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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Richard Wagner contra Emil Ludwig

das Vermeiden von Arie, Duett, Terzett usw., selbst das Gebärden-Rhythmus spiel
scheint mir nicht genug zu sein, um in seinen Werken ein unerhört Neues zu
sehen. Schon vor ihm gab es Opern, deren Handlung den nämlichen Rhyth¬
mus schlug, wie ihre Musik: das zeigt Mozart, wie wir ihn heute darstellen
und sehen; der Figaro, dessen entzückender Filigranmusik es gelingt, einen Text
mit sich zu verschmelzen, wie ihn vorher und nachher kein Musiker für eine
Oper zu erwählen gewagt hat: ein geistsprühendes Unterhaltungsspiel mit dem
Unterton der Gesellschaftsfrage und dem unterirdischen Grollen der Revolution.
Wenn wir heute den "Don Juan" und den "Figaro" textlich von den Lächer¬
lichkeiten der Zeit säubern, sie vor den Torheiten der alten Opernregie bewahren
(für beides hat die neue Mozartschule, die in München unter Felix Model heran¬
gewachsen ist, gesorgt), so haben wir hier musikdramatische Schätze von uner¬
hörter Pracht. Das Musikdrama war schon vor Richard Wagner. Nur hat
niemand es zu sehen verstanden. Daß wir es heute auch aus Mozarts Hand
empfangen, ist freilich Wagners Verdienst. Davon wird gleich die Rede sein.

Zunächst noch ein Eingeständnis, um keine der Schwächen unerörtert zu
lassen: daß der Dramatiker Wagner an mancher Klippe nicht ungefährdet
vorbeigefahren ist, muß man heute seinen Feinden zugeben. Am schlimmsten
ist die Häufung von Wirkungen, von dramatischen Entladungen an Stück- und
Aktschlüssen. Zwei nebeneinander kann der Hörer nicht aufnehmen; eine wird
immer von der anderen erdrückt. Das endliche Schicksal des Ringes und seines
Räubers Hagen am Schluß der Götterdämmerung geht im Lärm des Welten¬
sturzes nnter. Und das Erscheinen des Herzogs von Brabant interessiert nicht
das Auge, das an dem scheidenden Lohengrin hängt. Und doch muß man an diesen
Stellen, angesichts gerade dieser Fehler, wieder bewundernd vor dieser drama¬
tischen Urkraft stehen, die sich nicht erschöpfen kann im Geschehenlassen.

Ich hätte das alles nicht erwähnt, handelte es sich hier nicht um die
Auseinandersetzung mit einer Gegnerschaft, die jedes Verschweigen ausnützen würde.
Gewiß, man muß das alles zugeben. Aber ein bitteres Unrecht ist es darüber
zu vergessen, was Wagner auch auf diesem Gebiete an Genialem geschaffen
hat. Ich habe vorher von der Befruchtung der älteren Oper durch die Regie
von heute gesprochen. Hier ist der Grundgedanke dieser Regie: in jeder
Einzelheit entwickelt sich die szenische Leitung aus der Partitur. Die Musik
bestimme die Geste, Mine des Solisten, Gruppierung der Massen, Beleuchtung
und Farben auf der Bühne. Das ist moderne Opernregie. Und wir danken
sie Richard Wagner.

Und weiter: man mag auf vielen Druckseiten nachweisen, daß der Ring
lange, lange Erzählungen birgt, die seine Handlung unterbrechen.

Man nehme den ersten Lohengrinakt und bekenne, daß die Verquickung
seiner Musik und seiner Dramatik, dieser Steigerung und strahlenden Lösung
nicht mehr zu überbieten ist. Wem solche Szenen gelangen, wie die zwischen
Erda und Wotan, Siegfried und Wotan, Siegfried und den Rheintöchtern,


Richard Wagner contra Emil Ludwig

das Vermeiden von Arie, Duett, Terzett usw., selbst das Gebärden-Rhythmus spiel
scheint mir nicht genug zu sein, um in seinen Werken ein unerhört Neues zu
sehen. Schon vor ihm gab es Opern, deren Handlung den nämlichen Rhyth¬
mus schlug, wie ihre Musik: das zeigt Mozart, wie wir ihn heute darstellen
und sehen; der Figaro, dessen entzückender Filigranmusik es gelingt, einen Text
mit sich zu verschmelzen, wie ihn vorher und nachher kein Musiker für eine
Oper zu erwählen gewagt hat: ein geistsprühendes Unterhaltungsspiel mit dem
Unterton der Gesellschaftsfrage und dem unterirdischen Grollen der Revolution.
Wenn wir heute den „Don Juan" und den „Figaro" textlich von den Lächer¬
lichkeiten der Zeit säubern, sie vor den Torheiten der alten Opernregie bewahren
(für beides hat die neue Mozartschule, die in München unter Felix Model heran¬
gewachsen ist, gesorgt), so haben wir hier musikdramatische Schätze von uner¬
hörter Pracht. Das Musikdrama war schon vor Richard Wagner. Nur hat
niemand es zu sehen verstanden. Daß wir es heute auch aus Mozarts Hand
empfangen, ist freilich Wagners Verdienst. Davon wird gleich die Rede sein.

