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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Romain und Lpos

kategoriefreie vollziehen sollen, da wundern wir uns des Wechsels, das
ist Wunder. Im Wechsel liegt es. nicht in der Zeitlosigkeit an sich? Wer
aber hat sich je darüber gewundert, daß die windschnell eilende Iris im Augen¬
blick vom Olvmpos zum Peleiden herunterstürmt? Stehen wir denn nicht von
Anfang an außerhalb aller Zeitlichkeit? In einer Ferne der Erinnerung, in
der jeder Dimensionalbegriff längst aufgehört? Ob der Turmszene, oder über
das Kapitel der lebenden Brücke im Grünen Heinrich wird sich jeder Leser
wundern, weil die einen Sprung erfordern, aus der einen Welt in die andere;
wenn aber die silberfüßige Thetis aus den Fluten steigt und dem weinenden
Sohn neue Rüstung vom hinkenden Meister Hephaistos bringt, -- so sind das
keine Wunder, sondern Selbstverständlichkeiten. Es hat sich auch noch nie ein
Leser darüber gewundert.

Im Roman entsteht daher das Wunder durch den Durchbruch der Kate¬
gorien; im Epos gibt es kein Wunder, weil die Kategorien in der Erinnerungs¬
ferne des Epos überhaupt aufhören.

3. Des weiteren unterscheiden sich Epos und Roman in der Art und Weise,
Masse und Individuum zu behandeln. Das Epos hat nie einen Helden,
das ist eine notwendige Folge seiner geschilderten Entstehungsart, denn der
eine Held des Epos ist ja die Idee, der Roman aber hat immer einen Helden,
einen persönlichen, meist den Autor selbst, und hat er viele, so hat er einen
Haupthelden. Auch hierin bekundet sich das Bestreben der Gipfelung. Wilhelm
Meister ist der Held des Romans, Achilleus oder Hektor, Agamemnon oder
Zeus sind nur Helden im Epos.

4. Aus dem Grundsatz der Erinnerungsferne diesseits und jenseits der
Anschauungskategorien folgt auch der letzte Wesensunterschied zwischen Roman
und Epos. Im Roman treffen wir stets den Helden auf der inneren oder
äußeren Wanderschaft begriffen, während ihm gegenüber das stabilere, fast
unbewegliche Sein der Gesellschaft verharrt und Widerstand leistet. Der
Rahmen des Epos dagegen ist immer: Massenbewegung, Reiseunternehmung des
Ganzen, "Thomas Cook and Sons", in der Ilias so gut wie im Nibelungen¬
lied, bei Dante, in Hermann und Dorothea und im Olympischen Frühling.
Wie könnte dem auch anders sein? Die Erinnerungsferne des Epos ist ja von
vornherein außerweltlich gegeben! Aus diesem Standort gesehen bewegt sich
eben das ganze: ?A Wie sehr die Idee der Gesamtbewegung dem Epos
und nicht dem Roman eignet, läßt sich am besten am Beweglichkeits- und
Ständigkeitsverhältnis der Parteien in der Ilias einerseits in Hermann und
Dorothea anderseits beobachten.

In der Ilias ist die Gliederung, die Teilung der Massen ganz und gar
nicht auf den doch so naheliegenden und sich aufdringenden ungeheueren Unter¬
schied zwischen den auf der Wanderschaft sich befindenden Achaiern und den


Romain und Lpos

kategoriefreie vollziehen sollen, da wundern wir uns des Wechsels, das
ist Wunder. Im Wechsel liegt es. nicht in der Zeitlosigkeit an sich? Wer
aber hat sich je darüber gewundert, daß die windschnell eilende Iris im Augen¬
blick vom Olvmpos zum Peleiden herunterstürmt? Stehen wir denn nicht von
Anfang an außerhalb aller Zeitlichkeit? In einer Ferne der Erinnerung, in
der jeder Dimensionalbegriff längst aufgehört? Ob der Turmszene, oder über
das Kapitel der lebenden Brücke im Grünen Heinrich wird sich jeder Leser
wundern, weil die einen Sprung erfordern, aus der einen Welt in die andere;
wenn aber die silberfüßige Thetis aus den Fluten steigt und dem weinenden
Sohn neue Rüstung vom hinkenden Meister Hephaistos bringt, — so sind das
keine Wunder, sondern Selbstverständlichkeiten. Es hat sich auch noch nie ein
Leser darüber gewundert.

Im Roman entsteht daher das Wunder durch den Durchbruch der Kate¬
gorien; im Epos gibt es kein Wunder, weil die Kategorien in der Erinnerungs¬
ferne des Epos überhaupt aufhören.

3. Des weiteren unterscheiden sich Epos und Roman in der Art und Weise,
Masse und Individuum zu behandeln. Das Epos hat nie einen Helden,
das ist eine notwendige Folge seiner geschilderten Entstehungsart, denn der
eine Held des Epos ist ja die Idee, der Roman aber hat immer einen Helden,
einen persönlichen, meist den Autor selbst, und hat er viele, so hat er einen
Haupthelden. Auch hierin bekundet sich das Bestreben der Gipfelung. Wilhelm
Meister ist der Held des Romans, Achilleus oder Hektor, Agamemnon oder
Zeus sind nur Helden im Epos.

