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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die drei waren des scherzhaften Gespräches, das sie wie ein heiteres Ball¬
spiel dort oben festhielt, noch lange nicht überdrüssig, als eine zänkische Weiber¬
stimme der fröhlichen Sitzung ein Ende machte.

"Die Großmutter ruft, ich muß in den Stall und füttern!"

Angölique sprang auf und stimmte mit lebhaften Worten in das Bedauern
der Freunde ein. "

-- Man ging.

Auf dem Heimweg, den ihnen die rotgoldene Kugel des aufgehenden Mondes
erhellte, sprachen die beiden noch lange von dem fesselnden Reiz des Mädchens.

"Es ist das Produkt der Rassenkreuzung hierzulande," erklärte Paul.
"Wie in ihrer Sprache, zeigt sich auch in ihrem Äußeren die Mischung von
Italienischem und Französischem."

"Ein anthropologischer Fingerzeig, den wir uns merken sollten," war
Wassiljews Meinung. "Mir scheint, dieses Mädchen übertrifft an Geist und
körperlicher Schönheit ihre beiderseitigen Vorfahren. Sie bedeutet eine Auf¬
besserung der Rasse."

Das Problem der Hinaufzüchtung des Menschen gab die Anregung zu
einer lebhaften Erörterung.

"Denken Sie an Ihre baltische Heimat, Pawel Alexandrowitsch, an die
ängstliche Absperrung der Deutschen von der Urbevölkerung. Wer weiß, ob die
Konflikte, die jetzt Ihr Land erschüttern, so stark hätten werden können, wenn der
Kastengeist der Gesellschaft nicht so ängstliche Distanz vom Volk gehalten hätte I"

"Und die Kultur?" brauste Paul auf. "Glauben Sie. daß wir je
fo weit gekommen wären, wenn sich das Deutschtum nicht fest zusammen¬
geschlossen hätte?"

"Ach -- das berühmte Wort von der baltischen Kulturl" Wasslijew lachte.
"Pawel Alexandrowitsch, Hand aufs Herz! War sie in ihrer Isolierung stark
genug, um dem Tschinownik standzuhalten? Hat sie der russische Beamte nicht
in wenigen Jahren über den Haufen gerannt?"

"Es wird sich zeigen, daß sie lebt!" sagte Paul mit Nachdruck.

"Wenn sie klug genug ist, sich das Volk zu gewinnen. Und da hätten
wir eben wieder die Forderung der Rassenmischung. Glauben Sie mir! Die
Kultur der Zukunft ist ohne das Volk undenkbar."

"Lassen wir diese Hypothesen!" Paul beendigte das Thema in schroffer
Ablehnung.

Sie kamen jetzt in die engen Gassen der alten Stadt, in denen das lebendige
Treiben eines südlichen Feierabends herrschte. Die vielfältigen Geräusche der
Straße machten eine weitere Unterhaltung unmöglich. Das war gut, denn
Paul hatte Mühe, seine Verstimmung zu verbergen.

Wasslijew aber ging träumend dahin, ohne seiner Umgebung die geringste
Beachtung zu schenken. Er kümmerte sich weder um die bunten Auslagen der
Händler, noch um das Gewimmel der Menschen, die sich an ihnen vorbei-


Sturm

Die drei waren des scherzhaften Gespräches, das sie wie ein heiteres Ball¬
spiel dort oben festhielt, noch lange nicht überdrüssig, als eine zänkische Weiber¬
stimme der fröhlichen Sitzung ein Ende machte.

„Die Großmutter ruft, ich muß in den Stall und füttern!"

Angölique sprang auf und stimmte mit lebhaften Worten in das Bedauern
der Freunde ein. »

— Man ging.

Auf dem Heimweg, den ihnen die rotgoldene Kugel des aufgehenden Mondes
erhellte, sprachen die beiden noch lange von dem fesselnden Reiz des Mädchens.

„Es ist das Produkt der Rassenkreuzung hierzulande," erklärte Paul.
„Wie in ihrer Sprache, zeigt sich auch in ihrem Äußeren die Mischung von
Italienischem und Französischem."

„Ein anthropologischer Fingerzeig, den wir uns merken sollten," war
Wassiljews Meinung. „Mir scheint, dieses Mädchen übertrifft an Geist und
körperlicher Schönheit ihre beiderseitigen Vorfahren. Sie bedeutet eine Auf¬
besserung der Rasse."

Das Problem der Hinaufzüchtung des Menschen gab die Anregung zu
einer lebhaften Erörterung.

„Denken Sie an Ihre baltische Heimat, Pawel Alexandrowitsch, an die
ängstliche Absperrung der Deutschen von der Urbevölkerung. Wer weiß, ob die
Konflikte, die jetzt Ihr Land erschüttern, so stark hätten werden können, wenn der
Kastengeist der Gesellschaft nicht so ängstliche Distanz vom Volk gehalten hätte I"

„Und die Kultur?" brauste Paul auf. „Glauben Sie. daß wir je
fo weit gekommen wären, wenn sich das Deutschtum nicht fest zusammen¬
geschlossen hätte?"

