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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Roman und Lpos

Idee, das Transzendente in die sinnliche Erscheinung umsetzen; es will aus dem
aprioren Vollbesitz der einen Idee soviel in das Gefäß des Phänomens hinein¬
gießen, wieviel da nur hineingeht. Das Epos will das bloß Denk- und
Fühlbare in den sichtbaren, riechbaren, hör- und Schmeckbaren Stoff bannen.
Aus der Einheit der Idee ausgehend, will das Epos in die Vielheit der Dinge
hineinkriechen, wie die Sonnenstrahlen aus der alleinen Sonne fließend, alle
Dinge um- und durchleuchten. Die Ilias gipfelt nicht etwa romanmäßig mit
all ihren tausend Einzelkämpfen, mit ihren Gastmählern, Waffenbeschreibungen
und tausend Unbedeutenheiten in der Idee des ewigen Schicksals, sondern im
Gegenteil: aus der Schicksalsidee entfließt das alles, daraus enthält es Sinn
und Lebensfähigkeit.


"Denn wir schaffen ja nichts mit unserer starrenden Schwermut.
Also bestimmten die Götter der elenden Sterblichen Schicksal,
Bang' in Gram zu leben; allein sie selber sind sorglos.
Denn es stehn zwei Fässer gestellt an der Schwelle Kronions,
Voll das eine von Gaben des Wehs, das andre des Heiles.
Weni nun vermischt austeilet der donnerfrohe Kronion,
Solcher trifft abwechselnd ein böses Los, und ein gutes.
Wem er allein des Wehs austeilt, den verstößt er in Schande;
Und herznagende Not auf der heiligen Erde verfolgt ihn,
Dasz nicht Göttern geehrt noch Sterblichen, bang' er umherirrt."

(Ilias 24. Geh. 624. Vers.)

Oder:


"Oft schon haben mir dieses Achaias Söhne gerüget, (--sagt Agamemnon, --)
Und mich bitter geschmäht; doch trag' ich dessen die Schuld nicht,
Sondern Zeus, das Geschick und das nächtliche Schrecken Erinnys:
Die in der Volksversammlung zum heftigen Fehl mich verblendet,
Jenes Tags, da ich selber Achilleus' Gab ihm entwandte.
Aber was konnt' ich thun? Die Göttin wirkt ja zu allem,
Zeus' erhabene Tochter, die Schuld, die alle bethöret,
Schreckenvoll: leicht schweben die Füß' ihr; nimmer dem Grund' auch
Nadel sie, nein, hoch wandelt sie her auf den Häuptern der Männer,
Reizend die Menschen zum Fehl; und wenigstens einen verstrickt sie."

(Ilias 19, 86 ff.)

Aus diesem Grundunterschted der entgegengesetzten Entwicklungsrichtung im
Roman und Epos folgen weitere Abweichungen. So ist die Rolle und die
Beschaffenheit der Einzelheit, des Details in den beiden Kunstgattungen eine
verschiedene. Im Roman muß das Detail von Bedeutung sein, und je näher
wir dem Gipfel der Pyramide kommen, desto bedeutender, desto stärker muß es
wirken. Je näher wir der Idee kommen, desto gewichtiger wird das Einzel¬
erlebnis, desto mehr entfernt sich die Schilderung vom Körperlichen und wird
zu immer reinerer Stimmungsdarstellung. In der Ilias dagegen gibt es kein
eigentlich bedeutendes oder unbedeutendes Detail: alles ist gleich wichtig. Die
rosige Tochter des Brises ist doch nicht wichtiger als die Zubereitung des Gast¬
mahls (9, 205), oder als die Toilette der Hera (14, 180). Alles ist gleich


Roman und Lpos

Idee, das Transzendente in die sinnliche Erscheinung umsetzen; es will aus dem
aprioren Vollbesitz der einen Idee soviel in das Gefäß des Phänomens hinein¬
gießen, wieviel da nur hineingeht. Das Epos will das bloß Denk- und
Fühlbare in den sichtbaren, riechbaren, hör- und Schmeckbaren Stoff bannen.
Aus der Einheit der Idee ausgehend, will das Epos in die Vielheit der Dinge
hineinkriechen, wie die Sonnenstrahlen aus der alleinen Sonne fließend, alle
Dinge um- und durchleuchten. Die Ilias gipfelt nicht etwa romanmäßig mit
all ihren tausend Einzelkämpfen, mit ihren Gastmählern, Waffenbeschreibungen
und tausend Unbedeutenheiten in der Idee des ewigen Schicksals, sondern im
Gegenteil: aus der Schicksalsidee entfließt das alles, daraus enthält es Sinn
und Lebensfähigkeit.


„Denn wir schaffen ja nichts mit unserer starrenden Schwermut.
Also bestimmten die Götter der elenden Sterblichen Schicksal,
Bang' in Gram zu leben; allein sie selber sind sorglos.
Denn es stehn zwei Fässer gestellt an der Schwelle Kronions,
Voll das eine von Gaben des Wehs, das andre des Heiles.
Weni nun vermischt austeilet der donnerfrohe Kronion,
Solcher trifft abwechselnd ein böses Los, und ein gutes.
Wem er allein des Wehs austeilt, den verstößt er in Schande;
Und herznagende Not auf der heiligen Erde verfolgt ihn,
Dasz nicht Göttern geehrt noch Sterblichen, bang' er umherirrt."

(Ilias 24. Geh. 624. Vers.)

