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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter

suchung nur politisch (sozialdemokratisch) und gewerkschaftlich (freie Gewerkschaften)
organisierte Arbeiter in Betracht. Die sechsundzwanzig Fragen teilt Levenstein
in vier Gruppen, die

1. das seelische Verhältnis der Arbeiter zu ihrer berufsmäßigen Arbeit
und ihren Arbeitsbedingungen,
2. die positiven Wünsche der Arbeiter in bezug auf die Umgestaltung ihrer
ökonomischen Lage,
3. die Beziehungen der Arbeiter zu den sozialen Gemeinschaften,
4. die Stellung der Arbeiter zu den außerberuflichen Kultur- und Lebens¬
problemen

betreffen. In diesen Rubriken findet sich nun eine merkwürdige Mischung von
rein sachlichen und nur gefühlsmäßig zu beantwortenden Suggestivfragen, die
für die Lösung der Probleme wenig nützen können, da sie teils nach dem
Parteiprogramm abgeschrieben werden ("-- wieviel Stunden würden Sie gern
arbeiten?"), teils eine bestimmte Antwort direkt herausfordern (1, 5: "Was
drückt Sie mehr, der geringe Lohn oder daß Sie vom Arbeitgeber so abhängig
sind, so wenig Aussichten haben, im Leben weiterzukommen, Ihren Kindern
gar nichts bieten zu können?" 4, 1: "Glauben Sie an den lieben Gott, oder
sind Sie und aus welchen Gründen aus der Landeskirche ausgetreten?" 4, 2:
"Gehen Sie oft in den Wald? Was denken Sie, wenn Sie auf dem Wald¬
boden liegen, ringsherum tiefe Einsamkeit?")

Die Beantwortung dieser Fragen teilt Levenstein nun wörtlich mit, indem
er die Antworten der drei Arbeiterkategorien trennt, das Alter, die Kinderzahl,
zuweilen den durchschnittlichen Wochenverdienst und die tägliche Arbeitszeit,
am Schluß jedes Abschnittes eine statistische Berechnung hinzufügt, die wissen¬
schaftlichen Ansprüchen auf Klarheit nicht voll genügt. Am auffallendsten ist
aber, daß die Arbeiter in vier Klassen, die Massenschicht, die verbildete, die
kontemplative und die intellektuelle Schicht eingeteilt werden, und gerade diese
Schichten mit ausgeprägten Kollektiveigenschasten innerhalb der Arbeiter¬
massen zu treffen, war nach Leoensteins eigenen Worten hauptsächlich sein
Bemühen. Die Merkmale, die er uns für diese Klassen gibt, sind aber
durchaus nicht präzisiert. So sagt er z. B.: "die intellektuelle Schicht aus¬
zusondern bot naturgemäß ganz besondere Schwierigkeiten. Schöpferische,
autonome Charaktere bildeten den Grundzug dieser Arbeiterlategorie. Solche
mit dem Zukunftswechsel in der Tasche, die mit jungfrohem Optimismus eigene
Wege gehen" . . . und den Grund zur Einordnung eines bestimmten Arbeiters in
eine dieser Klassen ergibt nicht etwa der ausgefüllte Fragebogen, sondern ent¬
weder die später mit den Arbeitern gewechselten, aber nicht unveröffentlichten Briefe,
oder der von einem "Freund" des betreffenden Arbeiters ausgefüllte Bogen,
der dann bei einem Angehörigen der Massenschicht auch wieder die Merkmale
der Massenschicht trug -- ein Verfahren, das jedenfalls nicht wissenschaftlich
genannt werden kann und das nachzuprüfen dem Leser gar nicht möglich ist. --


Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter

suchung nur politisch (sozialdemokratisch) und gewerkschaftlich (freie Gewerkschaften)
organisierte Arbeiter in Betracht. Die sechsundzwanzig Fragen teilt Levenstein
in vier Gruppen, die

1. das seelische Verhältnis der Arbeiter zu ihrer berufsmäßigen Arbeit
und ihren Arbeitsbedingungen,
2. die positiven Wünsche der Arbeiter in bezug auf die Umgestaltung ihrer
ökonomischen Lage,
3. die Beziehungen der Arbeiter zu den sozialen Gemeinschaften,
4. die Stellung der Arbeiter zu den außerberuflichen Kultur- und Lebens¬
problemen

betreffen. In diesen Rubriken findet sich nun eine merkwürdige Mischung von
rein sachlichen und nur gefühlsmäßig zu beantwortenden Suggestivfragen, die
für die Lösung der Probleme wenig nützen können, da sie teils nach dem
Parteiprogramm abgeschrieben werden („— wieviel Stunden würden Sie gern
arbeiten?"), teils eine bestimmte Antwort direkt herausfordern (1, 5: „Was
drückt Sie mehr, der geringe Lohn oder daß Sie vom Arbeitgeber so abhängig
sind, so wenig Aussichten haben, im Leben weiterzukommen, Ihren Kindern
gar nichts bieten zu können?" 4, 1: „Glauben Sie an den lieben Gott, oder
sind Sie und aus welchen Gründen aus der Landeskirche ausgetreten?" 4, 2:
„Gehen Sie oft in den Wald? Was denken Sie, wenn Sie auf dem Wald¬
boden liegen, ringsherum tiefe Einsamkeit?")

