Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.Neidhardt von Gneisenau Aber der Gedanke an seinen Vorteil, an seine Privatsachen ist allezeit hinter Nicht auf der Menschheit Höhen ist der Große, neben dem sich die zeit¬ Gneisenau hatte also Recht, wenn er Preußen nicht sein angestammtes, In den Friedensjahren rückte Gneisenau nur langsam vor; man hat ihn Neidhardt von Gneisenau Aber der Gedanke an seinen Vorteil, an seine Privatsachen ist allezeit hinter Nicht auf der Menschheit Höhen ist der Große, neben dem sich die zeit¬ Gneisenau hatte also Recht, wenn er Preußen nicht sein angestammtes, In den Friedensjahren rückte Gneisenau nur langsam vor; man hat ihn <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0363" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325883"/> <fw type="header" place="top"> Neidhardt von Gneisenau</fw><lb/> <p xml:id="ID_1443" prev="#ID_1442"> Aber der Gedanke an seinen Vorteil, an seine Privatsachen ist allezeit hinter<lb/> dem Gedanken an das Vaterland zurückgetreten. Diesem zuliebe vernachlässigt<lb/> er seine wirtschaftlichen Angelegenheiten, weilt er durch Jahre fern von seiner<lb/> teueren Familie, verschwindet er völlig von der Oberfläche der Öffentlichkeit, da<lb/> er im Verborgenen ohne Rang und Gehalt seine patriotischen Ziele besser ver¬<lb/> folgen zu können meint. . .</p><lb/> <p xml:id="ID_1444"> Nicht auf der Menschheit Höhen ist der Große, neben dem sich die zeit¬<lb/> genössischen Monarchen des außerfranzösischen Europa so klein ausnehmen,<lb/> geboren. Die Familie Neidhardt stammte aus Oberösterreich und nach einer<lb/> Besitzung derselben nannte sich ihr welthistorischer Sproß August später<lb/> „von Gneisenau" ... Er war ein Kind des Krieges und der Liebe; sein Vater<lb/> ein armer Artillerieleutnant in der nicht sonderlich angesehenen Reichsarmee,<lb/> die man boshaft, aber nicht ganz gerecht, auch die „Reißausarmee" genannt<lb/> hat. Die Mutter war dem Offizier gegen den Willen ihrer Eltern ins Feld<lb/> gefolgt. Das damals kursächsische Städtchen Schildau, wo Gneisenau am<lb/> 27. Oktober 1760 geboren wurde, war also nur eine Zufallsheimat. . .<lb/> „Während des Marsches, mitten im Kriegsgetümmel auf einem Troßwagen<lb/> brachte die Frau Leutnant Neidhardt ein Knäblein zur Welt, das so im aller-<lb/> ursprünglichsten Sinne von der Pike auf Soldat ist. Eine armselige Kindheit,<lb/> ein wildes Jünglingsalter mit mangelhafter wissenschaftlicher Ausbildung, öster¬<lb/> reichische und aufband-bayreuthische Kriegsdienste, der Eintritt endlich in das<lb/> preußische Heer, nicht aus irgendeinem höheren Grunde, sondern der besseren<lb/> Vorrückungsaussichten halber: all das wirft auf den jungen Krieger den<lb/> Schimmer des Romantischen, wenn man will des Abenteuerlichen."</p><lb/> <p xml:id="ID_1445"> Gneisenau hatte also Recht, wenn er Preußen nicht sein angestammtes,<lb/> sondern sein frei erwähltes Vaterland nannte. Der Staat Friedrich des Großen<lb/> hatte ja in den Tagen der Erniedrigung wie in denen der Erhebung mit<lb/> solchen Adoptivsöhnen Glück. Blücher war als mecklenburgischer. Scharnhorst<lb/> als hannoverscher Untertan geboren und Stein hatte als der Sprosse einer<lb/> reichsfreiherrlichen Familie überhaupt kein Sondervaterland. All diese Namen<lb/> aber sind längst von spezifisch-preußischen zu deutschen geworden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1446" next="#ID_1447"> In den Friedensjahren rückte Gneisenau nur langsam vor; man hat ihn<lb/> scherzweise mit dem biblischen Hauptmann von Kapernaum verglichen, der auch<lb/> niemals Major wurde. Bekanntlich zählte Gneisenau im Unglücksjahre 1806<lb/> zu jenen, die inmitten eines Meeres von Fehlern, Niederlagen und Schmach<lb/> die preußische Waffenehre retteten. „Tausendmal lieber sterben, als das noch<lb/> einmal erleben," sagte er nach Jena. Aber indes sonst überall die vollendetste<lb/> Kopflosigkeit herrschte und eine Anzahl fester Plätze sich ohne ernstlichen Wider¬<lb/> stand ergab, hat Gneisenau durch die tapfere und erfolgreiche Verteidigung von<lb/> Kolberg, die er gemeinsam mit dem alten Bürger Nettelbeck leitete, bewiesen,<lb/> daß es in dem schwergeprüften, niedergeworfenen Lande noch mutige Herzen<lb/> gebe. Damals schob sich der schon siebenundvierzigjährige. unbekannte Truppen-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0363]
Neidhardt von Gneisenau
Aber der Gedanke an seinen Vorteil, an seine Privatsachen ist allezeit hinter
dem Gedanken an das Vaterland zurückgetreten. Diesem zuliebe vernachlässigt
er seine wirtschaftlichen Angelegenheiten, weilt er durch Jahre fern von seiner
teueren Familie, verschwindet er völlig von der Oberfläche der Öffentlichkeit, da
er im Verborgenen ohne Rang und Gehalt seine patriotischen Ziele besser ver¬
folgen zu können meint. . .
