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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Schulen

denk sittlichen Geist, der in einem Staat oder Volk als Substanz lebt und
gegenwärtig ist. Hat doch auch ein Historiker wie Schäfer in seiner Deutschen
Geschichte den Nachweis geführt, "wie trotz der unvermeidlichen letzten Ent¬
scheidung durch die Waffen die deutsche Einheit Ergebnis geistiger Strömungen
war" (Deutsche Geschichte II, 417). So wird auch der Hauptnachdruck bei Ver¬
mittlung von Lileraturwerken nicht wie bisher zu einseitig aus die ästhetische
Bedeutung gelegt werden dürfen, sondern nach dem Beispiel bedeutsam voran¬
gehender Führer auf den Nachweis, daß diese Kunstgebilde Gestaltungen von
Weltanschauungen sind.

In hervorragendem Maße werden die realen Lehranstalten, ohne daß die
humanistischen ganz davon ausgeschlossen wären, bemüht sein müssen, auch in
der gesamten durch die Naturwissenschaften vermittelten "Wirklichkeit" die Offen¬
barung von Ideen nachzuweisen, hier besonders nach dem Vorgange Goethes.
Gerade im Hinblick auf die Naturforschung sagte Goethe einst: "Abneigung
gegen die Philosophie" bewirke, daß, "ehe man sich's versieht, der Weg
zur Philisterei betreten ist" und daß "alle, die ausschließlich die Erfahrung
anpreisen, nicht bedenken, daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist."
Hat doch gerade auch die ausschließlich unter dem mechanistischen Gesichtspunkt
betriebene Naturforschung die Bildung einer anderen als materialistischen Welt¬
anschauung ganz außerordentlich erschwert und den verhängnisvollen Wahn auf¬
kommen lassen, daß die Welträtsel spielend leicht und daß sie nur richtig mit ihren
Methoden zu lösen seien. Die wohlverstandene "ideenmäßige" Betrachtung der
Natur, die dem exakten, physikalischen Verfahren innerhalb seines Bereichs sein
volles Recht unangetastet beläßt, ermöglicht aber auch andere als materialistische
Weltanschauungen.

Deutschem Wesen ist, soweit wir unsere gesamten nationalen, weltbedeutenden
Kulturleistungen in Anschlag bringen, diejenige Richtung der Weltanschauung
immer hauptsächlich gemäß gewesen, die wir als "praktischen Idealismus" zu
bezeichnen pflegen: die zwei Hauptzüge unseres nationalen Wesens, die tiefe
Innerlichkeit und der starke Wirklichkeitssinn, kommen eben dabei gleichmäßig
zur Geltung. Der Engländer Carlyle war es, der im Hinblick auf diese Haupt¬
richtung deutscher Weltanschauung das Wort prägte, daß das einzig Reale der
Gedanke sei, denn er ist der Vater der Tat. Anleitung also, gerade auf diese
Weise den Stoff der Weltkenntnis zu künftiger Weltanschauung zu gestalten,
wird eine Hauptangelegenheit unserer höheren Schulen bilden müssen: sie bekämen
dadurch auch wieder eine besonders tragfähige einheitliche Grundlage.




Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Schulen

denk sittlichen Geist, der in einem Staat oder Volk als Substanz lebt und
gegenwärtig ist. Hat doch auch ein Historiker wie Schäfer in seiner Deutschen
Geschichte den Nachweis geführt, „wie trotz der unvermeidlichen letzten Ent¬
scheidung durch die Waffen die deutsche Einheit Ergebnis geistiger Strömungen
war" (Deutsche Geschichte II, 417). So wird auch der Hauptnachdruck bei Ver¬
mittlung von Lileraturwerken nicht wie bisher zu einseitig aus die ästhetische
Bedeutung gelegt werden dürfen, sondern nach dem Beispiel bedeutsam voran¬
gehender Führer auf den Nachweis, daß diese Kunstgebilde Gestaltungen von
Weltanschauungen sind.

In hervorragendem Maße werden die realen Lehranstalten, ohne daß die
humanistischen ganz davon ausgeschlossen wären, bemüht sein müssen, auch in
der gesamten durch die Naturwissenschaften vermittelten „Wirklichkeit" die Offen¬
barung von Ideen nachzuweisen, hier besonders nach dem Vorgange Goethes.
Gerade im Hinblick auf die Naturforschung sagte Goethe einst: „Abneigung
gegen die Philosophie" bewirke, daß, „ehe man sich's versieht, der Weg
zur Philisterei betreten ist" und daß „alle, die ausschließlich die Erfahrung
anpreisen, nicht bedenken, daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist."
Hat doch gerade auch die ausschließlich unter dem mechanistischen Gesichtspunkt
betriebene Naturforschung die Bildung einer anderen als materialistischen Welt¬
anschauung ganz außerordentlich erschwert und den verhängnisvollen Wahn auf¬
kommen lassen, daß die Welträtsel spielend leicht und daß sie nur richtig mit ihren
Methoden zu lösen seien. Die wohlverstandene „ideenmäßige" Betrachtung der
Natur, die dem exakten, physikalischen Verfahren innerhalb seines Bereichs sein
volles Recht unangetastet beläßt, ermöglicht aber auch andere als materialistische
Weltanschauungen.

