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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Frankreichs Kulturexpansion und ihre Bedeutung für Deutschland

zukünftigen Kriege ein. Das große nordafrikanische Kolonialreich zeigt, daß die
Franzosen als Kolonisatoren nicht so unfähig sind, wie man es gewöhnlich
glaubt. Berechtigter Stolz über die Leistungen in dem Automobil- und Flug¬
wesen erfüllt alle Franzosen. Seit der Reform von 1902 hat man im Schul¬
wesen Fortschritte gemacht, besonders in der Erlernung der Fremdsprachen; der
Geschichtsunterricht an den höheren Schulen ist, soweit es den Franzosen möglich,
etwas objektiver geworden. Auf philosophischem Gebiete erleben wir das Er¬
wachen des Idealismus und Optimismus in der Philosophie Bergsons, und
auf literarischem Gebiete haben wir die Erscheinung eines so bedeutsamen
Werkes wie es "Jean Christophe" von Romain Rolland ist. Jedenfalls ist die
la als siöcle-Stimmung vorüber, von einem müden Pessimismus bemerkt man
nichts mehr. Ich datiere diesen Umschwung von der Erledigung der Dreyfus-
Affäre, die Frankreich bis in seine Tiefen erschüttert und durchwühlt hat. Etwas
in der französischen Kulturgeschichte Unerhörtes trat damals ein: die literarische
Produktion, die sich bei unseren Nachbarn immer auf einer gleichmäßigen Höhe
bewegt, fing an zu stocken, und selbst die Theater waren ungewöhnlich leer.
Ich glaube zwar nicht an die Wiedergeburt des französischen Volkes, von der
man drüben voll Pathos und Überhebung redet, aus mancherlei Gründen, die
darzulegen hier zu weit führen würde. Aber es wäre eine gefährliche Täuschung,
von einer Dekadenz Frankreichs zu sprechen. Die französische Volksseele birgt
noch eine Unsumme von Lebensenergie in sich und hat der Welt schon oft
Überraschungen bereitet, zuletzt in dem mühseligen Winterfeldzug von 1870/71.
Wenn uns unsere Nachbarn militärisch und politisch in ihrem gallischen Hochmut
unterschätzen, so wollen wir es kühl hinnehmen, denn es kann für uns nur von
Vorteil sein. Aber die gewaltige Arbeit der Kulturexpansion Franksreichs möge
für Regierung wie Reichstag eine Mahnung sein, unsere Auslandsschulen zu
einer kräftigen Blüte zu bringen. Bureaukratische Bedenken mögen den Männern,
die als Kämpfer für den deutschen Gedanken, als Kulturpioniere in der Welt
tätig find, keine Hindernisse bereiten. Der Oberlehrerstand ist jetzt überfüllt.
Manchen jungen Lehrer wird der alte deutsche Tatendrang in die Weite locken.
Dienstjahre im Auslande müßten als Kriegsjahre gelten. Man sollte die
Wiederanstellung solcher Männer, die sich an Auslandsschulen bewährt haben,
in der Heimat begünstigen. Keinem Stande sind in dem Maße Großzügigkeit
des Denkens, Weite des Blickes und Hochherzigkeit der Gesinnung nötig, wie
dem Bildner und Erzieher an unserer höheren Schule, aus der die führende
Minorität der Gebildeten hervorgehen soll; die tägliche Kleinarbeit schafft nicht
immer die Luft, in der solche Eigenschaften gedeihen können. Ein längerer
Aufenthalt draußen in der Welt, ernste Tätigkeit an deutschen Auslandsschulen,
sind geeignet, den Blick für das Wesentliche zu schärfen, das Kleine vom Großen
unterscheiden zu lehren, Vorurteile zu zerstören, Welt- und Menschenkenntnis
zu vertiefen, den Horizont zu erweitern, weltmännische Persönlichkeiten heran¬
zubilden, und für die Erziehung unserer Jugend sind solche Männer gerade


