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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Roman und Lpos

bedeutend, gleich wichtig, nicht an sich, durch sich selbst, sondern bloß durch
das Licht der Idee, das im Augenblick darauf ruht. Alles hat eben nur
sofern Bedeutung, sofern das Schicksal sich im gegebenen Augenblick an seiner
Nichtigkeit betätigt: Agamemnon oder Thersites. -- gleichviel. Es ergibt sich
im Epos keine Steigerung des Details wie im Roman, sondern eine ruhige
Horizontale. Man darf vielleicht sagen, daß die Wichtigkeit der Einzelheit im
Roman -- ihre Potenz -- mit der Quadratur ihrer Entfernung von der
gipfelnden Idee abnimmt. In der Ilias jedoch ist der Besuch des Priamos
bei Achilleus, obschon im letzten Gesang, doch um kein Haar gewichtiger als
Hektor und Andromache oder als Agamenmons Zank mit Achill, -- weil die
Idee im Epos eben nirgends gipfelt, sie ist außerhalb, weil sie antizipiert
ist und jeder Zeile gleich nah und fern bleibt. Daher muß die Einzelheit im
Roman bedeutend, sich steigernd und in seiner Verkettung mit der Idee not¬
wendig sein. Im Epos ist sie von holdester Überflüssigkeit, aber funkelnd im
strahlenden Lichte der Idee. Keine Einzelheit ist wie beim Roman Inhalt der
Ilias, denn ihr Inhalt und Gehalt ist ja nur Eines: die eherne Unabänderlich¬
keit des waltenden Schicksals. Deshalb durchschauert eine gleichgültige Begeben¬
heit seit Jahrtausenden die Menschheit, wenn dies Innerste ausgesprochen wird:


(16, 448.)
"Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt."

Im Roman baut Detail für Detail die Höhe bis zur Idee hinauf,
die Funktion der Einzelheit ist eine tragende; in der Ilias erduldet jede
Begebenheit das Licht der Idee, das auf sie fällt, ihre Funktion ist eine
ertragende.

2. Die Erinnerungsferne des Romans ist an die Grenze unserer Erfahrung
über die Kategorien menschlicher Anschauung: Raum, Zeit, Kausalität, gebunden.
Die Erinnerungsferne des Epos ist von dieser Schranke frei. Hieraus folgt
ein grundsätzlicher Gegensatz in der Behandlung des Wunders in den beiden
Kunstformen. Die übliche Aufstellung: das Wunder wäre im Epos heimisch,
der Roman dagegen halte die rationelle Grenze der Anschauung ein -- ist rein
äußerlich und auch falsch. Ein Roman wird durch das Wunder noch nicht
zum Epos, sonst müßten wir in E. T. A. Hoffmanns Romanen lauter Epen
sehen. Fast das Entgegengesetzte ist wahr: das Wunder kommt eigentlich nur
im Roman vor und ist gar kein ungeeignetes Kriterium zur schwierigen und
richtigen Entscheidung, ob ein erzählendes Werk ein Roman oder ein Epos sei.
Wenn wir in "Wilhelm Meisters Lehrjahren", wo wir von Anfang an mitten
w der Zeitlichkeit geatmet, wo wir dem Raumgesetz und dem von Ursache und
Wirkung so unbedingt unterworfen waren wie in unserem Alltag, wenn da in der
Turmszene (VII, 9) urplötzlich weitzerstreute, längstvergangene Menschen wie auf
einen Zauberschlag der Reihe nach hinter dem Vorhang hervortreten und
wir somit den Sprung aus unserer räunckich - zeitlichen Welt in eine andere.


Grenzboten II 1913 24
Roman und Lpos

bedeutend, gleich wichtig, nicht an sich, durch sich selbst, sondern bloß durch
das Licht der Idee, das im Augenblick darauf ruht. Alles hat eben nur
sofern Bedeutung, sofern das Schicksal sich im gegebenen Augenblick an seiner
Nichtigkeit betätigt: Agamemnon oder Thersites. — gleichviel. Es ergibt sich
im Epos keine Steigerung des Details wie im Roman, sondern eine ruhige
Horizontale. Man darf vielleicht sagen, daß die Wichtigkeit der Einzelheit im
Roman — ihre Potenz — mit der Quadratur ihrer Entfernung von der
gipfelnden Idee abnimmt. In der Ilias jedoch ist der Besuch des Priamos
bei Achilleus, obschon im letzten Gesang, doch um kein Haar gewichtiger als
Hektor und Andromache oder als Agamenmons Zank mit Achill, — weil die
Idee im Epos eben nirgends gipfelt, sie ist außerhalb, weil sie antizipiert
ist und jeder Zeile gleich nah und fern bleibt. Daher muß die Einzelheit im
Roman bedeutend, sich steigernd und in seiner Verkettung mit der Idee not¬
wendig sein. Im Epos ist sie von holdester Überflüssigkeit, aber funkelnd im
strahlenden Lichte der Idee. Keine Einzelheit ist wie beim Roman Inhalt der
Ilias, denn ihr Inhalt und Gehalt ist ja nur Eines: die eherne Unabänderlich¬
keit des waltenden Schicksals. Deshalb durchschauert eine gleichgültige Begeben¬
heit seit Jahrtausenden die Menschheit, wenn dies Innerste ausgesprochen wird:


(16, 448.)
„Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt."

