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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Frankreichs Uulturexpansion und ihre Bedeutung für Deutschland

erleichtern ihm die Mühe des Einarbeitens in die fremde Kultur. Dabei will
ich aber nicht die Kehrseite der Medaille unerwähnt lassen. In seinem Bedürfnis
nach Klarheit kennt der Franzose meist nur scharfe Gegensätze, keine vermittelnden
Übergänge. Es gibt für ihn im sittlich-religiösen wie im politischen Leben nur
entweder -- oder, nur bigott oder ungläubig, nur schwarz oder rot, nur reaktionär
oder radikal. Er kann nicht die letzten dunkeln Tiefen und Rätsel unseres
Lebens fassen; unter seiner Hand wird leicht alles nicht nur wasserklar, sondern
verwässert und oberflächlich.

Mit der Einheitlichkeit der nationalen Kultur hängt auch die Kontinuität
einer machtvollen politischen Tradition zusammen. Aller Wechsel der Dynastien,
der Regierungsformen und Ministerien, alle Revolutionen haben sie nicht zu
erschüttern vermocht; die Marokkopolitik liefert dafür ein schlagendes Beispiel.
Sie ist die glänzende Krönung der jahrhundertealten französischen Mittelmeer¬
politik. Sie begann mit Ludwig dem Heiligen und seinen Kreuzzügen, wurde
fortgesetzt durch das Mittelalter bis zu Ludwig dem Vierzehnten und Napoleon,
wieder aufgenommen von Louis-Philippe und in unseren Tagen von der dritten
Republik zum Abschluß gebracht.

Die alte einheitliche Kulturtradition macht sich auch noch in anderer Weise
geltend. So scharf sich die rechts und links stehenden Parteien, Klerikale und
Radikale, Nationalisten und Sozialisten bekämpfen, in einem sind sie sich doch
einig: die französische Kultur ist die erste in der Welt, ihren Wert bestreitet
keine Partei und kein Stand; ein hoher einheitlicher Kulturpatriotismus durch¬
zieht alle Schichten des französischen Volkes und mildert für den Ernstfall alle
innerpolitischen Gegensätze. Daher überschätzen wir die sozialistische und anti¬
militaristische Propaganda in ihren Wirkungen für einen Krieg gegen Deutschland.
Können wir im Hinblick auf den Ultramontanismus und die Sozialdemokratie
in demselben Maße von einem Kulturpatriotismus sprechen? Hier taucht das
Problem der nationalen Gestaltung unseres Unterrichts- und Erziehungswesens
auf, die Frage nach einer nationalen Einheitsschule, wobei ich freilich die Be¬
denken gegen letztere nicht unterschätze!

Wenn man die Zähigkeit sieht, mit der heute Frankreich still seine Kultur¬
expansion treibt, so fragt man sich unwillkürlich, ob die Stimmen recht haben,
die von einer besonderen Dekadenz Frankreichs sprechen. Der amerikanische Professor
Barret-Wendet, von dem schon vorher die Rede war, kam mit dieser Über¬
zeugung 1904 nach Paris. Nachdem er seinen Lehrauftrag an der Sorbonne
erledigt hatte, war er aus einem Saulus ein Paulus geworden, und sein Wer!
ist stellenweise ein Lobhymnus auf das heutige Frankreich. Jedenfalls merkt
der aufmerksame Beobachter, daß unsere Nachbarn seit ungefähr zwölf Jahren
auf allen Gebieten eine ungewöhnliche Tätigkeit, eine gewisse offensive und
expansive Kraft entfalten, an einem Aufstieg arbeiten. In der auswärtigen
Politik merken wir es zur Genüge; der Chauvinismus steht in voller Blüte.
Die junge strategische Schule tritt eifrig für eine kräftige Offensive in einem


Frankreichs Uulturexpansion und ihre Bedeutung für Deutschland

erleichtern ihm die Mühe des Einarbeitens in die fremde Kultur. Dabei will
ich aber nicht die Kehrseite der Medaille unerwähnt lassen. In seinem Bedürfnis
nach Klarheit kennt der Franzose meist nur scharfe Gegensätze, keine vermittelnden
Übergänge. Es gibt für ihn im sittlich-religiösen wie im politischen Leben nur
entweder — oder, nur bigott oder ungläubig, nur schwarz oder rot, nur reaktionär
oder radikal. Er kann nicht die letzten dunkeln Tiefen und Rätsel unseres
Lebens fassen; unter seiner Hand wird leicht alles nicht nur wasserklar, sondern
verwässert und oberflächlich.

Mit der Einheitlichkeit der nationalen Kultur hängt auch die Kontinuität
einer machtvollen politischen Tradition zusammen. Aller Wechsel der Dynastien,
der Regierungsformen und Ministerien, alle Revolutionen haben sie nicht zu
erschüttern vermocht; die Marokkopolitik liefert dafür ein schlagendes Beispiel.
Sie ist die glänzende Krönung der jahrhundertealten französischen Mittelmeer¬
politik. Sie begann mit Ludwig dem Heiligen und seinen Kreuzzügen, wurde
fortgesetzt durch das Mittelalter bis zu Ludwig dem Vierzehnten und Napoleon,
wieder aufgenommen von Louis-Philippe und in unseren Tagen von der dritten
Republik zum Abschluß gebracht.

