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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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hier sehr wertvolle Belehrungen und An¬
regungen finden können. Gegenwärtig ist,
wie gesagt, der Zweck des Unterrichts fast
ausschließlich das Beibringen gewisser Prak¬
tischer sprachlicher Fertigkeiten. Es hat aber
much einen großen Wert, die inneren Zustände
fremder Länder, ihr geistiges Leben und ihre
geistige Kultur kennen zu lernen, nicht selten
sogar einen großen praktischen Wert. Ein
solches Wissen flößt uns eine höhere Achtung
bor dem fremden Volke ein, es ermöglicht
uns eine bessere Würdigung seiner Interessen
und Bedürfnisse und erleichtert den Umgang
mit den einzelnen Angehörigen desselben.
Wie wichtig ein solches inneres Verständnis
für alle diejenigen ist, die in fremden Ländern
irgendwie zu gebieten oder zu bestimmen
haben, Wie wichtig auch für den Diplomaten,
der über ihre Zustände berichtet, wie vorteil¬
haft für den Kaufmann, der dort festen Boden
gewinnen und sich eine Stellung verschaffen
soll, das bedarf kaum der ausdrücklichen Ver¬
sicherung. Wie erfreulich und gewinnbringend
kann es sein, wenn der europäische Beamte
oder .Kaufmann dem gebildeten Japaner oder
Chinesen gegenüber sich ebenfalls als ein
"gebildeter" Mann ausweisen kann, der nicht
nur Briefe und Zeitungen in der fremden
Sprache zu lesen und zu schreiben versteht,
sondern auch über ihre Literatur Bescheid
weiß. Und wenigstens einen Teil der Härten
der Eingeborenenpolitik kann der vermeiden,
der die Eingeborenen wirklich versteht und
verstehen will. Wieweit nun die im Orien¬
talischen Seminar abgehaltenen Vorlesungen
über die kulturellen Zustände der afrikanischen
Kolonien solchen Zwecken genügen, muß hier
dahingestellt bleiben; die dafür angesetzte
Stundenzahl erscheint freilich etwas zu gering.
Anders bei allen denjenigen Ländern, bei
denen eine Schriftsprache und eine Literatur,
überhaupt eine höhere geistige Kultur vor¬
handen ist. Eine zweistündige Vorlesung
über die Religion der Japaner, die einzige
derartige über die geistige Kultur Japans, die
am Seminar überhaupt gehalten wird, genügt
lange nicht, ebensowenig wie eine zweistündige
Vorlesung über die Geographie Chinas. Wie
wichtig wäre eine Einführung etwa in die
Kunst Japans oder in die Philosophie der
Chinesen. Unsere Gymnasien sind auf der

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Voraussetzung aufgebaut, daß das Studium
der Schriftsteller am besten und gründlichsten
in den Geist eines fremden Volkes einführt,
und diese Voraussetzung hat sich nach allge¬
meiner Anschauung durchaus bewährt. Warum
macht in eineni Lande, das aus seinen klassi¬
schen Schulunterricht stolz ist, das Orienta¬
lische Seminar von dieser Voraussetzung gar
keinen Gebrauch? Warum gibt es hier keine
Vorlesungen über persische, arabische oder
chinesische Philosophen oder andere Schrift¬
steller? Die wissenschaftlichen Lehrkräfte, die
die einschlägigen Fächer vertreten, sind für
derartige Vorlesungen selbstverständlich be¬
fähigt, und gewiß wären sie much dazu ge¬
neigt, schon allein um im Einerlei deS schul¬
mäßigen sprachlichen Unterrichts eine Abwechse¬
lung zu haben und sich zeitweilig etwas über