Die Beantwortung dieser Fragen teilt Levenstein nun wörtlich mit, indem
er die Antworten der drei Arbeiterkategorien trennt, das Alter, die Kinderzahl,
zuweilen den durchschnittlichen Wochenverdienst und die tägliche Arbeitszeit,
am Schluß jedes Abschnittes eine statistische Berechnung hinzufügt, die wissen¬
schaftlichen Ansprüchen auf Klarheit nicht voll genügt. Am auffallendsten ist
aber, daß die Arbeiter in vier Klassen, die Massenschicht, die verbildete, die
kontemplative und die intellektuelle Schicht eingeteilt werden, und gerade diese
Schichten mit ausgeprägten Kollektiveigenschasten innerhalb der Arbeiter¬
massen zu treffen, war nach Leoensteins eigenen Worten hauptsächlich sein
Bemühen. Die Merkmale, die er uns für diese Klassen gibt, sind aber
durchaus nicht präzisiert. So sagt er z. B.: „die intellektuelle Schicht aus¬
zusondern bot naturgemäß ganz besondere Schwierigkeiten. Schöpferische,
autonome Charaktere bildeten den Grundzug dieser Arbeiterlategorie. Solche
mit dem Zukunftswechsel in der Tasche, die mit jungfrohem Optimismus eigene
Wege gehen" . . . und den Grund zur Einordnung eines bestimmten Arbeiters in
eine dieser Klassen ergibt nicht etwa der ausgefüllte Fragebogen, sondern ent¬
weder die später mit den Arbeitern gewechselten, aber nicht unveröffentlichten Briefe,
oder der von einem „Freund" des betreffenden Arbeiters ausgefüllte Bogen,
der dann bei einem Angehörigen der Massenschicht auch wieder die Merkmale
der Massenschicht trug — ein Verfahren, das jedenfalls nicht wissenschaftlich
genannt werden kann und das nachzuprüfen dem Leser gar nicht möglich ist. —


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[0440] Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter suchung nur politisch (sozialdemokratisch) und gewerkschaftlich (freie Gewerkschaften) organisierte Arbeiter in Betracht. Die sechsundzwanzig Fragen teilt Levenstein in vier Gruppen, die 1. das seelische Verhältnis der Arbeiter zu ihrer berufsmäßigen Arbeit und ihren Arbeitsbedingungen, 2. die positiven Wünsche der Arbeiter in bezug auf die Umgestaltung ihrer ökonomischen Lage, 3. die Beziehungen der Arbeiter zu den sozialen Gemeinschaften, 4. die Stellung der Arbeiter zu den außerberuflichen Kultur- und Lebens¬ problemen betreffen. In diesen Rubriken findet sich nun eine merkwürdige Mischung von rein sachlichen und nur gefühlsmäßig zu beantwortenden Suggestivfragen, die für die Lösung der Probleme wenig nützen können, da sie teils nach dem Parteiprogramm abgeschrieben werden („— wieviel Stunden würden Sie gern arbeiten?"), teils eine bestimmte Antwort direkt herausfordern (1, 5: „Was drückt Sie mehr, der geringe Lohn oder daß Sie vom Arbeitgeber so abhängig sind, so wenig Aussichten haben, im Leben weiterzukommen, Ihren Kindern gar nichts bieten zu können?" 4, 1: „Glauben Sie an den lieben Gott, oder sind Sie und aus welchen Gründen aus der Landeskirche ausgetreten?" 4, 2: „Gehen Sie oft in den Wald? Was denken Sie, wenn Sie auf dem Wald¬ boden liegen, ringsherum tiefe Einsamkeit?") Die Beantwortung dieser Fragen teilt Levenstein nun wörtlich mit, indem er die Antworten der drei Arbeiterkategorien trennt, das Alter, die Kinderzahl, zuweilen den durchschnittlichen Wochenverdienst und die tägliche Arbeitszeit, am Schluß jedes Abschnittes eine statistische Berechnung hinzufügt, die wissen¬ schaftlichen Ansprüchen auf Klarheit nicht voll genügt. Am auffallendsten ist aber, daß die Arbeiter in vier Klassen, die Massenschicht, die verbildete, die kontemplative und die intellektuelle Schicht eingeteilt werden, und gerade diese Schichten mit ausgeprägten Kollektiveigenschasten innerhalb der Arbeiter¬ massen zu treffen, war nach Leoensteins eigenen Worten hauptsächlich sein Bemühen. Die Merkmale, die er uns für diese Klassen gibt, sind aber durchaus nicht präzisiert. So sagt er z. B.: „die intellektuelle Schicht aus¬ zusondern bot naturgemäß ganz besondere Schwierigkeiten. Schöpferische, autonome Charaktere bildeten den Grundzug dieser Arbeiterlategorie. Solche mit dem Zukunftswechsel in der Tasche, die mit jungfrohem Optimismus eigene Wege gehen" . . . und den Grund zur Einordnung eines bestimmten Arbeiters in eine dieser Klassen ergibt nicht etwa der ausgefüllte Fragebogen, sondern ent¬ weder die später mit den Arbeitern gewechselten, aber nicht unveröffentlichten Briefe, oder der von einem „Freund" des betreffenden Arbeiters ausgefüllte Bogen, der dann bei einem Angehörigen der Massenschicht auch wieder die Merkmale der Massenschicht trug — ein Verfahren, das jedenfalls nicht wissenschaftlich genannt werden kann und das nachzuprüfen dem Leser gar nicht möglich ist. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/440>, abgerufen am 30.12.2024.