Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter

Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter
Dr. D. Meyer i Vonn

le Psychologie der Arbeiter ist noch ziemlich jungen Datums;
obwohl die Wichtigkeit der psychologischen Betrachtungsweise für
die Lösung der sozialen Frage auf der Hand liegt, ist ihre Methodik
noch durchaus nicht geklärt und man sucht dem Problem auf den
verschiedensten Wegen näher zu kommen.

Zunächst begannen Gebildete durch den unmittelbaren Verkehr mit Arbeitern
die Fragen aus eigener Anschauung kennen zu lernen; Bücher wie Paul Göhres
"Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" sind zur Einführung jeden¬
falls außerordentlich lehrreich, wenn auch ihr wissenschaftlicher Wert durch die
immerhin kurze Beobachtungszeit und die subjektive Stellung des Autors beein¬
trächtigt wird.

Weit mehr objektiven Wert haben Autobiographien von Arbeitern, von
denen im letzten Jahrzehnt mehrere erschienen sind; die bedeutendste ist wohl
die von Göhre herausgegebene "Lebensgeschichte des Arbeiters Karl Fischer", für den
Nichtfachmann vielleicht die beste Einführung in die Arbeiterpsychologie überhaupt.

Einen dritten Weg schlägt Dr. Adolf Levenstein ein, der Fragebogen an
Berg-, Textil- und Metallarbeiter verschickte; einige von den Antworten veran¬
laßten ihn zur weiteren Korrespondenz und aus diesen hat er schon verschiedene
außerordentlich interessante Beiträge zur Arbeiterpsychologie veröffentlicht*) und
die Anregung zur Arbeiterdilettanten - Kunstausstellung (1. November 1909 bis
30. Januar 1910 in Berlin) empfangen. Die große Enquete des Vereins für
Sozialpolitik über "Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen
Großindustrie" fußt zuni Teil aus den Levensteinschen Fragenbogen, und so dürfte
man auf die abschließenden Resultate dieser Erhebung in seinem Buch: "Die
Arbeiterfrage mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des
modernen Großbetriebes und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter"
(München bei Ernst Reinhardt, 1912, Preis 6 Mary mit Recht gespannt sein.

Levenstein versuchte durch die Beantwortung der Fragen:

a) was für Menschen prägt die moderne Großindustrie unter dem Drucke
privatwirtschaftlicher Ökonomie?
b) welche Kräfte bilden das Gegengewicht einer etwaigen psychischen und
physischen Entartung?

durch Arbeiter die soziale Frage überhaupt zu lösen. Die Fragebogen
nun, von denen er achttausend versandte, wurden von fünftausendundvierzig
Arbeitern beantwortet 63 Prozent) und zwar kamen für die ganze Unter-



") "Aus der Tiefe." Arbeiterbriefe. Beitrüge zur Seelenanalyse moderner Arbeiter.
Herausgegeben von Ad. Levenstein 1909. -- "Arbeiterphilosophen und -dichter." Heraus¬
gegeben von Ad. Levenstein 1909. -- "Proletariers Jugendjahre." Herausgegeben von Ad.
Levenstein 1909.
28"
Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter

Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter
Dr. D. Meyer i Vonn

le Psychologie der Arbeiter ist noch ziemlich jungen Datums;
obwohl die Wichtigkeit der psychologischen Betrachtungsweise für
die Lösung der sozialen Frage auf der Hand liegt, ist ihre Methodik
noch durchaus nicht geklärt und man sucht dem Problem auf den
verschiedensten Wegen näher zu kommen.

Zunächst begannen Gebildete durch den unmittelbaren Verkehr mit Arbeitern
die Fragen aus eigener Anschauung kennen zu lernen; Bücher wie Paul Göhres
„Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" sind zur Einführung jeden¬
falls außerordentlich lehrreich, wenn auch ihr wissenschaftlicher Wert durch die
immerhin kurze Beobachtungszeit und die subjektive Stellung des Autors beein¬
trächtigt wird.

Weit mehr objektiven Wert haben Autobiographien von Arbeitern, von
denen im letzten Jahrzehnt mehrere erschienen sind; die bedeutendste ist wohl
die von Göhre herausgegebene „Lebensgeschichte des Arbeiters Karl Fischer", für den
Nichtfachmann vielleicht die beste Einführung in die Arbeiterpsychologie überhaupt.