Die alte einheitliche Kulturtradition macht sich auch noch in anderer Weise
geltend. So scharf sich die rechts und links stehenden Parteien, Klerikale und
Radikale, Nationalisten und Sozialisten bekämpfen, in einem sind sie sich doch
einig: die französische Kultur ist die erste in der Welt, ihren Wert bestreitet
keine Partei und kein Stand; ein hoher einheitlicher Kulturpatriotismus durch¬
zieht alle Schichten des französischen Volkes und mildert für den Ernstfall alle
innerpolitischen Gegensätze. Daher überschätzen wir die sozialistische und anti¬
militaristische Propaganda in ihren Wirkungen für einen Krieg gegen Deutschland.
Können wir im Hinblick auf den Ultramontanismus und die Sozialdemokratie
in demselben Maße von einem Kulturpatriotismus sprechen? Hier taucht das
Problem der nationalen Gestaltung unseres Unterrichts- und Erziehungswesens
auf, die Frage nach einer nationalen Einheitsschule, wobei ich freilich die Be¬
denken gegen letztere nicht unterschätze!

Wenn man die Zähigkeit sieht, mit der heute Frankreich still seine Kultur¬
expansion treibt, so fragt man sich unwillkürlich, ob die Stimmen recht haben,
die von einer besonderen Dekadenz Frankreichs sprechen. Der amerikanische Professor
Barret-Wendet, von dem schon vorher die Rede war, kam mit dieser Über¬
zeugung 1904 nach Paris. Nachdem er seinen Lehrauftrag an der Sorbonne
erledigt hatte, war er aus einem Saulus ein Paulus geworden, und sein Wer!
ist stellenweise ein Lobhymnus auf das heutige Frankreich. Jedenfalls merkt
der aufmerksame Beobachter, daß unsere Nachbarn seit ungefähr zwölf Jahren
auf allen Gebieten eine ungewöhnliche Tätigkeit, eine gewisse offensive und
expansive Kraft entfalten, an einem Aufstieg arbeiten. In der auswärtigen
Politik merken wir es zur Genüge; der Chauvinismus steht in voller Blüte.
Die junge strategische Schule tritt eifrig für eine kräftige Offensive in einem


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[0476] Frankreichs Uulturexpansion und ihre Bedeutung für Deutschland erleichtern ihm die Mühe des Einarbeitens in die fremde Kultur. Dabei will ich aber nicht die Kehrseite der Medaille unerwähnt lassen. In seinem Bedürfnis nach Klarheit kennt der Franzose meist nur scharfe Gegensätze, keine vermittelnden Übergänge. Es gibt für ihn im sittlich-religiösen wie im politischen Leben nur entweder — oder, nur bigott oder ungläubig, nur schwarz oder rot, nur reaktionär oder radikal. Er kann nicht die letzten dunkeln Tiefen und Rätsel unseres Lebens fassen; unter seiner Hand wird leicht alles nicht nur wasserklar, sondern verwässert und oberflächlich. Mit der Einheitlichkeit der nationalen Kultur hängt auch die Kontinuität einer machtvollen politischen Tradition zusammen. Aller Wechsel der Dynastien, der Regierungsformen und Ministerien, alle Revolutionen haben sie nicht zu erschüttern vermocht; die Marokkopolitik liefert dafür ein schlagendes Beispiel. Sie ist die glänzende Krönung der jahrhundertealten französischen Mittelmeer¬ politik. Sie begann mit Ludwig dem Heiligen und seinen Kreuzzügen, wurde fortgesetzt durch das Mittelalter bis zu Ludwig dem Vierzehnten und Napoleon, wieder aufgenommen von Louis-Philippe und in unseren Tagen von der dritten Republik zum Abschluß gebracht. Die alte einheitliche Kulturtradition macht sich auch noch in anderer Weise geltend. So scharf sich die rechts und links stehenden Parteien, Klerikale und Radikale, Nationalisten und Sozialisten bekämpfen, in einem sind sie sich doch einig: die französische Kultur ist die erste in der Welt, ihren Wert bestreitet keine Partei und kein Stand; ein hoher einheitlicher Kulturpatriotismus durch¬ zieht alle Schichten des französischen Volkes und mildert für den Ernstfall alle innerpolitischen Gegensätze. Daher überschätzen wir die sozialistische und anti¬ militaristische Propaganda in ihren Wirkungen für einen Krieg gegen Deutschland. Können wir im Hinblick auf den Ultramontanismus und die Sozialdemokratie in demselben Maße von einem Kulturpatriotismus sprechen? Hier taucht das Problem der nationalen Gestaltung unseres Unterrichts- und Erziehungswesens auf, die Frage nach einer nationalen Einheitsschule, wobei ich freilich die Be¬ denken gegen letztere nicht unterschätze! Wenn man die Zähigkeit sieht, mit der heute Frankreich still seine Kultur¬ expansion treibt, so fragt man sich unwillkürlich, ob die Stimmen recht haben, die von einer besonderen Dekadenz Frankreichs sprechen. Der amerikanische Professor Barret-Wendet, von dem schon vorher die Rede war, kam mit dieser Über¬ zeugung 1904 nach Paris. Nachdem er seinen Lehrauftrag an der Sorbonne erledigt hatte, war er aus einem Saulus ein Paulus geworden, und sein Wer! ist stellenweise ein Lobhymnus auf das heutige Frankreich. Jedenfalls merkt der aufmerksame Beobachter, daß unsere Nachbarn seit ungefähr zwölf Jahren auf allen Gebieten eine ungewöhnliche Tätigkeit, eine gewisse offensive und expansive Kraft entfalten, an einem Aufstieg arbeiten. In der auswärtigen Politik merken wir es zur Genüge; der Chauvinismus steht in voller Blüte. Die junge strategische Schule tritt eifrig für eine kräftige Offensive in einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/476>, abgerufen am 27.07.2024.