Frankreichs Kulturexpansion und ihre Bedeutung für Deutschland

zukünftigen Kriege ein. Das große nordafrikanische Kolonialreich zeigt, daß die
Franzosen als Kolonisatoren nicht so unfähig sind, wie man es gewöhnlich
glaubt. Berechtigter Stolz über die Leistungen in dem Automobil- und Flug¬
wesen erfüllt alle Franzosen. Seit der Reform von 1902 hat man im Schul¬
wesen Fortschritte gemacht, besonders in der Erlernung der Fremdsprachen; der
Geschichtsunterricht an den höheren Schulen ist, soweit es den Franzosen möglich,
etwas objektiver geworden. Auf philosophischem Gebiete erleben wir das Er¬
wachen des Idealismus und Optimismus in der Philosophie Bergsons, und
auf literarischem Gebiete haben wir die Erscheinung eines so bedeutsamen
Werkes wie es „Jean Christophe" von Romain Rolland ist. Jedenfalls ist die
la als siöcle-Stimmung vorüber, von einem müden Pessimismus bemerkt man
nichts mehr. Ich datiere diesen Umschwung von der Erledigung der Dreyfus-
Affäre, die Frankreich bis in seine Tiefen erschüttert und durchwühlt hat. Etwas
in der französischen Kulturgeschichte Unerhörtes trat damals ein: die literarische
Produktion, die sich bei unseren Nachbarn immer auf einer gleichmäßigen Höhe
bewegt, fing an zu stocken, und selbst die Theater waren ungewöhnlich leer.
Ich glaube zwar nicht an die Wiedergeburt des französischen Volkes, von der
man drüben voll Pathos und Überhebung redet, aus mancherlei Gründen, die
darzulegen hier zu weit führen würde. Aber es wäre eine gefährliche Täuschung,
von einer Dekadenz Frankreichs zu sprechen. Die französische Volksseele birgt
noch eine Unsumme von Lebensenergie in sich und hat der Welt schon oft
Überraschungen bereitet, zuletzt in dem mühseligen Winterfeldzug von 1870/71.
Wenn uns unsere Nachbarn militärisch und politisch in ihrem gallischen Hochmut
unterschätzen, so wollen wir es kühl hinnehmen, denn es kann für uns nur von
Vorteil sein. Aber die gewaltige Arbeit der Kulturexpansion Franksreichs möge
für Regierung wie Reichstag eine Mahnung sein, unsere Auslandsschulen zu
einer kräftigen Blüte zu bringen. Bureaukratische Bedenken mögen den Männern,
die als Kämpfer für den deutschen Gedanken, als Kulturpioniere in der Welt
tätig find, keine Hindernisse bereiten. Der Oberlehrerstand ist jetzt überfüllt.
Manchen jungen Lehrer wird der alte deutsche Tatendrang in die Weite locken.
Dienstjahre im Auslande müßten als Kriegsjahre gelten. Man sollte die
Wiederanstellung solcher Männer, die sich an Auslandsschulen bewährt haben,
in der Heimat begünstigen. Keinem Stande sind in dem Maße Großzügigkeit
des Denkens, Weite des Blickes und Hochherzigkeit der Gesinnung nötig, wie
dem Bildner und Erzieher an unserer höheren Schule, aus der die führende
Minorität der Gebildeten hervorgehen soll; die tägliche Kleinarbeit schafft nicht
immer die Luft, in der solche Eigenschaften gedeihen können. Ein längerer
Aufenthalt draußen in der Welt, ernste Tätigkeit an deutschen Auslandsschulen,
sind geeignet, den Blick für das Wesentliche zu schärfen, das Kleine vom Großen
unterscheiden zu lehren, Vorurteile zu zerstören, Welt- und Menschenkenntnis
zu vertiefen, den Horizont zu erweitern, weltmännische Persönlichkeiten heran¬
zubilden, und für die Erziehung unserer Jugend sind solche Männer gerade