Deutschem Wesen ist, soweit wir unsere gesamten nationalen, weltbedeutenden
Kulturleistungen in Anschlag bringen, diejenige Richtung der Weltanschauung
immer hauptsächlich gemäß gewesen, die wir als „praktischen Idealismus" zu
bezeichnen pflegen: die zwei Hauptzüge unseres nationalen Wesens, die tiefe
Innerlichkeit und der starke Wirklichkeitssinn, kommen eben dabei gleichmäßig
zur Geltung. Der Engländer Carlyle war es, der im Hinblick auf diese Haupt¬
richtung deutscher Weltanschauung das Wort prägte, daß das einzig Reale der
Gedanke sei, denn er ist der Vater der Tat. Anleitung also, gerade auf diese
Weise den Stoff der Weltkenntnis zu künftiger Weltanschauung zu gestalten,
wird eine Hauptangelegenheit unserer höheren Schulen bilden müssen: sie bekämen
dadurch auch wieder eine besonders tragfähige einheitliche Grundlage.




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[0380] Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Schulen denk sittlichen Geist, der in einem Staat oder Volk als Substanz lebt und gegenwärtig ist. Hat doch auch ein Historiker wie Schäfer in seiner Deutschen Geschichte den Nachweis geführt, „wie trotz der unvermeidlichen letzten Ent¬ scheidung durch die Waffen die deutsche Einheit Ergebnis geistiger Strömungen war" (Deutsche Geschichte II, 417). So wird auch der Hauptnachdruck bei Ver¬ mittlung von Lileraturwerken nicht wie bisher zu einseitig aus die ästhetische Bedeutung gelegt werden dürfen, sondern nach dem Beispiel bedeutsam voran¬ gehender Führer auf den Nachweis, daß diese Kunstgebilde Gestaltungen von Weltanschauungen sind. In hervorragendem Maße werden die realen Lehranstalten, ohne daß die humanistischen ganz davon ausgeschlossen wären, bemüht sein müssen, auch in der gesamten durch die Naturwissenschaften vermittelten „Wirklichkeit" die Offen¬ barung von Ideen nachzuweisen, hier besonders nach dem Vorgange Goethes. Gerade im Hinblick auf die Naturforschung sagte Goethe einst: „Abneigung gegen die Philosophie" bewirke, daß, „ehe man sich's versieht, der Weg zur Philisterei betreten ist" und daß „alle, die ausschließlich die Erfahrung anpreisen, nicht bedenken, daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist." Hat doch gerade auch die ausschließlich unter dem mechanistischen Gesichtspunkt betriebene Naturforschung die Bildung einer anderen als materialistischen Welt¬ anschauung ganz außerordentlich erschwert und den verhängnisvollen Wahn auf¬ kommen lassen, daß die Welträtsel spielend leicht und daß sie nur richtig mit ihren Methoden zu lösen seien. Die wohlverstandene „ideenmäßige" Betrachtung der Natur, die dem exakten, physikalischen Verfahren innerhalb seines Bereichs sein volles Recht unangetastet beläßt, ermöglicht aber auch andere als materialistische Weltanschauungen. Deutschem Wesen ist, soweit wir unsere gesamten nationalen, weltbedeutenden Kulturleistungen in Anschlag bringen, diejenige Richtung der Weltanschauung immer hauptsächlich gemäß gewesen, die wir als „praktischen Idealismus" zu bezeichnen pflegen: die zwei Hauptzüge unseres nationalen Wesens, die tiefe Innerlichkeit und der starke Wirklichkeitssinn, kommen eben dabei gleichmäßig zur Geltung. Der Engländer Carlyle war es, der im Hinblick auf diese Haupt¬ richtung deutscher Weltanschauung das Wort prägte, daß das einzig Reale der Gedanke sei, denn er ist der Vater der Tat. Anleitung also, gerade auf diese Weise den Stoff der Weltkenntnis zu künftiger Weltanschauung zu gestalten, wird eine Hauptangelegenheit unserer höheren Schulen bilden müssen: sie bekämen dadurch auch wieder eine besonders tragfähige einheitliche Grundlage.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/380>, abgerufen am 30.12.2024.