sein Niveau erheben zu können. Daneben wäre
es wichtig, auch den sprachlichen Unterricht
nach der wissenschaftlichen Seite weiter aus¬
zubauen, als es bei der verhältnismäßig ge¬
ringen Anzahl von Lehrkräften und ihrer fast
ausschließlichen Inanspruchnahme durch Prak¬
tische Zwecke gegenwärtig möglich ist. Erst
dadurch würde dieser Unterricht auf die Höhe
der Hochschule gehoben werden. Durch einen
derartigen Ausbau würde das Seminar nicht
nur eine Menge neuer Besucher gewinnen,
sondern auch manche der jetzt vorhandenen
Würden die gebotene Gelegenheit benutzen,
würden dadurch Anregungen und eine ver¬
tiefte Bildung erfahren, die ihrer späteren
Berufstätigkeit und damit dem Deutschen
Reiche selber zugute kämen. Auch Populäre
Vorlesungen und vielleicht auch Einzelvorträge
über die Kulturen der fremden Länder würden
in Frage kommen: in den letzten beiden
Wintern sind öffentliche Einzelvorträge dieser
Art von einer Anzahl der Lehrer unentgeltlich
veranstaltet worden. Der rege Besuch und
der Beifall, den sie gefunden haben, weist
schon auf die Bedeutung hin, die ein der¬
artiger Unterricht bei systematischer Pflege ge¬
winnen könnte: er würde in weiten Kreisen
das Interesse und Verständnis für das Aus¬
land steigern -- ein Vorgang, der bei unserer
regen Teilnahme um der Weltwirtschaft und
am Kolvnialleben nur erwünscht sein könnte.
Allein war es ein Zufall, daß die eben er¬
wähnten Vorträge nicht in einem Auditorium

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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hier sehr wertvolle Belehrungen und An¬
regungen finden können. Gegenwärtig ist,
wie gesagt, der Zweck des Unterrichts fast
ausschließlich das Beibringen gewisser Prak¬
tischer sprachlicher Fertigkeiten. Es hat aber
much einen großen Wert, die inneren Zustände
fremder Länder, ihr geistiges Leben und ihre
geistige Kultur kennen zu lernen, nicht selten
sogar einen großen praktischen Wert. Ein
solches Wissen flößt uns eine höhere Achtung
bor dem fremden Volke ein, es ermöglicht
uns eine bessere Würdigung seiner Interessen
und Bedürfnisse und erleichtert den Umgang
mit den einzelnen Angehörigen desselben.
Wie wichtig ein solches inneres Verständnis
für alle diejenigen ist, die in fremden Ländern
irgendwie zu gebieten oder zu bestimmen
haben, Wie wichtig auch für den Diplomaten,
der über ihre Zustände berichtet, wie vorteil¬
haft für den Kaufmann, der dort festen Boden
gewinnen und sich eine Stellung verschaffen
soll, das bedarf kaum der ausdrücklichen Ver¬
sicherung. Wie erfreulich und gewinnbringend
kann es sein, wenn der europäische Beamte
oder .Kaufmann dem gebildeten Japaner oder
Chinesen gegenüber sich ebenfalls als ein
„gebildeter" Mann ausweisen kann, der nicht
nur Briefe und Zeitungen in der fremden
Sprache zu lesen und zu schreiben versteht,
sondern auch über ihre Literatur Bescheid
weiß. Und wenigstens einen Teil der Härten
der Eingeborenenpolitik kann der vermeiden,
der die Eingeborenen wirklich versteht und
verstehen will. Wieweit nun die im Orien¬
talischen Seminar abgehaltenen Vorlesungen
über die kulturellen Zustände der afrikanischen
Kolonien solchen Zwecken genügen, muß hier
dahingestellt bleiben; die dafür angesetzte
Stundenzahl erscheint freilich etwas zu gering.