„Ach — das berühmte Wort von der baltischen Kulturl" Wasslijew lachte.
„Pawel Alexandrowitsch, Hand aufs Herz! War sie in ihrer Isolierung stark
genug, um dem Tschinownik standzuhalten? Hat sie der russische Beamte nicht
in wenigen Jahren über den Haufen gerannt?"

„Es wird sich zeigen, daß sie lebt!" sagte Paul mit Nachdruck.

„Wenn sie klug genug ist, sich das Volk zu gewinnen. Und da hätten
wir eben wieder die Forderung der Rassenmischung. Glauben Sie mir! Die
Kultur der Zukunft ist ohne das Volk undenkbar."

„Lassen wir diese Hypothesen!" Paul beendigte das Thema in schroffer
Ablehnung.

Sie kamen jetzt in die engen Gassen der alten Stadt, in denen das lebendige
Treiben eines südlichen Feierabends herrschte. Die vielfältigen Geräusche der
Straße machten eine weitere Unterhaltung unmöglich. Das war gut, denn
Paul hatte Mühe, seine Verstimmung zu verbergen.

Wasslijew aber ging träumend dahin, ohne seiner Umgebung die geringste
Beachtung zu schenken. Er kümmerte sich weder um die bunten Auslagen der
Händler, noch um das Gewimmel der Menschen, die sich an ihnen vorbei-


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[0489] Sturm Die drei waren des scherzhaften Gespräches, das sie wie ein heiteres Ball¬ spiel dort oben festhielt, noch lange nicht überdrüssig, als eine zänkische Weiber¬ stimme der fröhlichen Sitzung ein Ende machte. „Die Großmutter ruft, ich muß in den Stall und füttern!" Angölique sprang auf und stimmte mit lebhaften Worten in das Bedauern der Freunde ein. » — Man ging. Auf dem Heimweg, den ihnen die rotgoldene Kugel des aufgehenden Mondes erhellte, sprachen die beiden noch lange von dem fesselnden Reiz des Mädchens. „Es ist das Produkt der Rassenkreuzung hierzulande," erklärte Paul. „Wie in ihrer Sprache, zeigt sich auch in ihrem Äußeren die Mischung von Italienischem und Französischem." „Ein anthropologischer Fingerzeig, den wir uns merken sollten," war Wassiljews Meinung. „Mir scheint, dieses Mädchen übertrifft an Geist und körperlicher Schönheit ihre beiderseitigen Vorfahren. Sie bedeutet eine Auf¬ besserung der Rasse." Das Problem der Hinaufzüchtung des Menschen gab die Anregung zu einer lebhaften Erörterung. „Denken Sie an Ihre baltische Heimat, Pawel Alexandrowitsch, an die ängstliche Absperrung der Deutschen von der Urbevölkerung. Wer weiß, ob die Konflikte, die jetzt Ihr Land erschüttern, so stark hätten werden können, wenn der Kastengeist der Gesellschaft nicht so ängstliche Distanz vom Volk gehalten hätte I" „Und die Kultur?" brauste Paul auf. „Glauben Sie. daß wir je fo weit gekommen wären, wenn sich das Deutschtum nicht fest zusammen¬ geschlossen hätte?" „Ach — das berühmte Wort von der baltischen Kulturl" Wasslijew lachte. „Pawel Alexandrowitsch, Hand aufs Herz! War sie in ihrer Isolierung stark genug, um dem Tschinownik standzuhalten? Hat sie der russische Beamte nicht in wenigen Jahren über den Haufen gerannt?" „Es wird sich zeigen, daß sie lebt!" sagte Paul mit Nachdruck. „Wenn sie klug genug ist, sich das Volk zu gewinnen. Und da hätten wir eben wieder die Forderung der Rassenmischung. Glauben Sie mir! Die Kultur der Zukunft ist ohne das Volk undenkbar." „Lassen wir diese Hypothesen!" Paul beendigte das Thema in schroffer Ablehnung. Sie kamen jetzt in die engen Gassen der alten Stadt, in denen das lebendige Treiben eines südlichen Feierabends herrschte. Die vielfältigen Geräusche der Straße machten eine weitere Unterhaltung unmöglich. Das war gut, denn Paul hatte Mühe, seine Verstimmung zu verbergen. Wasslijew aber ging träumend dahin, ohne seiner Umgebung die geringste Beachtung zu schenken. Er kümmerte sich weder um die bunten Auslagen der Händler, noch um das Gewimmel der Menschen, die sich an ihnen vorbei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/489>, abgerufen am 22.12.2024.