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[0477] Frankreichs Kulturexpansion und ihre Bedeutung für Deutschland zukünftigen Kriege ein. Das große nordafrikanische Kolonialreich zeigt, daß die Franzosen als Kolonisatoren nicht so unfähig sind, wie man es gewöhnlich glaubt. Berechtigter Stolz über die Leistungen in dem Automobil- und Flug¬ wesen erfüllt alle Franzosen. Seit der Reform von 1902 hat man im Schul¬ wesen Fortschritte gemacht, besonders in der Erlernung der Fremdsprachen; der Geschichtsunterricht an den höheren Schulen ist, soweit es den Franzosen möglich, etwas objektiver geworden. Auf philosophischem Gebiete erleben wir das Er¬ wachen des Idealismus und Optimismus in der Philosophie Bergsons, und auf literarischem Gebiete haben wir die Erscheinung eines so bedeutsamen Werkes wie es „Jean Christophe" von Romain Rolland ist. Jedenfalls ist die la als siöcle-Stimmung vorüber, von einem müden Pessimismus bemerkt man nichts mehr. Ich datiere diesen Umschwung von der Erledigung der Dreyfus- Affäre, die Frankreich bis in seine Tiefen erschüttert und durchwühlt hat. Etwas in der französischen Kulturgeschichte Unerhörtes trat damals ein: die literarische Produktion, die sich bei unseren Nachbarn immer auf einer gleichmäßigen Höhe bewegt, fing an zu stocken, und selbst die Theater waren ungewöhnlich leer. Ich glaube zwar nicht an die Wiedergeburt des französischen Volkes, von der man drüben voll Pathos und Überhebung redet, aus mancherlei Gründen, die darzulegen hier zu weit führen würde. Aber es wäre eine gefährliche Täuschung, von einer Dekadenz Frankreichs zu sprechen. Die französische Volksseele birgt noch eine Unsumme von Lebensenergie in sich und hat der Welt schon oft Überraschungen bereitet, zuletzt in dem mühseligen Winterfeldzug von 1870/71. Wenn uns unsere Nachbarn militärisch und politisch in ihrem gallischen Hochmut unterschätzen, so wollen wir es kühl hinnehmen, denn es kann für uns nur von Vorteil sein. Aber die gewaltige Arbeit der Kulturexpansion Franksreichs möge für Regierung wie Reichstag eine Mahnung sein, unsere Auslandsschulen zu einer kräftigen Blüte zu bringen. Bureaukratische Bedenken mögen den Männern, die als Kämpfer für den deutschen Gedanken, als Kulturpioniere in der Welt tätig find, keine Hindernisse bereiten. Der Oberlehrerstand ist jetzt überfüllt. Manchen jungen Lehrer wird der alte deutsche Tatendrang in die Weite locken. Dienstjahre im Auslande müßten als Kriegsjahre gelten. Man sollte die Wiederanstellung solcher Männer, die sich an Auslandsschulen bewährt haben, in der Heimat begünstigen. Keinem Stande sind in dem Maße Großzügigkeit des Denkens, Weite des Blickes und Hochherzigkeit der Gesinnung nötig, wie dem Bildner und Erzieher an unserer höheren Schule, aus der die führende Minorität der Gebildeten hervorgehen soll; die tägliche Kleinarbeit schafft nicht immer die Luft, in der solche Eigenschaften gedeihen können. Ein längerer Aufenthalt draußen in der Welt, ernste Tätigkeit an deutschen Auslandsschulen, sind geeignet, den Blick für das Wesentliche zu schärfen, das Kleine vom Großen unterscheiden zu lehren, Vorurteile zu zerstören, Welt- und Menschenkenntnis zu vertiefen, den Horizont zu erweitern, weltmännische Persönlichkeiten heran¬ zubilden, und für die Erziehung unserer Jugend sind solche Männer gerade

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/477>, abgerufen am 27.07.2024.