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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Lchulen

ist doch das Ganze der Welt, in dem wir enthalten sind, ebenso wie unser
eigenes Leben auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Notwendigkeit
zusammengesetzt -- wird z. B. die einsichtige Förderung der freiwilligen Gemein¬
schaften unter der heranwachsenden Jugend von großem Nutzen sein können,
da hier der freiwillige Gehorsam gegen das "Gesetz" ganz besonders geübt
werden kann. Ferner, wenn Weltanschauung im Gegensatz zu Weltkenntnis etwas
Allerpersönlichstes ist, da der Stoff der Weltkenntnis an alle gleichmäßig heran¬
gebracht wird, seine Umformung und Umbildung zu einer Gesamtanschauung aber
von dem "Daimon" und der "Psyche" eines jeden einzelnen Menschen abhängt,
wie sollte da nicht die rechtzeitige Beachtung der Keimzellen der künftigen Persönlich¬
keit und die verständige Pflege individueller Anlagen von Vorteil sein können?
Die Fähigkeit aber wieder, eine Gesamtanschauung auszubilden, muß notwendiger¬
weise durch die Pflege der Anschauung überhaupt unterstützt werden. Wer die
der Jugend so verderbliche schweifende Kraft der Phantasie zu meistern gelernt
hat, wird vorzüglich befähigt werden für das Zusammenschauen auch innerer
Erlebnisse und Erfahrungen. Mithin ist die Forderung, daß auch den sogenannten
technischen Fächern ein recht ernsthafter Anteil an der Gesamtbildung aus den
höheren Schulen zuteil werde, gerade im Interesse künftiger Weltanschauung
berechtigt. Ist doch auch Weltanschauung Gestaltung eines Stoffes aus der
Kenntnis von dessen innerstem Wesen heraus, eine Formgebung im höchsten Sinne.

Fragt man nun aber, welcher Art die Weltanschauung sein müßte, zu der
auf unseren höheren Schulen die Vorarbeit getan werden solle, so muß
zunächst einmal festgestellt werden, daß weder die allgemeine Geschlossenheit des
christlichen Mittelalters mehr möglich ist, weil unsere allgemeine Gebundenheit
hat aufhören müssen, noch diejenige Richtung, die den überwiegenden Teil der
höher Gebildeten im neunzehnten Jahrhundert beherrschte, so lange allein das
humanistische Gymnasium die höhere Schule war: also die durch das Dogma des
klassischen Altertums bestimmte. Vielmehr, wie die Kultur dieses klassischen
Altertums auf den heutigen Gymnasien allein unter dem kulturgeschichtlichen
Gesichtspunkte betrieben fruchtbar wirken kann, so gilt es überhaupt, alle Kultur
der Vergangenheit, die für Vermittlung von Kenntnissen in Frage kommt, von
diesem kulturgeschichtlichen Standpunkt aus zu würdigen.

Und das wird hier von dem wünschenswerten Erfolge begleitet sein, wenn
die in dieser geschichtlichen Wirklichkeit sich offenbarenden "Ideen" aufgezeigt
werden. Freilich muß dann mit dem reinen Historismus, der auch in der
höheren Schulbildung die verhängnisvollsten Folgen gehabt hat, noch viel offener
und bewußter gebrochen werden. In gewissen! Sinne soll also damit eine
Wiederaufnahme Hegelscher Art, die Vergangenheit zu betrachten, stattfinden,
das heißt: der Tatsachenstoff soll nicht bloß gezählt und gemessen, er soll gewertet
und gewogen werden. Vergessen wir es doch gerade jetzt, bei der Hundert¬
jahrfeier unserer großen nationalen Wiedergeburt, nicht, daß Hegel zuerst wieder
den Nachweis führte, daß es ein sittliches Handeln nur gibt im Einklang mit


Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Lchulen

ist doch das Ganze der Welt, in dem wir enthalten sind, ebenso wie unser
eigenes Leben auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Notwendigkeit
zusammengesetzt — wird z. B. die einsichtige Förderung der freiwilligen Gemein¬
schaften unter der heranwachsenden Jugend von großem Nutzen sein können,
da hier der freiwillige Gehorsam gegen das „Gesetz" ganz besonders geübt
werden kann. Ferner, wenn Weltanschauung im Gegensatz zu Weltkenntnis etwas
Allerpersönlichstes ist, da der Stoff der Weltkenntnis an alle gleichmäßig heran¬
gebracht wird, seine Umformung und Umbildung zu einer Gesamtanschauung aber
von dem „Daimon" und der „Psyche" eines jeden einzelnen Menschen abhängt,
wie sollte da nicht die rechtzeitige Beachtung der Keimzellen der künftigen Persönlich¬
keit und die verständige Pflege individueller Anlagen von Vorteil sein können?
Die Fähigkeit aber wieder, eine Gesamtanschauung auszubilden, muß notwendiger¬
weise durch die Pflege der Anschauung überhaupt unterstützt werden. Wer die
der Jugend so verderbliche schweifende Kraft der Phantasie zu meistern gelernt
hat, wird vorzüglich befähigt werden für das Zusammenschauen auch innerer
Erlebnisse und Erfahrungen. Mithin ist die Forderung, daß auch den sogenannten
technischen Fächern ein recht ernsthafter Anteil an der Gesamtbildung aus den
höheren Schulen zuteil werde, gerade im Interesse künftiger Weltanschauung
berechtigt. Ist doch auch Weltanschauung Gestaltung eines Stoffes aus der
Kenntnis von dessen innerstem Wesen heraus, eine Formgebung im höchsten Sinne.

