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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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des Seminars oder der Universität, sondern
in einem gemieteten Raume abgehalten
wurden?

Mit der Steigerung des wissenschaftlichen
Charakters des Orientalischen Seminars müßte
eine Umgestaltung seiner Verfassung Hand in
Hand gehen. Auch in dieser Beziehung besteht
gegenwärtig ein unerfreulicher Zwitterzustand.
Freilich kann man hier nicht von einer Zwi¬
schenstellung zwischen Hochschule und Mittel¬
schule reden, vielmehr steht das Seminar in
dieser Beziehung noch unter der Mittelschule.
Nach ihrer wissenschaftlichen Qualifikation stehen
die hauptamtlichen Lehrer des Seminars (von
den Lektoren ist hier nicht die Rede) nicht auf
der Stufe der Gymnasiallehrer, sondern auf
derjenigen der Universitätslehrer: sie sind Ge¬
lehrte, die in ihrem Fache wissenschaftlich tätig
sind. Diese Tatsache findet sogar einen offi¬
ziellen Ausdruck darin, daß das Seminar
eine besondere Zeitschrift herausgibt, in der
streng wissenschaftliche Arbeiten seiner Mit¬
glieder veröffentlicht werden. Zunächst aber
ist im Verhältnis dazu die Unterrichtslast
Wenigstens für einige Lehrer zu groß. Das
Vorlesungsverzeichnis des verflossenen Winters
weist für einen Lehrer siebzehn Stunden, für
einen anderen mindestens sechzehnundeinhalb
Stunden auf. Das entspricht nahezu der
Stundenzahl eines Oberlehrers und läßt zu
wenig Muße für wissenschaftliche Arbeit. Vor
allem aber müßten Männern, von denen
wissenschaftliche Arbeit erwartet wird, andere
Rechte bei der Festsetzung des Unterrichts und
überhaupt der Verwaltung des Seminars
eingeräumt sein. In dein amtlichen Vor¬
lesungsverzeichnis ist mehrfach von etwaigen
Anordnungen und Regelungen des Unterrichts
durch die "Seminardirektion" (z, B. der Um-
setzung weiterer besonderer Kurse im Bedarfs¬
falle) die Rede; gemeint ist damit lediglich
der Direktor des Seminars. Der einzelne
Professor (amtlich heißt er überhaupt nicht so,
er ist bestenfalls Titularprofessor) hat nicht
das Recht, wie seine Kollegen an der Uni¬
versität, seine Vorlesungen selbst zu bestim¬
men. Es ist auch nicht so wie bei den tech¬
nischen Hochschulen, bei denen bekanntlich in
den einzelnen Abteilungen die entsprechenden
Teilkörper des Kollegiums gemeinschaftlich
einen festen Lehrplan aufstellen, der den vor¬

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liegenden Praktischen Bedürfnissen in erforder¬
licher Weise Rechnung trägt. Es gibt hier
überhaupt kein Kollegium, nicht einmal in
dem Sinne, in dem ein solches an den Mittel¬
schulen dem Direktor mit gutachtlicher und
beratender Stimme zur Seite steht. So fehlt
den Professoren auch die Möglichkeit, zu der
jetzt aufgeworfenen Frage der Reform ihrer
Anstalt als eine Körperschaft Stellung zu
nehmen und sich begutachtend oder mit Vor¬
schlägen darüber zu äußern. Ungünstiger als
die Oberlehrer und die meisten anderen Be¬
amten sind sie auch darin gestellt, daß ihnen
Titel und Gehalt lediglich nach Ermessen,
wobei natürlich der vorgesetzte Direktor das
Recht des Berichtes und des Vorschlages hat,
nicht nach einer festen Ordnung gewährt wird.
Faßt man alles zusammen, so ist es gewiß
keine Übertreibung zu sagen: die Stellung
der wissenschaftlichen Lehrer des Orientalischen
Seminars hat, verglichen mit ihrer wissen¬
schaftlichen Qualifikation, etwas Gedrucktes.