Nicht auf der Menschheit Höhen ist der Große, neben dem sich die zeit¬
genössischen Monarchen des außerfranzösischen Europa so klein ausnehmen,
geboren. Die Familie Neidhardt stammte aus Oberösterreich und nach einer
Besitzung derselben nannte sich ihr welthistorischer Sproß August später
„von Gneisenau" ... Er war ein Kind des Krieges und der Liebe; sein Vater
ein armer Artillerieleutnant in der nicht sonderlich angesehenen Reichsarmee,
die man boshaft, aber nicht ganz gerecht, auch die „Reißausarmee" genannt
hat. Die Mutter war dem Offizier gegen den Willen ihrer Eltern ins Feld
gefolgt. Das damals kursächsische Städtchen Schildau, wo Gneisenau am
27. Oktober 1760 geboren wurde, war also nur eine Zufallsheimat. . .
„Während des Marsches, mitten im Kriegsgetümmel auf einem Troßwagen
brachte die Frau Leutnant Neidhardt ein Knäblein zur Welt, das so im aller-
ursprünglichsten Sinne von der Pike auf Soldat ist. Eine armselige Kindheit,
ein wildes Jünglingsalter mit mangelhafter wissenschaftlicher Ausbildung, öster¬
reichische und aufband-bayreuthische Kriegsdienste, der Eintritt endlich in das
preußische Heer, nicht aus irgendeinem höheren Grunde, sondern der besseren
Vorrückungsaussichten halber: all das wirft auf den jungen Krieger den
Schimmer des Romantischen, wenn man will des Abenteuerlichen."
Gneisenau hatte also Recht, wenn er Preußen nicht sein angestammtes,
sondern sein frei erwähltes Vaterland nannte. Der Staat Friedrich des Großen
hatte ja in den Tagen der Erniedrigung wie in denen der Erhebung mit
solchen Adoptivsöhnen Glück. Blücher war als mecklenburgischer. Scharnhorst
als hannoverscher Untertan geboren und Stein hatte als der Sprosse einer
reichsfreiherrlichen Familie überhaupt kein Sondervaterland. All diese Namen
aber sind längst von spezifisch-preußischen zu deutschen geworden.
In den Friedensjahren rückte Gneisenau nur langsam vor; man hat ihn
scherzweise mit dem biblischen Hauptmann von Kapernaum verglichen, der auch
niemals Major wurde. Bekanntlich zählte Gneisenau im Unglücksjahre 1806
zu jenen, die inmitten eines Meeres von Fehlern, Niederlagen und Schmach
die preußische Waffenehre retteten. „Tausendmal lieber sterben, als das noch
einmal erleben," sagte er nach Jena. Aber indes sonst überall die vollendetste
Kopflosigkeit herrschte und eine Anzahl fester Plätze sich ohne ernstlichen Wider¬
stand ergab, hat Gneisenau durch die tapfere und erfolgreiche Verteidigung von
Kolberg, die er gemeinsam mit dem alten Bürger Nettelbeck leitete, bewiesen,
daß es in dem schwergeprüften, niedergeworfenen Lande noch mutige Herzen
gebe. Damals schob sich der schon siebenundvierzigjährige. unbekannte Truppen-
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