Oder:


„Oft schon haben mir dieses Achaias Söhne gerüget, (—sagt Agamemnon, —)
Und mich bitter geschmäht; doch trag' ich dessen die Schuld nicht,
Sondern Zeus, das Geschick und das nächtliche Schrecken Erinnys:
Die in der Volksversammlung zum heftigen Fehl mich verblendet,
Jenes Tags, da ich selber Achilleus' Gab ihm entwandte.
Aber was konnt' ich thun? Die Göttin wirkt ja zu allem,
Zeus' erhabene Tochter, die Schuld, die alle bethöret,
Schreckenvoll: leicht schweben die Füß' ihr; nimmer dem Grund' auch
Nadel sie, nein, hoch wandelt sie her auf den Häuptern der Männer,
Reizend die Menschen zum Fehl; und wenigstens einen verstrickt sie."

(Ilias 19, 86 ff.)

Aus diesem Grundunterschted der entgegengesetzten Entwicklungsrichtung im
Roman und Epos folgen weitere Abweichungen. So ist die Rolle und die
Beschaffenheit der Einzelheit, des Details in den beiden Kunstgattungen eine
verschiedene. Im Roman muß das Detail von Bedeutung sein, und je näher
wir dem Gipfel der Pyramide kommen, desto bedeutender, desto stärker muß es
wirken. Je näher wir der Idee kommen, desto gewichtiger wird das Einzel¬
erlebnis, desto mehr entfernt sich die Schilderung vom Körperlichen und wird
zu immer reinerer Stimmungsdarstellung. In der Ilias dagegen gibt es kein
eigentlich bedeutendes oder unbedeutendes Detail: alles ist gleich wichtig. Die
rosige Tochter des Brises ist doch nicht wichtiger als die Zubereitung des Gast¬
mahls (9, 205), oder als die Toilette der Hera (14, 180). Alles ist gleich


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[0372] Roman und Lpos Idee, das Transzendente in die sinnliche Erscheinung umsetzen; es will aus dem aprioren Vollbesitz der einen Idee soviel in das Gefäß des Phänomens hinein¬ gießen, wieviel da nur hineingeht. Das Epos will das bloß Denk- und Fühlbare in den sichtbaren, riechbaren, hör- und Schmeckbaren Stoff bannen. Aus der Einheit der Idee ausgehend, will das Epos in die Vielheit der Dinge hineinkriechen, wie die Sonnenstrahlen aus der alleinen Sonne fließend, alle Dinge um- und durchleuchten. Die Ilias gipfelt nicht etwa romanmäßig mit all ihren tausend Einzelkämpfen, mit ihren Gastmählern, Waffenbeschreibungen und tausend Unbedeutenheiten in der Idee des ewigen Schicksals, sondern im Gegenteil: aus der Schicksalsidee entfließt das alles, daraus enthält es Sinn und Lebensfähigkeit. „Denn wir schaffen ja nichts mit unserer starrenden Schwermut. Also bestimmten die Götter der elenden Sterblichen Schicksal, Bang' in Gram zu leben; allein sie selber sind sorglos. Denn es stehn zwei Fässer gestellt an der Schwelle Kronions, Voll das eine von Gaben des Wehs, das andre des Heiles. Weni nun vermischt austeilet der donnerfrohe Kronion, Solcher trifft abwechselnd ein böses Los, und ein gutes. Wem er allein des Wehs austeilt, den verstößt er in Schande; Und herznagende Not auf der heiligen Erde verfolgt ihn, Dasz nicht Göttern geehrt noch Sterblichen, bang' er umherirrt." (Ilias 24. Geh. 624. Vers.) Oder: „Oft schon haben mir dieses Achaias Söhne gerüget, (—sagt Agamemnon, —) Und mich bitter geschmäht; doch trag' ich dessen die Schuld nicht, Sondern Zeus, das Geschick und das nächtliche Schrecken Erinnys: Die in der Volksversammlung zum heftigen Fehl mich verblendet, Jenes Tags, da ich selber Achilleus' Gab ihm entwandte. Aber was konnt' ich thun? Die Göttin wirkt ja zu allem, Zeus' erhabene Tochter, die Schuld, die alle bethöret, Schreckenvoll: leicht schweben die Füß' ihr; nimmer dem Grund' auch Nadel sie, nein, hoch wandelt sie her auf den Häuptern der Männer, Reizend die Menschen zum Fehl; und wenigstens einen verstrickt sie." (Ilias 19, 86 ff.) Aus diesem Grundunterschted der entgegengesetzten Entwicklungsrichtung im Roman und Epos folgen weitere Abweichungen. So ist die Rolle und die Beschaffenheit der Einzelheit, des Details in den beiden Kunstgattungen eine verschiedene. Im Roman muß das Detail von Bedeutung sein, und je näher wir dem Gipfel der Pyramide kommen, desto bedeutender, desto stärker muß es wirken. Je näher wir der Idee kommen, desto gewichtiger wird das Einzel¬ erlebnis, desto mehr entfernt sich die Schilderung vom Körperlichen und wird zu immer reinerer Stimmungsdarstellung. In der Ilias dagegen gibt es kein eigentlich bedeutendes oder unbedeutendes Detail: alles ist gleich wichtig. Die rosige Tochter des Brises ist doch nicht wichtiger als die Zubereitung des Gast¬ mahls (9, 205), oder als die Toilette der Hera (14, 180). Alles ist gleich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/372>, abgerufen am 27.07.2024.