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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Frankreichs Rulturexxansion und ihre Bedeutung für Deutschland

Auf der Fähigkeit zur Objektivität, die bei uns oft zur Schwäche geworden
ist. beruht doch im Grunde unsere Überlegenheit über andere Völker. Sie ist
auf intellektuellem Gebiete, was die Nächstenliebe auf sittlichem ist: sie befähigt,
fremdes Wesen wie eigenes zu verstehen und zu schätzen. Diese Kraft der
Selbstentäußerung bewahrt uns vor Erstarrung und Selbstüberschätzung; sie läßt
uns nie fertig werden, uns immer wieder zulernen und begründet so unsere
geistige Überlegenheit. Bismarck will in seinen "Gedanken und Erinnerungen"
die Objektivität des deutschen Charakters sogar als einen politischen Vorteil
ansehen. Darum wollen wir nicht leugnen, daß die Vorliebe vieler Völker für
französische Sprache und Literatur aus Vorzügen unserer Nachbarn zu erklären
ist, daß die französische Kultur von altersher werbende Kraft besitzt. Dies fehlt
der deutschen; das sei hier nur kurz gestreift. Sie ist noch zu jung; erst vor
hundert Jahren haben wir die Grundlagen zu einem einheitlichen nationalen
Geistesleben gelegt. Darum entbehrt unsere Kultur noch der rechten Stileinheit
und Stilreinheit. Der französische Charakter, durchaus antiindividualistisch, und
die französische Geschichte, die zur Zentralisation des Landes hindrängte,
begünstigten die frühe Entwicklung einer geschlossenen, harmonisch durchgebildeten
Kultur. Über Stillosigkeit im Auftreten unserer Landsleute hat wohl jeder zu
klagen, der im Auslande gewesen ist. Es fehlt uns der romanische Formensinn,
daher wird der Deutsche so leicht formell oder neuerdings etwas affektiert. Die
einzige Seite, von der her wir einen einheitlichen Stil haben, ist bezeichnender¬
weise die militärische. Trotz allem Haß gegen den Militarismus reden auch die
sozialdemokratischen Volksredner durchaus in militärischem Stile von dem Marsch
und dem ehernen Tritt der Arbeiterbataillone, von der blutroten Fahne der
Revolution, um die sich alle scharen, von dem Korpsgeist und der Disziplin
ihrer Partei. Daher das unwillkürliche Interesse der breiten Volksmassen für
alles soldatische, daher die wichtige Rolle, die der Offizier als Erzieher zur
Vaterlandsliebe spielen kann! Alle Ausländer geben zu, daß in unseren besten
Offizierskreisen immer noch am leichtesten natürliche Vornehmheit des Verkehrs
zu finden ist.

In seinem angeborenen Formgefühl legt der Franzose auf gute Aus¬
bildung in der Muttersprache und Pflege seiner nationalen Literatur großen
Wert. Mag der Stoff noch so langweilig sein, man kann nicht leugnen, daß
selbst der französische Durchschnittsprofessor ihn in angenehmer und fesselnder
Form darbietet, und mag das Thema noch so verwickelt und schwierig sein, er
wird es in lichtvoller Klarheit und Faßlichkeit dem Verständnis seiner Zuhörer
nahezubringen suchen. Seine Fähigkeit zu eindringender Analyse befähigt den
Franzosen dazu, Kompliziertes zu klären; er scheidet und trennt gern und leuchtet
dann so lange in den Ecken herum, bis überall Licht ist. So gestand eines
Tages ein Deutscher, daß, wenn er einen schwierigen deutschen Philosophen ver¬
stehen wolle, er erst ein französisches Werk über ihn zu lesen pflege. Stileinheit,
Formensinn und Klarheit müssen aber Ausländer besonders anziehen, denn sie


Frankreichs Rulturexxansion und ihre Bedeutung für Deutschland

Auf der Fähigkeit zur Objektivität, die bei uns oft zur Schwäche geworden
ist. beruht doch im Grunde unsere Überlegenheit über andere Völker. Sie ist
auf intellektuellem Gebiete, was die Nächstenliebe auf sittlichem ist: sie befähigt,
fremdes Wesen wie eigenes zu verstehen und zu schätzen. Diese Kraft der
Selbstentäußerung bewahrt uns vor Erstarrung und Selbstüberschätzung; sie läßt
uns nie fertig werden, uns immer wieder zulernen und begründet so unsere
geistige Überlegenheit. Bismarck will in seinen „Gedanken und Erinnerungen"
die Objektivität des deutschen Charakters sogar als einen politischen Vorteil
ansehen. Darum wollen wir nicht leugnen, daß die Vorliebe vieler Völker für
französische Sprache und Literatur aus Vorzügen unserer Nachbarn zu erklären
ist, daß die französische Kultur von altersher werbende Kraft besitzt. Dies fehlt
der deutschen; das sei hier nur kurz gestreift. Sie ist noch zu jung; erst vor
hundert Jahren haben wir die Grundlagen zu einem einheitlichen nationalen
Geistesleben gelegt. Darum entbehrt unsere Kultur noch der rechten Stileinheit
und Stilreinheit. Der französische Charakter, durchaus antiindividualistisch, und
die französische Geschichte, die zur Zentralisation des Landes hindrängte,
begünstigten die frühe Entwicklung einer geschlossenen, harmonisch durchgebildeten
Kultur. Über Stillosigkeit im Auftreten unserer Landsleute hat wohl jeder zu
klagen, der im Auslande gewesen ist. Es fehlt uns der romanische Formensinn,
daher wird der Deutsche so leicht formell oder neuerdings etwas affektiert. Die
einzige Seite, von der her wir einen einheitlichen Stil haben, ist bezeichnender¬
weise die militärische. Trotz allem Haß gegen den Militarismus reden auch die
sozialdemokratischen Volksredner durchaus in militärischem Stile von dem Marsch
und dem ehernen Tritt der Arbeiterbataillone, von der blutroten Fahne der
Revolution, um die sich alle scharen, von dem Korpsgeist und der Disziplin
ihrer Partei. Daher das unwillkürliche Interesse der breiten Volksmassen für
alles soldatische, daher die wichtige Rolle, die der Offizier als Erzieher zur
Vaterlandsliebe spielen kann! Alle Ausländer geben zu, daß in unseren besten
Offizierskreisen immer noch am leichtesten natürliche Vornehmheit des Verkehrs
zu finden ist.

