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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Richard ZDagner contra Linn Ludwig

durste viel schlimmere Fehler begehen. Sich an den vorhandenen festzusetzen,
ist kleinlich und undankbar. Wie sich dann die Kritik, die Ludwig übt, not¬
wendigerweise oft ins Kleinliche und in Gesuchtes verliert. Was soll der Hin¬
weis auf die Kinderlosigkeit aller Wagnerscher Frauen? Was geht es uns an?
Ist etwa Beethovens Leonore, die Gräfin Almaviva von der Mutterschaft um¬
strahlt? Uno was soll der spöttische Hinweis auf die Blutschande Siegmunds
und Siegelindes? Ist etwa das Verhältnis Figaros zu seiner Mutter Mar-
zelline, über das Mozart unbefangen halb und halb mit entzückender, schelmischer
Frivolität hinwegtänzelt, weniger Schuldbeladen? Oder was foll die sitten¬
richterliche Zusammenstellung aller stnnenschwülen Szenen bei Wagner? Die
Brünstigkeit der Klarinettenzweiunddreißigstel im Brunhildmotiv zu zeugen, ver¬
langte mehr Lendenkraft, als auf dreißig Papierbogen über die Erotik des
Lohengrin, der Walküre oder des Siegfried zu Gericht zu sitzen.

Man suche nur auch hier; man wird immer finden. Wer das Löwenfell
auf Parasiten durchforschen will, mag es tun. Es schaut deswegen nicht
anders aus.

Von einem sehr ernst zu nehmenden Vorwurf gegen Wagner muß ich
noch sprechen. Von dem Verstandesmäßigen, das scheinbar seine Musik be¬
herrscht. Daß seine Motive mit ihren bestimmten Namen immer bestimmte
Erinnerungsbilder wecken und der Phantasie des Hörers nichts zu tun übrig
lassen. . .

In diesem Punkte ist die Stellung gegen Wagner scheinbar unüber¬
windlich. Denn er selbst hat ja den Motiven die Namen gegeben und damit
angeblich selbst ihre Deutung vorgeschrieben.

Erstens: der Motivbau in der Musik ist viel älter, als Wagners Werke.
Ich will es nur nebenher erwähnen, daß Mozart im Figaro die Szene mit
dem Gärtner Antonio, in der bekanntlich vom Fenstersprung des Pagen die
Rede ist, von der in Triolen aufgelösten Melodie des im ersten Akt an
Cherubim gerichteten "^lon piu anärai" umspielen läßt. Der Webersche Frei¬
schütz zeigt einen ganz ausgebildeten Motivbau. Bei Beethoven kehren in der
neunten Symphonie, bevor die schlichte Melodie des Freudenliedes den wilden
Taumel des Orchesters erlöst, alle Themen der vorhergehenden Sätze wieder:
die leeren Quinten des ersten, die Paukenoktaven des molto vivace, die
ruhigen Akkorde des Adagio, jedes von einem unwilligen Grollen im Orchester
ablehnend beantwortet: eine richtige Unterhaltung.

Wagner ist also nicht der einzige und nicht der erste, der bestimmte Motive
sich wiederholen ließ. Der erste freilich, der diese Wiederholung so ausgebaut
hat. Und ich wendete mich mit Ludwig von ihm ab, wären seine Motive
auch nur zu einem beträchtlichen Teil "Photographien", zwingend deutliche
Abbilder seiner Ereignisse und seiner Gedankenketten: Abbilder der Art, wie
manche Motive bei Richard Strauß es sind (das vom Fagott nachgeäffte
Kindergeschrei in der LvmpKoriia äomLstica. Oder bei Saint-Sasns der


Richard ZDagner contra Linn Ludwig

durste viel schlimmere Fehler begehen. Sich an den vorhandenen festzusetzen,
ist kleinlich und undankbar. Wie sich dann die Kritik, die Ludwig übt, not¬
wendigerweise oft ins Kleinliche und in Gesuchtes verliert. Was soll der Hin¬
weis auf die Kinderlosigkeit aller Wagnerscher Frauen? Was geht es uns an?
Ist etwa Beethovens Leonore, die Gräfin Almaviva von der Mutterschaft um¬
strahlt? Uno was soll der spöttische Hinweis auf die Blutschande Siegmunds
und Siegelindes? Ist etwa das Verhältnis Figaros zu seiner Mutter Mar-
zelline, über das Mozart unbefangen halb und halb mit entzückender, schelmischer
Frivolität hinwegtänzelt, weniger Schuldbeladen? Oder was foll die sitten¬
richterliche Zusammenstellung aller stnnenschwülen Szenen bei Wagner? Die
Brünstigkeit der Klarinettenzweiunddreißigstel im Brunhildmotiv zu zeugen, ver¬
langte mehr Lendenkraft, als auf dreißig Papierbogen über die Erotik des
Lohengrin, der Walküre oder des Siegfried zu Gericht zu sitzen.

Man suche nur auch hier; man wird immer finden. Wer das Löwenfell
auf Parasiten durchforschen will, mag es tun. Es schaut deswegen nicht
anders aus.

Von einem sehr ernst zu nehmenden Vorwurf gegen Wagner muß ich
noch sprechen. Von dem Verstandesmäßigen, das scheinbar seine Musik be¬
herrscht. Daß seine Motive mit ihren bestimmten Namen immer bestimmte
Erinnerungsbilder wecken und der Phantasie des Hörers nichts zu tun übrig
lassen. . .