Einen dritten Weg schlägt Dr. Adolf Levenstein ein, der Fragebogen an
Berg-, Textil- und Metallarbeiter verschickte; einige von den Antworten veran¬
laßten ihn zur weiteren Korrespondenz und aus diesen hat er schon verschiedene
außerordentlich interessante Beiträge zur Arbeiterpsychologie veröffentlicht*) und
die Anregung zur Arbeiterdilettanten - Kunstausstellung (1. November 1909 bis
30. Januar 1910 in Berlin) empfangen. Die große Enquete des Vereins für
Sozialpolitik über „Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen
Großindustrie" fußt zuni Teil aus den Levensteinschen Fragenbogen, und so dürfte
man auf die abschließenden Resultate dieser Erhebung in seinem Buch: „Die
Arbeiterfrage mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des
modernen Großbetriebes und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter"
(München bei Ernst Reinhardt, 1912, Preis 6 Mary mit Recht gespannt sein.

Levenstein versuchte durch die Beantwortung der Fragen:

a) was für Menschen prägt die moderne Großindustrie unter dem Drucke
privatwirtschaftlicher Ökonomie?
b) welche Kräfte bilden das Gegengewicht einer etwaigen psychischen und
physischen Entartung?

durch Arbeiter die soziale Frage überhaupt zu lösen. Die Fragebogen
nun, von denen er achttausend versandte, wurden von fünftausendundvierzig
Arbeitern beantwortet 63 Prozent) und zwar kamen für die ganze Unter-