Anders bei allen denjenigen Ländern, bei
denen eine Schriftsprache und eine Literatur,
überhaupt eine höhere geistige Kultur vor¬
handen ist. Eine zweistündige Vorlesung
über die Religion der Japaner, die einzige
derartige über die geistige Kultur Japans, die
am Seminar überhaupt gehalten wird, genügt
lange nicht, ebensowenig wie eine zweistündige
Vorlesung über die Geographie Chinas. Wie
wichtig wäre eine Einführung etwa in die
Kunst Japans oder in die Philosophie der
Chinesen. Unsere Gymnasien sind auf der

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Voraussetzung aufgebaut, daß das Studium
der Schriftsteller am besten und gründlichsten
in den Geist eines fremden Volkes einführt,
und diese Voraussetzung hat sich nach allge¬
meiner Anschauung durchaus bewährt. Warum
macht in eineni Lande, das aus seinen klassi¬
schen Schulunterricht stolz ist, das Orienta¬
lische Seminar von dieser Voraussetzung gar
keinen Gebrauch? Warum gibt es hier keine
Vorlesungen über persische, arabische oder
chinesische Philosophen oder andere Schrift¬
steller? Die wissenschaftlichen Lehrkräfte, die
die einschlägigen Fächer vertreten, sind für
derartige Vorlesungen selbstverständlich be¬
fähigt, und gewiß wären sie much dazu ge¬
neigt, schon allein um im Einerlei deS schul¬
mäßigen sprachlichen Unterrichts eine Abwechse¬
lung zu haben und sich zeitweilig etwas über
sein Niveau erheben zu können. Daneben wäre
es wichtig, auch den sprachlichen Unterricht
nach der wissenschaftlichen Seite weiter aus¬
zubauen, als es bei der verhältnismäßig ge¬
ringen Anzahl von Lehrkräften und ihrer fast
ausschließlichen Inanspruchnahme durch Prak¬
tische Zwecke gegenwärtig möglich ist. Erst
dadurch würde dieser Unterricht auf die Höhe
der Hochschule gehoben werden. Durch einen
derartigen Ausbau würde das Seminar nicht
nur eine Menge neuer Besucher gewinnen,
sondern auch manche der jetzt vorhandenen
Würden die gebotene Gelegenheit benutzen,
würden dadurch Anregungen und eine ver¬
tiefte Bildung erfahren, die ihrer späteren
Berufstätigkeit und damit dem Deutschen
Reiche selber zugute kämen. Auch Populäre
Vorlesungen und vielleicht auch Einzelvorträge
über die Kulturen der fremden Länder würden
in Frage kommen: in den letzten beiden
Wintern sind öffentliche Einzelvorträge dieser
Art von einer Anzahl der Lehrer unentgeltlich
veranstaltet worden. Der rege Besuch und
der Beifall, den sie gefunden haben, weist
schon auf die Bedeutung hin, die ein der¬
artiger Unterricht bei systematischer Pflege ge¬
winnen könnte: er würde in weiten Kreisen
das Interesse und Verständnis für das Aus¬
land steigern — ein Vorgang, der bei unserer
regen Teilnahme um der Weltwirtschaft und
am Kolvnialleben nur erwünscht sein könnte.
Allein war es ein Zufall, daß die eben er¬
wähnten Vorträge nicht in einem Auditorium

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[0395] Maßgebliches und Unmaßgebliches hier sehr wertvolle Belehrungen und An¬ regungen finden können. Gegenwärtig ist, wie gesagt, der Zweck des Unterrichts fast ausschließlich das Beibringen gewisser Prak¬ tischer sprachlicher Fertigkeiten. Es hat aber much einen großen Wert, die inneren Zustände fremder Länder, ihr geistiges Leben und ihre geistige Kultur kennen zu lernen, nicht selten sogar einen großen praktischen Wert. Ein solches Wissen flößt uns eine höhere Achtung bor dem fremden Volke ein, es ermöglicht uns eine bessere Würdigung seiner Interessen und Bedürfnisse und erleichtert den Umgang mit den einzelnen Angehörigen desselben. Wie wichtig ein solches inneres Verständnis für alle diejenigen ist, die in fremden Ländern irgendwie zu gebieten oder zu bestimmen haben, Wie wichtig auch für den Diplomaten, der über ihre Zustände berichtet, wie