In diesem Punkte ist die Stellung gegen Wagner scheinbar unüber¬
windlich. Denn er selbst hat ja den Motiven die Namen gegeben und damit
angeblich selbst ihre Deutung vorgeschrieben.

Erstens: der Motivbau in der Musik ist viel älter, als Wagners Werke.
Ich will es nur nebenher erwähnen, daß Mozart im Figaro die Szene mit
dem Gärtner Antonio, in der bekanntlich vom Fenstersprung des Pagen die
Rede ist, von der in Triolen aufgelösten Melodie des im ersten Akt an
Cherubim gerichteten „^lon piu anärai" umspielen läßt. Der Webersche Frei¬
schütz zeigt einen ganz ausgebildeten Motivbau. Bei Beethoven kehren in der
neunten Symphonie, bevor die schlichte Melodie des Freudenliedes den wilden
Taumel des Orchesters erlöst, alle Themen der vorhergehenden Sätze wieder:
die leeren Quinten des ersten, die Paukenoktaven des molto vivace, die
ruhigen Akkorde des Adagio, jedes von einem unwilligen Grollen im Orchester
ablehnend beantwortet: eine richtige Unterhaltung.

Wagner ist also nicht der einzige und nicht der erste, der bestimmte Motive
sich wiederholen ließ. Der erste freilich, der diese Wiederholung so ausgebaut
hat. Und ich wendete mich mit Ludwig von ihm ab, wären seine Motive
auch nur zu einem beträchtlichen Teil „Photographien", zwingend deutliche
Abbilder seiner Ereignisse und seiner Gedankenketten: Abbilder der Art, wie
manche Motive bei Richard Strauß es sind (das vom Fagott nachgeäffte
Kindergeschrei in der LvmpKoriia äomLstica. Oder bei Saint-Sasns der


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[0484] Richard ZDagner contra Linn Ludwig durste viel schlimmere Fehler begehen. Sich an den vorhandenen festzusetzen, ist kleinlich und undankbar. Wie sich dann die Kritik, die Ludwig übt, not¬ wendigerweise oft ins Kleinliche und in Gesuchtes verliert. Was soll der Hin¬ weis auf die Kinderlosigkeit aller Wagnerscher Frauen? Was geht es uns an? Ist etwa Beethovens Leonore, die Gräfin Almaviva von der Mutterschaft um¬ strahlt? Uno was soll der spöttische Hinweis auf die Blutschande Siegmunds und Siegelindes? Ist etwa das Verhältnis Figaros zu seiner Mutter Mar- zelline, über das Mozart unbefangen halb und halb mit entzückender, schelmischer Frivolität hinwegtänzelt, weniger Schuldbeladen? Oder was foll die sitten¬ richterliche Zusammenstellung aller stnnenschwülen Szenen bei Wagner? Die Brünstigkeit der Klarinettenzweiunddreißigstel im Brunhildmotiv zu zeugen, ver¬ langte mehr Lendenkraft, als auf dreißig Papierbogen über die Erotik des Lohengrin, der Walküre oder des Siegfried zu Gericht zu sitzen. Man suche nur auch hier; man wird immer finden. Wer das Löwenfell auf Parasiten durchforschen will, mag es tun. Es schaut deswegen nicht anders aus. Von einem sehr ernst zu nehmenden Vorwurf gegen Wagner muß ich noch sprechen. Von dem Verstandesmäßigen, das scheinbar seine Musik be¬ herrscht. Daß seine Motive mit ihren bestimmten Namen immer bestimmte Erinnerungsbilder wecken und der Phantasie des Hörers nichts zu tun übrig lassen. . . In diesem Punkte ist die Stellung gegen Wagner scheinbar unüber¬ windlich. Denn er selbst hat ja den Motiven die Namen gegeben und damit angeblich selbst ihre Deutung vorgeschrieben. Erstens: der Motivbau in der Musik ist viel älter, als Wagners Werke. Ich will es nur nebenher erwähnen, daß Mozart im Figaro die Szene mit dem Gärtner Antonio, in der bekanntlich vom Fenstersprung des Pagen die Rede ist, von der in Triolen aufgelösten Melodie des im ersten Akt an Cherubim gerichteten „^lon piu anärai" umspielen läßt. Der Webersche Frei¬ schütz zeigt einen ganz ausgebildeten Motivbau. Bei Beethoven kehren in der neunten Symphonie, bevor die schlichte Melodie des Freudenliedes den wilden Taumel des Orchesters erlöst, alle Themen der vorhergehenden Sätze wieder: die leeren Quinten des ersten, die Paukenoktaven des molto vivace, die ruhigen Akkorde des Adagio, jedes von einem unwilligen Grollen im Orchester ablehnend beantwortet: eine richtige Unterhaltung. Wagner ist also nicht der einzige und nicht der erste, der bestimmte Motive sich wiederholen ließ. Der erste freilich, der diese Wiederholung so ausgebaut hat. Und ich wendete mich mit Ludwig von ihm ab, wären seine Motive auch nur zu einem beträchtlichen Teil „Photographien", zwingend deutliche Abbilder seiner Ereignisse und seiner Gedankenketten: Abbilder der Art, wie manche Motive bei Richard Strauß es sind (das vom Fagott nachgeäffte Kindergeschrei in der LvmpKoriia äomLstica. Oder bei Saint-Sasns der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/484>, abgerufen am 22.12.2024.