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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

drängten. Wettergebräunte Seeleute zogen in Reihen vorüber, neckten die
Mädchen und zeigten sich zu Reibereien aufgelegt.

"Sie sind ja gar nicht hier, Wasslijew!" sagte Paul. "Ihre Seele wenigstens
ist längst in Rußland."

"Der Leib wird auch bald da sein! In einer halben Stunde geht mein
Zug. Sie dürfen mir nicht böse sein! Aber ich muß das schlechte Gewissen
los werden. Nein -- bitte begleiten Sie mich nicht! Ich habe mein Gepäck
auf dem Bahnhof und werde den Weg schon finden. Leben Sie wohl, Pawel
Alexandrowitsch! Eines Tages werden Sie mir recht geben."

Mit langen Schritten eilte der Freund davon. "Es ist vielleicht das beste,"
dachte Paul, ihm nachsehend. "Er ist und bleibt der exaltierte Russe! Im
Grunde werden wir uns immer fremd bleiben!"

Er hatte sich auf das Zusammentreffen mit dem alten Studienfreund
ehrlich gefreut. Aber jetzt fühlte er sich geradezu erleichtert, als er wieder
allein war. Er wollte es nicht wahr haben, daß ihn Wassiljews Worte
beunruhigten und in der Tiefe seiner Seele doch ein leises Echo geweckt hatten.

Nein -- er hatte die Freiheitsträume der russischen Jugend nie geteilt.
Das kommunistische Ideal der russischen Revolutionäre war ihm geradezu
unsympathisch. Seine Wissenschaft liebte er nicht zum wenigsten deshalb, weil
ihm die stille Arbeit im Laboratorium der Berührung mit allen Streitfragen
des Tages überhob.

In dem alten Klostergebäude, in dem der russische Staat auf französischen:
Boden ein zoologisches Laboratorium unterhielt, hatte der junge Gelehrte auch
seine Wohnung. Bevor er zu ihr hinaufstieg, machte er noch einen Gang
durch die Arbeitsräume. In den großen Bassins schwamm das Ergebnis des
letzten Fanges, das Paul einer kurzen Sichtung unterzog. Aber das Interesse
an der Arbeit fehlte ihm heute. Er fühlte sich müde und abgespannt. Das
beste war, er suchte sein Zimmer auf und vertiefte sich in irgendein Buch.

Unter der eingelaufenen Post, die ihn hier erwartete, fand er einen Brief
aus Estland. Er trug den Poststempel "Sternburg" und zeigte die Schriftzüge
Ediths von Wenkendorff.

In der unharmonischen Stimmung, in der er sich befand, sah er den
Brief nicht mit der Freude, die er sonst empfunden hätte. Er zögerte deshalb,
ihn aufzuschneiden und setzte sich unschlüssig und finster in seinen Sessel, um
hier, wie es seine Art war, seine Gefühle unter die Lupe zu nehmen und ihren
Zusammenhängen nachzugehen.

Seine Kusine Edles von Wenkendorff war der einzige Mensch in der
Heimat, an den er gern zurückdachte, verbanden ihn mit ihr doch lichte Jugend¬
erinnerungen. Trotz ihrer gegensätzlichen, von Kind an auf praktische Betätigung
gerichteten Art, hatte sie stets Interesse für Pauls wissenschaftliche Neigungen
gehabt und stand auf feiner Seite, wenn ihn die anderen alle wegen seiner
Sammelwut verlachten.


Sturm

drängten. Wettergebräunte Seeleute zogen in Reihen vorüber, neckten die
Mädchen und zeigten sich zu Reibereien aufgelegt.

„Sie sind ja gar nicht hier, Wasslijew!" sagte Paul. „Ihre Seele wenigstens
ist längst in Rußland."

„Der Leib wird auch bald da sein! In einer halben Stunde geht mein
Zug. Sie dürfen mir nicht böse sein! Aber ich muß das schlechte Gewissen
los werden. Nein — bitte begleiten Sie mich nicht! Ich habe mein Gepäck
auf dem Bahnhof und werde den Weg schon finden. Leben Sie wohl, Pawel
Alexandrowitsch! Eines Tages werden Sie mir recht geben."

Mit langen Schritten eilte der Freund davon. „Es ist vielleicht das beste,"
dachte Paul, ihm nachsehend. „Er ist und bleibt der exaltierte Russe! Im
Grunde werden wir uns immer fremd bleiben!"

Er hatte sich auf das Zusammentreffen mit dem alten Studienfreund
ehrlich gefreut. Aber jetzt fühlte er sich geradezu erleichtert, als er wieder
allein war. Er wollte es nicht wahr haben, daß ihn Wassiljews Worte
beunruhigten und in der Tiefe seiner Seele doch ein leises Echo geweckt hatten.

Nein — er hatte die Freiheitsträume der russischen Jugend nie geteilt.
Das kommunistische Ideal der russischen Revolutionäre war ihm geradezu
unsympathisch. Seine Wissenschaft liebte er nicht zum wenigsten deshalb, weil
ihm die stille Arbeit im Laboratorium der Berührung mit allen Streitfragen
des Tages überhob.

In dem alten Klostergebäude, in dem der russische Staat auf französischen:
Boden ein zoologisches Laboratorium unterhielt, hatte der junge Gelehrte auch
seine Wohnung. Bevor er zu ihr hinaufstieg, machte er noch einen Gang
durch die Arbeitsräume. In den großen Bassins schwamm das Ergebnis des
letzten Fanges, das Paul einer kurzen Sichtung unterzog. Aber das Interesse
an der Arbeit fehlte ihm heute. Er fühlte sich müde und abgespannt. Das
beste war, er suchte sein Zimmer auf und vertiefte sich in irgendein Buch.

Unter der eingelaufenen Post, die ihn hier erwartete, fand er einen Brief
aus Estland. Er trug den Poststempel „Sternburg" und zeigte die Schriftzüge
Ediths von Wenkendorff.

In der unharmonischen Stimmung, in der er sich befand, sah er den
Brief nicht mit der Freude, die er sonst empfunden hätte. Er zögerte deshalb,
ihn aufzuschneiden und setzte sich unschlüssig und finster in seinen Sessel, um
hier, wie es seine Art war, seine Gefühle unter die Lupe zu nehmen und ihren
Zusammenhängen nachzugehen.

Seine Kusine Edles von Wenkendorff war der einzige Mensch in der
Heimat, an den er gern zurückdachte, verbanden ihn mit ihr doch lichte Jugend¬
erinnerungen. Trotz ihrer gegensätzlichen, von Kind an auf praktische Betätigung
gerichteten Art, hatte sie stets Interesse für Pauls wissenschaftliche Neigungen
gehabt und stand auf feiner Seite, wenn ihn die anderen alle wegen seiner
Sammelwut verlachten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/490>, abgerufen am 28.07.2024.