Fragt man nun aber, welcher Art die Weltanschauung sein müßte, zu der
auf unseren höheren Schulen die Vorarbeit getan werden solle, so muß
zunächst einmal festgestellt werden, daß weder die allgemeine Geschlossenheit des
christlichen Mittelalters mehr möglich ist, weil unsere allgemeine Gebundenheit
hat aufhören müssen, noch diejenige Richtung, die den überwiegenden Teil der
höher Gebildeten im neunzehnten Jahrhundert beherrschte, so lange allein das
humanistische Gymnasium die höhere Schule war: also die durch das Dogma des
klassischen Altertums bestimmte. Vielmehr, wie die Kultur dieses klassischen
Altertums auf den heutigen Gymnasien allein unter dem kulturgeschichtlichen
Gesichtspunkte betrieben fruchtbar wirken kann, so gilt es überhaupt, alle Kultur
der Vergangenheit, die für Vermittlung von Kenntnissen in Frage kommt, von
diesem kulturgeschichtlichen Standpunkt aus zu würdigen.

Und das wird hier von dem wünschenswerten Erfolge begleitet sein, wenn
die in dieser geschichtlichen Wirklichkeit sich offenbarenden „Ideen" aufgezeigt
werden. Freilich muß dann mit dem reinen Historismus, der auch in der
höheren Schulbildung die verhängnisvollsten Folgen gehabt hat, noch viel offener
und bewußter gebrochen werden. In gewissen! Sinne soll also damit eine
Wiederaufnahme Hegelscher Art, die Vergangenheit zu betrachten, stattfinden,
das heißt: der Tatsachenstoff soll nicht bloß gezählt und gemessen, er soll gewertet
und gewogen werden. Vergessen wir es doch gerade jetzt, bei der Hundert¬
jahrfeier unserer großen nationalen Wiedergeburt, nicht, daß Hegel zuerst wieder
den Nachweis führte, daß es ein sittliches Handeln nur gibt im Einklang mit


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[0379] Weltkenntnis und Weltanschauung auf unseren höheren Lchulen ist doch das Ganze der Welt, in dem wir enthalten sind, ebenso wie unser eigenes Leben auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Notwendigkeit zusammengesetzt — wird z. B. die einsichtige Förderung der freiwilligen Gemein¬ schaften unter der heranwachsenden Jugend von großem Nutzen sein können, da hier der freiwillige Gehorsam gegen das „Gesetz" ganz besonders geübt werden kann. Ferner, wenn Weltanschauung im Gegensatz zu Weltkenntnis etwas Allerpersönlichstes ist, da der Stoff der Weltkenntnis an alle gleichmäßig heran¬ gebracht wird, seine Umformung und Umbildung zu einer Gesamtanschauung aber von dem „Daimon" und der „Psyche" eines jeden einzelnen Menschen abhängt, wie sollte da nicht die rechtzeitige Beachtung der Keimzellen der künftigen Persönlich¬ keit und die verständige Pflege individueller Anlagen von Vorteil sein können? Die Fähigkeit aber wieder, eine Gesamtanschauung auszubilden, muß notwendiger¬ weise durch die Pflege der Anschauung überhaupt unterstützt werden. Wer die der Jugend so verderbliche schweifende Kraft der Phantasie zu meistern gelernt hat, wird vorzüglich befähigt werden für das Zusammenschauen auch innerer Erlebnisse und Erfahrungen. Mithin ist die Forderung, daß auch den sogenannten technischen Fächern ein recht ernsthafter Anteil an der Gesamtbildung aus den höheren Schulen zuteil werde, gerade im Interesse künftiger Weltanschauung berechtigt. Ist doch auch Weltanschauung Gestaltung eines Stoffes aus der Kenntnis von dessen innerstem Wesen heraus, eine Formgebung im höchsten Sinne. Fragt man nun aber, welcher Art die Weltanschauung sein müßte, zu der auf unseren höheren Schulen die Vorarbeit getan werden solle, so muß zunächst einmal festgestellt werden, daß weder die allgemeine Geschlossenheit des christlichen Mittelalters mehr möglich ist, weil unsere allgemeine Gebundenheit hat aufhören müssen, noch diejenige Richtung, die den überwiegenden Teil der höher Gebildeten im neunzehnten Jahrhundert beherrschte, so lange allein das humanistische Gymnasium die höhere Schule war: also die durch das Dogma des klassischen Altertums bestimmte. Vielmehr, wie die Kultur dieses klassischen Altertums auf den heutigen Gymnasien allein unter dem kulturgeschichtlichen Gesichtspunkte betrieben fruchtbar wirken kann, so gilt es überhaupt, alle Kultur der Vergangenheit, die für Vermittlung von Kenntnissen in Frage kommt, von diesem kulturgeschichtlichen Standpunkt aus zu würdigen. Und das wird hier von dem wünschenswerten Erfolge begleitet sein, wenn die in dieser geschichtlichen Wirklichkeit sich offenbarenden „Ideen" aufgezeigt werden. Freilich muß dann mit dem reinen Historismus, der auch in der höheren Schulbildung die verhängnisvollsten Folgen gehabt hat, noch viel offener und bewußter gebrochen werden. In gewissen! Sinne soll also damit eine Wiederaufnahme Hegelscher Art, die Vergangenheit zu betrachten, stattfinden, das heißt: der Tatsachenstoff soll nicht bloß gezählt und gemessen, er soll gewertet und gewogen werden. Vergessen wir es doch gerade jetzt, bei der Hundert¬ jahrfeier unserer großen nationalen Wiedergeburt, nicht, daß Hegel zuerst wieder den Nachweis führte, daß es ein sittliches Handeln nur gibt im Einklang mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/379>, abgerufen am 27.07.2024.