Im Roman baut Detail für Detail die Höhe bis zur Idee hinauf,
die Funktion der Einzelheit ist eine tragende; in der Ilias erduldet jede
Begebenheit das Licht der Idee, das auf sie fällt, ihre Funktion ist eine
ertragende.

2. Die Erinnerungsferne des Romans ist an die Grenze unserer Erfahrung
über die Kategorien menschlicher Anschauung: Raum, Zeit, Kausalität, gebunden.
Die Erinnerungsferne des Epos ist von dieser Schranke frei. Hieraus folgt
ein grundsätzlicher Gegensatz in der Behandlung des Wunders in den beiden
Kunstformen. Die übliche Aufstellung: das Wunder wäre im Epos heimisch,
der Roman dagegen halte die rationelle Grenze der Anschauung ein — ist rein
äußerlich und auch falsch. Ein Roman wird durch das Wunder noch nicht
zum Epos, sonst müßten wir in E. T. A. Hoffmanns Romanen lauter Epen
sehen. Fast das Entgegengesetzte ist wahr: das Wunder kommt eigentlich nur
im Roman vor und ist gar kein ungeeignetes Kriterium zur schwierigen und
richtigen Entscheidung, ob ein erzählendes Werk ein Roman oder ein Epos sei.
Wenn wir in „Wilhelm Meisters Lehrjahren", wo wir von Anfang an mitten
w der Zeitlichkeit geatmet, wo wir dem Raumgesetz und dem von Ursache und
Wirkung so unbedingt unterworfen waren wie in unserem Alltag, wenn da in der
Turmszene (VII, 9) urplötzlich weitzerstreute, längstvergangene Menschen wie auf
einen Zauberschlag der Reihe nach hinter dem Vorhang hervortreten und
wir somit den Sprung aus unserer räunckich - zeitlichen Welt in eine andere.


Grenzboten II 1913 24
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[0373] Roman und Lpos bedeutend, gleich wichtig, nicht an sich, durch sich selbst, sondern bloß durch das Licht der Idee, das im Augenblick darauf ruht. Alles hat eben nur sofern Bedeutung, sofern das Schicksal sich im gegebenen Augenblick an seiner Nichtigkeit betätigt: Agamemnon oder Thersites. — gleichviel. Es ergibt sich im Epos keine Steigerung des Details wie im Roman, sondern eine ruhige Horizontale. Man darf vielleicht sagen, daß die Wichtigkeit der Einzelheit im Roman — ihre Potenz — mit der Quadratur ihrer Entfernung von der gipfelnden Idee abnimmt. In der Ilias jedoch ist der Besuch des Priamos bei Achilleus, obschon im letzten Gesang, doch um kein Haar gewichtiger als Hektor und Andromache oder als Agamenmons Zank mit Achill, — weil die Idee im Epos eben nirgends gipfelt, sie ist außerhalb, weil sie antizipiert ist und jeder Zeile gleich nah und fern bleibt. Daher muß die Einzelheit im Roman bedeutend, sich steigernd und in seiner Verkettung mit der Idee not¬ wendig sein. Im Epos ist sie von holdester Überflüssigkeit, aber funkelnd im strahlenden Lichte der Idee. Keine Einzelheit ist wie beim Roman Inhalt der Ilias, denn ihr Inhalt und Gehalt ist ja nur Eines: die eherne Unabänderlich¬ keit des waltenden Schicksals. Deshalb durchschauert eine gleichgültige Begeben¬ heit seit Jahrtausenden die Menschheit, wenn dies Innerste ausgesprochen wird: (16, 448.) „Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt." Im Roman baut Detail für Detail die Höhe bis zur Idee hinauf, die Funktion der Einzelheit ist eine tragende; in der Ilias erduldet jede Begebenheit das Licht der Idee, das auf sie fällt, ihre Funktion ist eine ertragende. 2. Die Erinnerungsferne des Romans ist an die Grenze unserer Erfahrung über die Kategorien menschlicher Anschauung: Raum, Zeit, Kausalität, gebunden. Die Erinnerungsferne des Epos ist von dieser Schranke frei. Hieraus folgt ein grundsätzlicher Gegensatz in der Behandlung des Wunders in den beiden Kunstformen. Die übliche Aufstellung: das Wunder wäre im Epos heimisch, der Roman dagegen halte die rationelle Grenze der Anschauung ein — ist rein äußerlich und auch falsch. Ein Roman wird durch das Wunder noch nicht zum Epos, sonst müßten wir in E. T. A. Hoffmanns Romanen lauter Epen sehen. Fast das Entgegengesetzte ist wahr: das Wunder kommt eigentlich nur im Roman vor und ist gar kein ungeeignetes Kriterium zur schwierigen und richtigen Entscheidung, ob ein erzählendes Werk ein Roman oder ein Epos sei. Wenn wir in „Wilhelm Meisters Lehrjahren", wo wir von Anfang an mitten w der Zeitlichkeit geatmet, wo wir dem Raumgesetz und dem von Ursache und Wirkung so unbedingt unterworfen waren wie in unserem Alltag, wenn da in der Turmszene (VII, 9) urplötzlich weitzerstreute, längstvergangene Menschen wie auf einen Zauberschlag der Reihe nach hinter dem Vorhang hervortreten und wir somit den Sprung aus unserer räunckich - zeitlichen Welt in eine andere. Grenzboten II 1913 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/373>, abgerufen am 28.07.2024.