/>
wenn er sich nicht in den erquicklichsten Bahnen und Formen bewegt, es doch<lb/>
eigentlich ist, der die Entwicklung vorwärts bringt. &#x201E;Die höheren Knaben¬<lb/>
schulen sind zu dem was sie sind, erwachsen aus einem heftigen Kampfe, der<lb/>
eine Klärungs- und Übungsstätte geistiger Kräfte bildete und der das Ganze<lb/>
förderte, indem er durch offenen und ehrlichen Gegensatz der Meinungen Vor¬<lb/>
urteile beseitigte und vor weiteren Einseitigkeiten und Irrwegen schützte." Gemeine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0514] Adolf Matthias und das höhere Schulwesen Das Biographische tritt ganz zurück. Es beschränkt sich auf gelegentliche, mit der Amtstätigkeit des Autors unmittelbar zusammenhängende Einzelheiten. Auch das Schulgeschichtliche bildet nur in dem Kapitel über die beiden entscheidenden Schulkonferenzen in den Jahren 1890 und 1900 den Gegenstand der Darstellung. Vielleicht wird es nicht nur klatschsüchtige Neugier, sondern auch ernsthaft historisches Interesse bedauern, daß Matthias uns, in offenbar gewollter Dis¬ kretion, so wenig von der internen Geschichte des Althoffschen Schulregimentes verrät, von der schwerlich ein anderer soviel weiß als er. Allein die persön¬ lichen Erfahrungen aus Unterrichtsverwaltung, Schule und Erziehung bilden nur die Unterlage und im einzelnen die Ausgangspunkte für die Darlegungen von Anschauungen und Überzeugungen, welche den Gesamtkreis dieser Gebiete um¬ fassen und den eigentlichen Inhalt des Buches ausmachen. „Lebenserinnerungen," so charakterisiert Matthias die Anlage des Buches, „verweben sich überall mit den Gedanken über Schule und Erziehung, die in festem Grund und Boden einer nicht ganz armen Lebenserfahrung fußen." Wenn somit die Ziele, denen die Darstellung zustrebt, rein sachlicher Natur sind, so wird durch sie doch auch das persönliche und historische Interesse ent¬ schädigt. Denn die Persönlichkeit des Autors tritt gerade dadurch in ein um so helleres und schärferes Licht, daß sie sich weniger absichtlich, gewissermaßen naiver und ursprünglicher gibt, als es in einer Autobiographie der Fall sein könnte. Der sachliche Gehalt des Buches aber zeigt uns zusammenfassend, was an praktisch pädagogischen Ideen in jener geschichtlichen Epoche unseres Unterrichts¬ wesens lebendig geworden ist und ihr die Richtung gegeben hat. Zugleich aber zeigt sich auch das Maß des Erreichten im Verhältnis zu dem, was unerreicht geblieben ist. Matthias, wie er uns in diesem Buche persönlich entgegentritt, ist ein im schönsten Sinne freiheitlich gerichteter Mann. Nichts liegt ihm serner als Kräfte zu binden, fremder Eigenart seinen Stempel aufzudrücken. Wie er für sich selbst das Recht in Anspruch nimmt, unverhohlen seine Meinung zu sagen, so räumt er jedem anderen das gleiche Recht ein, immer zur Anerkennung, immer zu hoffnungs¬ vollen Gewährenlassen bereit. Und es ist nicht nur angeborene oder durch Selbstzucht erworbene Gerechtigkeitsliebe, die ihn leitet, wie sie etwa Paulsen oder auch Mlwch, der ein anderer Typus verwandter Gattung war, geleitet hat, sondern vielmehr eine Art von ästhetischer Freude am Anblick eigenartiger Kräfte und ihrer Ent¬ faltung, sei es auch und vielleicht auch ganz besonders in Wettstreit und Kampf. Mehr als einmal tritt uns die Anschauung entgegen, wie der Streit, selbst wenn er sich nicht in den erquicklichsten Bahnen und Formen bewegt, es doch eigentlich ist, der die Entwicklung vorwärts bringt. „Die höheren Knaben¬ schulen sind zu dem was sie sind, erwachsen aus einem heftigen Kampfe, der eine Klärungs- und Übungsstätte geistiger Kräfte bildete und der das Ganze förderte, indem er durch offenen und ehrlichen Gegensatz der Meinungen Vor¬ urteile beseitigte und vor weiteren Einseitigkeiten und Irrwegen schützte." Gemeine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/514
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/514>, abgerufen am 27.07.2024.