") „Aus der Tiefe." Arbeiterbriefe. Beitrüge zur Seelenanalyse moderner Arbeiter.
Herausgegeben von Ad. Levenstein 1909. — „Arbeiterphilosophen und -dichter." Heraus¬
gegeben von Ad. Levenstein 1909. — „Proletariers Jugendjahre." Herausgegeben von Ad.
Levenstein 1909.
28»
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0439" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325959"/>
          <fw type="header" place="top"> Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter</fw><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter<lb/><note type="byline"> Dr. D. Meyer i</note> Vonn</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2021"> le Psychologie der Arbeiter ist noch ziemlich jungen Datums;<lb/>
obwohl die Wichtigkeit der psychologischen Betrachtungsweise für<lb/>
die Lösung der sozialen Frage auf der Hand liegt, ist ihre Methodik<lb/>
noch durchaus nicht geklärt und man sucht dem Problem auf den<lb/>
verschiedensten Wegen näher zu kommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2022"> Zunächst begannen Gebildete durch den unmittelbaren Verkehr mit Arbeitern<lb/>
die Fragen aus eigener Anschauung kennen zu lernen; Bücher wie Paul Göhres<lb/>
&#x201E;Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" sind zur Einführung jeden¬<lb/>
falls außerordentlich lehrreich, wenn auch ihr wissenschaftlicher Wert durch die<lb/>
immerhin kurze Beobachtungszeit und die subjektive Stellung des Autors beein¬<lb/>
trächtigt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2023"> Weit mehr objektiven Wert haben Autobiographien von Arbeitern, von<lb/>
denen im letzten Jahrzehnt mehrere erschienen sind; die bedeutendste ist wohl<lb/>
die von Göhre herausgegebene &#x201E;Lebensgeschichte des Arbeiters Karl Fischer", für den<lb/>
Nichtfachmann vielleicht die beste Einführung in die Arbeiterpsychologie überhaupt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2024"> Einen dritten Weg schlägt Dr. Adolf Levenstein ein, der Fragebogen an<lb/>
Berg-, Textil- und Metallarbeiter verschickte; einige von den Antworten veran¬<lb/>
laßten ihn zur weiteren Korrespondenz und aus diesen hat er schon verschiedene<lb/>
außerordentlich interessante Beiträge zur Arbeiterpsychologie veröffentlicht*) und<lb/>
die Anregung zur Arbeiterdilettanten - Kunstausstellung (1. November 1909 bis<lb/>
30. Januar 1910 in Berlin) empfangen. Die große Enquete des Vereins für<lb/>
Sozialpolitik über &#x201E;Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen<lb/>
Großindustrie" fußt zuni Teil aus den Levensteinschen Fragenbogen, und so dürfte<lb/>
man auf die abschließenden Resultate dieser Erhebung in seinem Buch: &#x201E;Die<lb/>
Arbeiterfrage mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des<lb/>
modernen Großbetriebes und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter"<lb/>
(München bei Ernst Reinhardt, 1912, Preis 6 Mary mit Recht gespannt sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2025" next="#ID_2026"> Levenstein versuchte durch die Beantwortung der Fragen:</p><lb/>
          <list>
            <item> a) was für Menschen prägt die moderne Großindustrie unter dem Drucke<lb/>
privatwirtschaftlicher Ökonomie?</item>
            <item> b) welche Kräfte bilden das Gegengewicht einer etwaigen psychischen und<lb/>
physischen Entartung?</item>
          </list><lb/>
          <p xml:id="ID_2026" prev="#ID_2025" next="#ID_2027"> durch Arbeiter die soziale Frage überhaupt zu lösen. Die Fragebogen<lb/>
nun, von denen er achttausend versandte, wurden von fünftausendundvierzig<lb/>
Arbeitern beantwortet   63 Prozent) und zwar kamen für die ganze Unter-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_86" place="foot"> ") &#x201E;Aus der Tiefe." Arbeiterbriefe. Beitrüge zur Seelenanalyse moderner Arbeiter.<lb/>
Herausgegeben von Ad. Levenstein 1909. &#x2014; &#x201E;Arbeiterphilosophen und -dichter." Heraus¬<lb/>
gegeben von Ad. Levenstein 1909. &#x2014; &#x201E;Proletariers Jugendjahre." Herausgegeben von Ad.<lb/>
Levenstein 1909.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 28»</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0439] Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter Beiträge zu einer Psychologie der Arbeiter Dr. D. Meyer i Vonn le Psychologie der Arbeiter ist noch ziemlich jungen Datums; obwohl die Wichtigkeit der psychologischen Betrachtungsweise für die Lösung der sozialen Frage auf der Hand liegt, ist ihre Methodik noch durchaus nicht geklärt und man sucht dem Problem auf den verschiedensten Wegen näher zu kommen. Zunächst begannen Gebildete durch den unmittelbaren Verkehr mit Arbeitern die Fragen aus eigener Anschauung kennen zu lernen; Bücher wie Paul Göhres „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" sind zur Einführung jeden¬ falls außerordentlich lehrreich, wenn auch ihr wissenschaftlicher Wert durch die immerhin kurze Beobachtungszeit und die subjektive Stellung des Autors beein¬ trächtigt wird. Weit mehr objektiven Wert haben Autobiographien von Arbeitern, von denen im letzten Jahrzehnt mehrere erschienen sind; die bedeutendste ist wohl die von Göhre herausgegebene „Lebensgeschichte des Arbeiters Karl Fischer", für den Nichtfachmann vielleicht die beste Einführung in die Arbeiterpsychologie überhaupt. Einen dritten Weg schlägt Dr. Adolf Levenstein ein, der Fragebogen an Berg-, Textil- und Metallarbeiter verschickte; einige von den Antworten veran¬ laßten ihn zur weiteren Korrespondenz und aus diesen hat er schon verschiedene außerordentlich interessante Beiträge zur Arbeiterpsychologie veröffentlicht*) und die Anregung zur Arbeiterdilettanten - Kunstausstellung (1. November 1909 bis 30. Januar 1910 in Berlin) empfangen. Die große Enquete des Vereins für Sozialpolitik über „Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie" fußt zuni Teil aus den Levensteinschen Fragenbogen, und so dürfte man auf die abschließenden Resultate dieser Erhebung in seinem Buch: „Die Arbeiterfrage mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des modernen Großbetriebes und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter" (München bei Ernst Reinhardt, 1912, Preis 6 Mary mit Recht gespannt sein. Levenstein versuchte durch die Beantwortung der Fragen: a) was für Menschen prägt die moderne Großindustrie unter dem Drucke privatwirtschaftlicher Ökonomie? b) welche Kräfte bilden das Gegengewicht einer etwaigen psychischen und physischen Entartung? durch Arbeiter die soziale Frage überhaupt zu lösen. Die Fragebogen nun, von denen er achttausend versandte, wurden von fünftausendundvierzig Arbeitern beantwortet 63 Prozent) und zwar kamen für die ganze Unter- ") „Aus der Tiefe." Arbeiterbriefe. Beitrüge zur Seelenanalyse moderner Arbeiter. Herausgegeben von Ad. Levenstein 1909. — „Arbeiterphilosophen und -dichter." Heraus¬ gegeben von Ad. Levenstein 1909. — „Proletariers Jugendjahre." Herausgegeben von Ad. Levenstein 1909. 28»

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/439
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/439>, abgerufen am 27.07.2024.