Und jedenfalls haben, um es zu wieder¬
holen, die ganzen Zustände einen Zwitter¬
charakter: sie sind weder diejenigen der Hoch¬
schule noch diejenigen der Mittelschule. Auf
alle Fälle wäre es erwünscht, dieser Halbheit
ein Ende zu machen und entweder zu einer
reinen Mittelschule oder zu einer reinen Hoch¬
schule überzugehen. Die Dinge drängen auch
selbst zu einer Entwicklung nach der einen
oder anderen Seite hin. Denn auf die Dauer
wird man verdienstvolle Gelehrte für der¬
artige "Lehrstühle" kaum noch gewinnen
können. Diejenigen, die aus Unkenntnis der
Dinge oder aus wirtschaftlichen Gründen die
Stelle annehmen, werden sie bei der nächsten
Gelegenheit wieder aufgeben. Es muß ent¬
weder heißen aufwärts oder abwärts. Der
Weg nach unten ist in einem Staate, der
selbst in der Zeit der tiefsten Erniedrigung
eine neue Universität zu gründen vermochte,
in dem heutigen Zeitalter gewaltig aufsteigen¬
den Lebens wohl in jedermanns Augen von
vornherein ausgeschlossen. Es bleibt nur der
entgegengesetzte Weg übrig: folgerichtiger
Ausbau einer Hochschule. Und diese Hoch¬
schule würde freilich einen ganz eigenen
Charakter besitzen. Sie würde -- und darin
würde ihr besonderer Wert liegen -- eine
Gattung für sich bedeuten. Sie würde fest-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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des Seminars oder der Universität, sondern
in einem gemieteten Raume abgehalten
wurden?

Mit der Steigerung des wissenschaftlichen
Charakters des Orientalischen Seminars müßte
eine Umgestaltung seiner Verfassung Hand in
Hand gehen. Auch in dieser Beziehung besteht
gegenwärtig ein unerfreulicher Zwitterzustand.
Freilich kann man hier nicht von einer Zwi¬
schenstellung zwischen Hochschule und Mittel¬
schule reden, vielmehr steht das Seminar in
dieser Beziehung noch unter der Mittelschule.
Nach ihrer wissenschaftlichen Qualifikation stehen
die hauptamtlichen Lehrer des Seminars (von
den Lektoren ist hier nicht die Rede) nicht auf
der Stufe der Gymnasiallehrer, sondern auf
derjenigen der Universitätslehrer: sie sind Ge¬
lehrte, die in ihrem Fache wissenschaftlich tätig
sind. Diese Tatsache findet sogar einen offi¬
ziellen Ausdruck darin, daß das Seminar
eine besondere Zeitschrift herausgibt, in der
streng wissenschaftliche Arbeiten seiner Mit¬
glieder veröffentlicht werden. Zunächst aber
ist im Verhältnis dazu die Unterrichtslast
Wenigstens für einige Lehrer zu groß. Das
Vorlesungsverzeichnis des verflossenen Winters
weist für einen Lehrer siebzehn Stunden, für
einen anderen mindestens sechzehnundeinhalb
Stunden auf. Das entspricht nahezu der
Stundenzahl eines Oberlehrers und läßt zu
wenig Muße für wissenschaftliche Arbeit. Vor
allem aber müßten Männern, von denen
wissenschaftliche Arbeit erwartet wird, andere
Rechte bei der Festsetzung des Unterrichts und
überhaupt der Verwaltung des Seminars
eingeräumt sein. In dein amtlichen Vor¬
lesungsverzeichnis ist mehrfach von etwaigen
Anordnungen und Regelungen des Unterrichts
durch die „Seminardirektion" (z, B. der Um-
setzung weiterer besonderer Kurse im Bedarfs¬
falle) die Rede; gemeint ist damit lediglich
der Direktor des Seminars. Der einzelne
Professor (amtlich heißt er überhaupt nicht so,
er ist bestenfalls Titularprofessor) hat nicht
das Recht, wie seine Kollegen an der Uni¬
versität, seine Vorlesungen selbst zu bestim¬
men. Es ist auch nicht so wie bei den tech¬
nischen Hochschulen, bei denen bekanntlich in
den einzelnen Abteilungen die entsprechenden
Teilkörper des Kollegiums gemeinschaftlich
einen festen Lehrplan aufstellen, der den vor¬