In seinem angeborenen Formgefühl legt der Franzose auf gute Aus¬
bildung in der Muttersprache und Pflege seiner nationalen Literatur großen
Wert. Mag der Stoff noch so langweilig sein, man kann nicht leugnen, daß
selbst der französische Durchschnittsprofessor ihn in angenehmer und fesselnder
Form darbietet, und mag das Thema noch so verwickelt und schwierig sein, er
wird es in lichtvoller Klarheit und Faßlichkeit dem Verständnis seiner Zuhörer
nahezubringen suchen. Seine Fähigkeit zu eindringender Analyse befähigt den
Franzosen dazu, Kompliziertes zu klären; er scheidet und trennt gern und leuchtet
dann so lange in den Ecken herum, bis überall Licht ist. So gestand eines
Tages ein Deutscher, daß, wenn er einen schwierigen deutschen Philosophen ver¬
stehen wolle, er erst ein französisches Werk über ihn zu lesen pflege. Stileinheit,
Formensinn und Klarheit müssen aber Ausländer besonders anziehen, denn sie


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[0475] Frankreichs Rulturexxansion und ihre Bedeutung für Deutschland Auf der Fähigkeit zur Objektivität, die bei uns oft zur Schwäche geworden ist. beruht doch im Grunde unsere Überlegenheit über andere Völker. Sie ist auf intellektuellem Gebiete, was die Nächstenliebe auf sittlichem ist: sie befähigt, fremdes Wesen wie eigenes zu verstehen und zu schätzen. Diese Kraft der Selbstentäußerung bewahrt uns vor Erstarrung und Selbstüberschätzung; sie läßt uns nie fertig werden, uns immer wieder zulernen und begründet so unsere geistige Überlegenheit. Bismarck will in seinen „Gedanken und Erinnerungen" die Objektivität des deutschen Charakters sogar als einen politischen Vorteil ansehen. Darum wollen wir nicht leugnen, daß die Vorliebe vieler Völker für französische Sprache und Literatur aus Vorzügen unserer Nachbarn zu erklären ist, daß die französische Kultur von altersher werbende Kraft besitzt. Dies fehlt der deutschen; das sei hier nur kurz gestreift. Sie ist noch zu jung; erst vor hundert Jahren haben wir die Grundlagen zu einem einheitlichen nationalen Geistesleben gelegt. Darum entbehrt unsere Kultur noch der rechten Stileinheit und Stilreinheit. Der französische Charakter, durchaus antiindividualistisch, und die französische Geschichte, die zur Zentralisation des Landes hindrängte, begünstigten die frühe Entwicklung einer geschlossenen, harmonisch durchgebildeten Kultur. Über Stillosigkeit im Auftreten unserer Landsleute hat wohl jeder zu klagen, der im Auslande gewesen ist. Es fehlt uns der romanische Formensinn, daher wird der Deutsche so leicht formell oder neuerdings etwas affektiert. Die einzige Seite, von der her wir einen einheitlichen Stil haben, ist bezeichnender¬ weise die militärische. Trotz allem Haß gegen den Militarismus reden auch die sozialdemokratischen Volksredner durchaus in militärischem Stile von dem Marsch und dem ehernen Tritt der Arbeiterbataillone, von der blutroten Fahne der Revolution, um die sich alle scharen, von dem Korpsgeist und der Disziplin ihrer Partei. Daher das unwillkürliche Interesse der breiten Volksmassen für alles soldatische, daher die wichtige Rolle, die der Offizier als Erzieher zur Vaterlandsliebe spielen kann! Alle Ausländer geben zu, daß in unseren besten Offizierskreisen immer noch am leichtesten natürliche Vornehmheit des Verkehrs zu finden ist. In seinem angeborenen Formgefühl legt der Franzose auf gute Aus¬ bildung in der Muttersprache und Pflege seiner nationalen Literatur großen Wert. Mag der Stoff noch so langweilig sein, man kann nicht leugnen, daß selbst der französische Durchschnittsprofessor ihn in angenehmer und fesselnder Form darbietet, und mag das Thema noch so verwickelt und schwierig sein, er wird es in lichtvoller Klarheit und Faßlichkeit dem Verständnis seiner Zuhörer nahezubringen suchen. Seine Fähigkeit zu eindringender Analyse befähigt den Franzosen dazu, Kompliziertes zu klären; er scheidet und trennt gern und leuchtet dann so lange in den Ecken herum, bis überall Licht ist. So gestand eines Tages ein Deutscher, daß, wenn er einen schwierigen deutschen Philosophen ver¬ stehen wolle, er erst ein französisches Werk über ihn zu lesen pflege. Stileinheit, Formensinn und Klarheit müssen aber Ausländer besonders anziehen, denn sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/475>, abgerufen am 28.07.2024.