4. Aus dem Grundsatz der Erinnerungsferne diesseits und jenseits der
Anschauungskategorien folgt auch der letzte Wesensunterschied zwischen Roman
und Epos. Im Roman treffen wir stets den Helden auf der inneren oder
äußeren Wanderschaft begriffen, während ihm gegenüber das stabilere, fast
unbewegliche Sein der Gesellschaft verharrt und Widerstand leistet. Der
Rahmen des Epos dagegen ist immer: Massenbewegung, Reiseunternehmung des
Ganzen, „Thomas Cook and Sons", in der Ilias so gut wie im Nibelungen¬
lied, bei Dante, in Hermann und Dorothea und im Olympischen Frühling.
Wie könnte dem auch anders sein? Die Erinnerungsferne des Epos ist ja von
vornherein außerweltlich gegeben! Aus diesem Standort gesehen bewegt sich
eben das ganze: ?A Wie sehr die Idee der Gesamtbewegung dem Epos
und nicht dem Roman eignet, läßt sich am besten am Beweglichkeits- und
Ständigkeitsverhältnis der Parteien in der Ilias einerseits in Hermann und
Dorothea anderseits beobachten.

In der Ilias ist die Gliederung, die Teilung der Massen ganz und gar
nicht auf den doch so naheliegenden und sich aufdringenden ungeheueren Unter¬
schied zwischen den auf der Wanderschaft sich befindenden Achaiern und den


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[0374] Romain und Lpos kategoriefreie vollziehen sollen, da wundern wir uns des Wechsels, das ist Wunder. Im Wechsel liegt es. nicht in der Zeitlosigkeit an sich? Wer aber hat sich je darüber gewundert, daß die windschnell eilende Iris im Augen¬ blick vom Olvmpos zum Peleiden herunterstürmt? Stehen wir denn nicht von Anfang an außerhalb aller Zeitlichkeit? In einer Ferne der Erinnerung, in der jeder Dimensionalbegriff längst aufgehört? Ob der Turmszene, oder über das Kapitel der lebenden Brücke im Grünen Heinrich wird sich jeder Leser wundern, weil die einen Sprung erfordern, aus der einen Welt in die andere; wenn aber die silberfüßige Thetis aus den Fluten steigt und dem weinenden Sohn neue Rüstung vom hinkenden Meister Hephaistos bringt, — so sind das keine Wunder, sondern Selbstverständlichkeiten. Es hat sich auch noch nie ein Leser darüber gewundert. Im Roman entsteht daher das Wunder durch den Durchbruch der Kate¬ gorien; im Epos gibt es kein Wunder, weil die Kategorien in der Erinnerungs¬ ferne des Epos überhaupt aufhören. 3. Des weiteren unterscheiden sich Epos und Roman in der Art und Weise, Masse und Individuum zu behandeln. Das Epos hat nie einen Helden, das ist eine notwendige Folge seiner geschilderten Entstehungsart, denn der eine Held des Epos ist ja die Idee, der Roman aber hat immer einen Helden, einen persönlichen, meist den Autor selbst, und hat er viele, so hat er einen Haupthelden. Auch hierin bekundet sich das Bestreben der Gipfelung. Wilhelm Meister ist der Held des Romans, Achilleus oder Hektor, Agamemnon oder Zeus sind nur Helden im Epos. 4. Aus dem Grundsatz der Erinnerungsferne diesseits und jenseits der Anschauungskategorien folgt auch der letzte Wesensunterschied zwischen Roman und Epos. Im Roman treffen wir stets den Helden auf der inneren oder äußeren Wanderschaft begriffen, während ihm gegenüber das stabilere, fast unbewegliche Sein der Gesellschaft verharrt und Widerstand leistet. Der Rahmen des Epos dagegen ist immer: Massenbewegung, Reiseunternehmung des Ganzen, „Thomas Cook and Sons", in der Ilias so gut wie im Nibelungen¬ lied, bei Dante, in Hermann und Dorothea und im Olympischen Frühling. Wie könnte dem auch anders sein? Die Erinnerungsferne des Epos ist ja von vornherein außerweltlich gegeben! Aus diesem Standort gesehen bewegt sich eben das ganze: ?A Wie sehr die Idee der Gesamtbewegung dem Epos und nicht dem Roman eignet, läßt sich am besten am Beweglichkeits- und Ständigkeitsverhältnis der Parteien in der Ilias einerseits in Hermann und Dorothea anderseits beobachten. In der Ilias ist die Gliederung, die Teilung der Massen ganz und gar nicht auf den doch so naheliegenden und sich aufdringenden ungeheueren Unter¬ schied zwischen den auf der Wanderschaft sich befindenden Achaiern und den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/374>, abgerufen am 22.12.2024.