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liegenden Praktischen Bedürfnissen in erforder¬
licher Weise Rechnung trägt. Es gibt hier
überhaupt kein Kollegium, nicht einmal in
dem Sinne, in dem ein solches an den Mittel¬
schulen dem Direktor mit gutachtlicher und
beratender Stimme zur Seite steht. So fehlt
den Professoren auch die Möglichkeit, zu der
jetzt aufgeworfenen Frage der Reform ihrer
Anstalt als eine Körperschaft Stellung zu
nehmen und sich begutachtend oder mit Vor¬
schlägen darüber zu äußern. Ungünstiger als
die Oberlehrer und die meisten anderen Be¬
amten sind sie auch darin gestellt, daß ihnen
Titel und Gehalt lediglich nach Ermessen,
wobei natürlich der vorgesetzte Direktor das
Recht des Berichtes und des Vorschlages hat,
nicht nach einer festen Ordnung gewährt wird.
Faßt man alles zusammen, so ist es gewiß
keine Übertreibung zu sagen: die Stellung
der wissenschaftlichen Lehrer des Orientalischen
Seminars hat, verglichen mit ihrer wissen¬
schaftlichen Qualifikation, etwas Gedrucktes.

Und jedenfalls haben, um es zu wieder¬
holen, die ganzen Zustände einen Zwitter¬
charakter: sie sind weder diejenigen der Hoch¬
schule noch diejenigen der Mittelschule. Auf
alle Fälle wäre es erwünscht, dieser Halbheit
ein Ende zu machen und entweder zu einer
reinen Mittelschule oder zu einer reinen Hoch¬
schule überzugehen. Die Dinge drängen auch
selbst zu einer Entwicklung nach der einen
oder anderen Seite hin. Denn auf die Dauer
wird man verdienstvolle Gelehrte für der¬
artige „Lehrstühle" kaum noch gewinnen
können. Diejenigen, die aus Unkenntnis der
Dinge oder aus wirtschaftlichen Gründen die
Stelle annehmen, werden sie bei der nächsten
Gelegenheit wieder aufgeben. Es muß ent¬
weder heißen aufwärts oder abwärts. Der
Weg nach unten ist in einem Staate, der
selbst in der Zeit der tiefsten Erniedrigung
eine neue Universität zu gründen vermochte,
in dem heutigen Zeitalter gewaltig aufsteigen¬
den Lebens wohl in jedermanns Augen von
vornherein ausgeschlossen. Es bleibt nur der
entgegengesetzte Weg übrig: folgerichtiger
Ausbau einer Hochschule. Und diese Hoch¬
schule würde freilich einen ganz eigenen
Charakter besitzen. Sie würde — und darin
würde ihr besonderer Wert liegen — eine
Gattung für sich bedeuten. Sie würde fest-