vorteil¬ haft für den Kaufmann, der dort festen Boden gewinnen und sich eine Stellung verschaffen soll, das bedarf kaum der ausdrücklichen Ver¬ sicherung. Wie erfreulich und gewinnbringend kann es sein, wenn der europäische Beamte oder .Kaufmann dem gebildeten Japaner oder Chinesen gegenüber sich ebenfalls als ein „gebildeter" Mann ausweisen kann, der nicht nur Briefe und Zeitungen in der fremden Sprache zu lesen und zu schreiben versteht, sondern auch über ihre Literatur Bescheid weiß. Und wenigstens einen Teil der Härten der Eingeborenenpolitik kann der vermeiden, der die Eingeborenen wirklich versteht und verstehen will. Wieweit nun die im Orien¬ talischen Seminar abgehaltenen Vorlesungen über die kulturellen Zustände der afrikanischen Kolonien solchen Zwecken genügen, muß hier dahingestellt bleiben; die dafür angesetzte Stundenzahl erscheint freilich etwas zu gering. Anders bei allen denjenigen Ländern, bei denen eine Schriftsprache und eine Literatur, überhaupt eine höhere geistige Kultur vor¬ handen ist. Eine zweistündige Vorlesung über die Religion der Japaner, die einzige derartige über die geistige Kultur Japans, die am Seminar überhaupt gehalten wird, genügt lange nicht, ebensowenig wie eine zweistündige Vorlesung über die Geographie Chinas. Wie wichtig wäre eine Einführung etwa in die Kunst Japans oder in die Philosophie der Chinesen. Unsere Gymnasien sind auf der Voraussetzung aufgebaut, daß das Studium der Schriftsteller am besten und gründlichsten in den Geist eines fremden Volkes einführt, und diese Voraussetzung hat sich nach allge¬ meiner Anschauung durchaus bewährt. Warum macht in eineni Lande, das aus seinen klassi¬ schen Schulunterricht stolz ist, das Orienta¬ lische Seminar von dieser Voraussetzung gar keinen Gebrauch? Warum gibt es hier keine Vorlesungen über persische, arabische oder chinesische Philosophen oder andere Schrift¬ steller? Die wissenschaftlichen Lehrkräfte, die die einschlägigen Fächer vertreten, sind für derartige Vorlesungen selbstverständlich be¬ fähigt, und gewiß wären sie much dazu ge¬ neigt, schon allein um im Einerlei deS schul¬ mäßigen sprachlichen Unterrichts eine Abwechse¬ lung zu haben und sich zeitweilig etwas über sein Niveau erheben zu können. Daneben wäre es wichtig, auch den sprachlichen Unterricht nach der wissenschaftlichen Seite weiter aus¬ zubauen, als es bei der verhältnismäßig ge¬ ringen Anzahl von Lehrkräften und ihrer fast ausschließlichen Inanspruchnahme durch Prak¬ tische Zwecke gegenwärtig möglich ist. Erst dadurch würde dieser Unterricht auf die Höhe der Hochschule gehoben werden. Durch einen derartigen Ausbau würde das Seminar nicht nur eine Menge neuer Besucher gewinnen, sondern auch manche der jetzt vorhandenen Würden die gebotene Gelegenheit benutzen, würden dadurch Anregungen und eine ver¬ tiefte Bildung erfahren, die ihrer späteren Berufstätigkeit und damit dem Deutschen Reiche selber zugute kämen. Auch Populäre Vorlesungen und vielleicht auch Einzelvorträge über die Kulturen der fremden Länder würden in Frage kommen: in den letzten beiden Wintern sind öffentliche Einzelvorträge dieser Art von einer Anzahl der Lehrer unentgeltlich veranstaltet worden. Der rege Besuch und der Beifall, den sie gefunden haben, weist schon auf die Bedeutung hin, die ein der¬ artiger Unterricht bei systematischer Pflege ge¬ winnen könnte: er würde in weiten Kreisen das Interesse und Verständnis für das Aus¬ land steigern — ein Vorgang, der bei unserer regen Teilnahme um der Weltwirtschaft und am Kolvnialleben nur erwünscht sein könnte. Allein war es ein Zufall, daß die eben er¬ wähnten Vorträge nicht in einem Auditorium

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/395>, abgerufen am 21.12.2024.