Zunächst noch ein Eingeständnis, um keine der Schwächen unerörtert zu
lassen: daß der Dramatiker Wagner an mancher Klippe nicht ungefährdet
vorbeigefahren ist, muß man heute seinen Feinden zugeben. Am schlimmsten
ist die Häufung von Wirkungen, von dramatischen Entladungen an Stück- und
Aktschlüssen. Zwei nebeneinander kann der Hörer nicht aufnehmen; eine wird
immer von der anderen erdrückt. Das endliche Schicksal des Ringes und seines
Räubers Hagen am Schluß der Götterdämmerung geht im Lärm des Welten¬
sturzes nnter. Und das Erscheinen des Herzogs von Brabant interessiert nicht
das Auge, das an dem scheidenden Lohengrin hängt. Und doch muß man an diesen
Stellen, angesichts gerade dieser Fehler, wieder bewundernd vor dieser drama¬
tischen Urkraft stehen, die sich nicht erschöpfen kann im Geschehenlassen.

Ich hätte das alles nicht erwähnt, handelte es sich hier nicht um die
Auseinandersetzung mit einer Gegnerschaft, die jedes Verschweigen ausnützen würde.
Gewiß, man muß das alles zugeben. Aber ein bitteres Unrecht ist es darüber
zu vergessen, was Wagner auch auf diesem Gebiete an Genialem geschaffen
hat. Ich habe vorher von der Befruchtung der älteren Oper durch die Regie
von heute gesprochen. Hier ist der Grundgedanke dieser Regie: in jeder
Einzelheit entwickelt sich die szenische Leitung aus der Partitur. Die Musik
bestimme die Geste, Mine des Solisten, Gruppierung der Massen, Beleuchtung
und Farben auf der Bühne. Das ist moderne Opernregie. Und wir danken
sie Richard Wagner.

Und weiter: man mag auf vielen Druckseiten nachweisen, daß der Ring
lange, lange Erzählungen birgt, die seine Handlung unterbrechen.

Man nehme den ersten Lohengrinakt und bekenne, daß die Verquickung
seiner Musik und seiner Dramatik, dieser Steigerung und strahlenden Lösung
nicht mehr zu überbieten ist. Wem solche Szenen gelangen, wie die zwischen
Erda und Wotan, Siegfried und Wotan, Siegfried und den Rheintöchtern,


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[0483] Richard Wagner contra Emil Ludwig das Vermeiden von Arie, Duett, Terzett usw., selbst das Gebärden-Rhythmus spiel scheint mir nicht genug zu sein, um in seinen Werken ein unerhört Neues zu sehen. Schon vor ihm gab es Opern, deren Handlung den nämlichen Rhyth¬ mus schlug, wie ihre Musik: das zeigt Mozart, wie wir ihn heute darstellen und sehen; der Figaro, dessen entzückender Filigranmusik es gelingt, einen Text mit sich zu verschmelzen, wie ihn vorher und nachher kein Musiker für eine Oper zu erwählen gewagt hat: ein geistsprühendes Unterhaltungsspiel mit dem Unterton der Gesellschaftsfrage und dem unterirdischen Grollen der Revolution. Wenn wir heute den „Don Juan" und den „Figaro" textlich von den Lächer¬ lichkeiten der Zeit säubern, sie vor den Torheiten der alten Opernregie bewahren (für beides hat die neue Mozartschule, die in München unter Felix Model heran¬ gewachsen ist, gesorgt), so haben wir hier musikdramatische Schätze von uner¬ hörter Pracht. Das Musikdrama war schon vor Richard Wagner. Nur hat niemand es zu sehen verstanden. Daß wir es heute auch aus Mozarts Hand empfangen, ist freilich Wagners Verdienst. Davon wird gleich die Rede sein. Zunächst noch ein Eingeständnis, um keine der Schwächen unerörtert zu lassen: daß der Dramatiker Wagner an mancher Klippe nicht ungefährdet vorbeigefahren ist, muß man heute seinen Feinden zugeben. Am schlimmsten ist die Häufung von Wirkungen, von dramatischen Entladungen an Stück- und Aktschlüssen. Zwei nebeneinander kann der Hörer nicht aufnehmen; eine wird immer von der anderen erdrückt. Das endliche Schicksal des Ringes und seines Räubers Hagen am Schluß der Götterdämmerung geht im Lärm des Welten¬ sturzes nnter. Und das Erscheinen des Herzogs von Brabant interessiert nicht das Auge, das an dem scheidenden Lohengrin hängt. Und doch muß man an diesen Stellen, angesichts gerade dieser Fehler, wieder bewundernd vor dieser drama¬ tischen Urkraft stehen, die sich nicht erschöpfen kann im Geschehenlassen. Ich hätte das alles nicht erwähnt, handelte es sich hier nicht um die Auseinandersetzung mit einer Gegnerschaft, die jedes Verschweigen ausnützen würde. Gewiß, man muß das alles zugeben. Aber ein bitteres Unrecht ist es darüber zu vergessen, was Wagner auch auf diesem Gebiete an Genialem geschaffen hat. Ich habe vorher von der Befruchtung der älteren Oper durch die Regie von heute gesprochen. Hier ist der Grundgedanke dieser Regie: in jeder Einzelheit entwickelt sich die szenische Leitung aus der Partitur. Die Musik bestimme die Geste, Mine des Solisten, Gruppierung der Massen, Beleuchtung und Farben auf der Bühne. Das ist moderne Opernregie. Und wir danken sie Richard Wagner. Und weiter: man mag auf vielen Druckseiten nachweisen, daß der Ring lange, lange Erzählungen birgt, die seine Handlung unterbrechen. Man nehme den ersten Lohengrinakt und bekenne, daß die Verquickung seiner Musik und seiner Dramatik, dieser Steigerung und strahlenden Lösung nicht mehr zu überbieten ist. Wem solche Szenen gelangen, wie die zwischen Erda und Wotan, Siegfried und Wotan, Siegfried und den Rheintöchtern,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/483>, abgerufen am 28.07.2024.