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[0396] Maßgebliches und Unmaßgebliches des Seminars oder der Universität, sondern in einem gemieteten Raume abgehalten wurden? Mit der Steigerung des wissenschaftlichen Charakters des Orientalischen Seminars müßte eine Umgestaltung seiner Verfassung Hand in Hand gehen. Auch in dieser Beziehung besteht gegenwärtig ein unerfreulicher Zwitterzustand. Freilich kann man hier nicht von einer Zwi¬ schenstellung zwischen Hochschule und Mittel¬ schule reden, vielmehr steht das Seminar in dieser Beziehung noch unter der Mittelschule. Nach ihrer wissenschaftlichen Qualifikation stehen die hauptamtlichen Lehrer des Seminars (von den Lektoren ist hier nicht die Rede) nicht auf der Stufe der Gymnasiallehrer, sondern auf derjenigen der Universitätslehrer: sie sind Ge¬ lehrte, die in ihrem Fache wissenschaftlich tätig sind. Diese Tatsache findet sogar einen offi¬ ziellen Ausdruck darin, daß das Seminar eine besondere Zeitschrift herausgibt, in der streng wissenschaftliche Arbeiten seiner Mit¬ glieder veröffentlicht werden. Zunächst aber ist im Verhältnis dazu die Unterrichtslast Wenigstens für einige Lehrer zu groß. Das Vorlesungsverzeichnis des verflossenen Winters weist für einen Lehrer siebzehn Stunden, für einen anderen mindestens sechzehnundeinhalb Stunden auf. Das entspricht nahezu der Stundenzahl eines Oberlehrers und läßt zu wenig Muße für wissenschaftliche Arbeit. Vor allem aber müßten Männern, von denen wissenschaftliche Arbeit erwartet wird, andere Rechte bei der Festsetzung des Unterrichts und überhaupt der Verwaltung des Seminars eingeräumt sein. In dein amtlichen Vor¬ lesungsverzeichnis ist mehrfach von etwaigen Anordnungen und Regelungen des Unterrichts durch die „Seminardirektion" (z, B. der Um- setzung weiterer besonderer Kurse im Bedarfs¬ falle) die Rede; gemeint ist damit lediglich der Direktor des Seminars. Der einzelne Professor (amtlich heißt er überhaupt nicht so, er ist bestenfalls Titularprofessor) hat nicht das Recht, wie seine Kollegen an der Uni¬ versität, seine Vorlesungen selbst zu bestim¬ men. Es ist auch nicht so wie bei den tech¬ nischen Hochschulen, bei denen bekanntlich in den einzelnen Abteilungen die entsprechenden Teilkörper des Kollegiums gemeinschaftlich einen festen Lehrplan aufstellen, der den vor¬ liegenden Praktischen Bedürfnissen in erforder¬ licher Weise Rechnung trägt. Es gibt hier überhaupt kein Kollegium, nicht einmal in dem Sinne, in dem ein solches an den Mittel¬ schulen dem Direktor mit gutachtlicher und beratender Stimme zur Seite steht. So fehlt den Professoren auch die Möglichkeit, zu der jetzt aufgeworfenen Frage der Reform ihrer Anstalt als eine Körperschaft Stellung zu nehmen und sich begutachtend oder mit Vor¬ schlägen darüber zu äußern. Ungünstiger als die Oberlehrer und die meisten anderen Be¬ amten sind sie auch darin gestellt, daß ihnen Titel und Gehalt lediglich nach Ermessen, wobei natürlich der vorgesetzte Direktor das Recht des Berichtes und des Vorschlages hat, nicht nach einer festen Ordnung gewährt wird. Faßt man alles zusammen, so ist es gewiß keine Übertreibung zu sagen: die Stellung der wissenschaftlichen Lehrer des Orientalischen Seminars hat, verglichen mit ihrer wissen¬ schaftlichen Qualifikation, etwas Gedrucktes. Und jedenfalls haben, um es zu wieder¬ holen, die ganzen Zustände einen Zwitter¬ charakter: sie sind weder diejenigen der Hoch¬ schule noch diejenigen der Mittelschule. Auf alle Fälle wäre es erwünscht, dieser Halbheit ein Ende zu machen und entweder zu einer reinen Mittelschule oder zu einer reinen Hoch¬ schule überzugehen. Die Dinge drängen auch selbst zu einer Entwicklung nach der einen oder anderen Seite hin. Denn auf die Dauer wird man verdienstvolle Gelehrte für der¬ artige „Lehrstühle" kaum noch gewinnen können. Diejenigen, die aus Unkenntnis der Dinge oder aus wirtschaftlichen Gründen die Stelle annehmen, werden sie bei der nächsten Gelegenheit wieder aufgeben. Es muß ent¬ weder heißen aufwärts oder abwärts. Der Weg nach unten ist in einem Staate, der selbst in der Zeit der tiefsten Erniedrigung eine neue Universität zu gründen vermochte, in dem heutigen Zeitalter gewaltig aufsteigen¬ den Lebens wohl in jedermanns Augen von vornherein ausgeschlossen. Es bleibt nur der entgegengesetzte Weg übrig: folgerichtiger Ausbau einer Hochschule. Und diese Hoch¬ schule würde freilich einen ganz eigenen Charakter besitzen. Sie würde — und darin würde ihr besonderer Wert liegen — eine Gattung für sich bedeuten. Sie würde fest-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/396>, abgerufen am 27.07.2024.