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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Deutscher Imperialismus

kein Grund vor. Zwar hat eine unglückliche äußere Geschichte Deutschlands
Entwicklung verzögert, zwar hat eine nationale Einigung erst spät seine gesamten
Kräfte zusammengefaßt, aber noch zeigt es nicht die Spuren nationaler Er¬
schlaffung und Kraftlosigkeit. Wenn es den Willen hätte für eine imperialistische
Politik -- die Kraft dazu hat es.

Die Vorbedingung für einen erfolgreichen deutschen Imperialismus ist die
organische Fortentwicklung deutschen Einflusses und deutscher Macht. Nichts
wäre falscher, als etwa aus überstürzter Habgier jedes Fleckchen Erde, das
irgendwo frei würde, sich anzueignen, vielleicht nur aus dem Grunde, weil
keine andere Macht widerspricht. Ein solches Verstreuen deutscher Besitzungen
über die Erde müßte gerade den entgegengesetzten Erfolg haben, den eine
imperialistische Politik erzielen will. Statt Deutschlands Macht zu stärken,
würde sie durch eine solche Schaffung von neuen Angriffspunkten nur geschwächt
werden. Nur aus diesem Grunde verdienten die Stimmen, die im Sommer 1911
eine territoriale Beteiligung Deutschlands an Marokko forderten, eine so scharfe
Zurückweisung. Daß sie einer Vermehrung französischen Einflusses auf Kosten
des deutschen widerstrebten, daß sie eine starke deutsche Politik forderten, war
eine richtige und patriotische Idee. Daß sie Marokko haben wollten, obwohl
dieses Land in keinen inneren oder äußeren Zusammenhang mit Deutschland
gebracht werden konnte, war eine Torheit.

Eine organische Fortentwicklung Deutschlands hat zur Voraussetzung, daß
sie erfolgt im Einklang mit den natürlichen und geschichtlichen Vorbedingungen.
Die charakteristische Eigenschaft Deutschlands ist aber die, daß es eine mittel¬
europäische Großmacht ist. Es ist keine Insel, wie England, die, des
Grenzschutzes überhoben, seine Kraft auf überseeische Unternehmungen verwenden
könnte; es ist kein schwer erreichbarer Kontinent, wie Amerika, der unbekümmert
seine eigene Politik betreiben könnte; es ist keine Mittelmeermacht, wie Frank¬
reich, das die Herrschaft über das Mittelmeer erstreben könnte. Deutschland
hat lange, bedrohte Grenzen, auf deren Schutz es die nötige Kraft, das nötige
Geld verwenden muß. Deutschland liegt im Zentrum von Europa; so muß es
seinen Einfluß vor allem hier behaupten und stärken. Deutschland hat eine
schmale Küste an der Nordsee; so muß es sich die Verteidigung dieser Küste,
die Aktionsfreiheit auf diesem Meere sichern. Es hat die größte Küste von
allen Anliegern an der Ostsee; so muß es sich hier einen beherrschenden Einfluß
sichern oder erwerben.

Das also ist das eine grundlegende Prinzip für eine deutsche imperia¬
listische Politik: Stärkung und Festigung der Stellung Deutschlands als mittel¬
europäischer Großmacht. Daraus folgt, daß es seine nächste, unabweisbare
Pflicht ist, diese Aufgabe zu lösen. Daraus folgt weiter, daß es sich auf eine
überseeische Politik nur in einem Maße einlassen kann, das der Stärke seiner
mitteleuropäischen Stellung entspricht. Auch hier ist die Fixierung einer ab¬
soluten Norm unmöglich. Wenn Deutschlands mitteleuropäische Stellung sich
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Deutscher Imperialismus

kein Grund vor. Zwar hat eine unglückliche äußere Geschichte Deutschlands
Entwicklung verzögert, zwar hat eine nationale Einigung erst spät seine gesamten
Kräfte zusammengefaßt, aber noch zeigt es nicht die Spuren nationaler Er¬
schlaffung und Kraftlosigkeit. Wenn es den Willen hätte für eine imperialistische
Politik — die Kraft dazu hat es.

Die Vorbedingung für einen erfolgreichen deutschen Imperialismus ist die
organische Fortentwicklung deutschen Einflusses und deutscher Macht. Nichts
wäre falscher, als etwa aus überstürzter Habgier jedes Fleckchen Erde, das
irgendwo frei würde, sich anzueignen, vielleicht nur aus dem Grunde, weil
keine andere Macht widerspricht. Ein solches Verstreuen deutscher Besitzungen
über die Erde müßte gerade den entgegengesetzten Erfolg haben, den eine
imperialistische Politik erzielen will. Statt Deutschlands Macht zu stärken,
würde sie durch eine solche Schaffung von neuen Angriffspunkten nur geschwächt
werden. Nur aus diesem Grunde verdienten die Stimmen, die im Sommer 1911
eine territoriale Beteiligung Deutschlands an Marokko forderten, eine so scharfe
Zurückweisung. Daß sie einer Vermehrung französischen Einflusses auf Kosten
des deutschen widerstrebten, daß sie eine starke deutsche Politik forderten, war
eine richtige und patriotische Idee. Daß sie Marokko haben wollten, obwohl
dieses Land in keinen inneren oder äußeren Zusammenhang mit Deutschland
gebracht werden konnte, war eine Torheit.

Eine organische Fortentwicklung Deutschlands hat zur Voraussetzung, daß
sie erfolgt im Einklang mit den natürlichen und geschichtlichen Vorbedingungen.
Die charakteristische Eigenschaft Deutschlands ist aber die, daß es eine mittel¬
europäische Großmacht ist. Es ist keine Insel, wie England, die, des
Grenzschutzes überhoben, seine Kraft auf überseeische Unternehmungen verwenden
könnte; es ist kein schwer erreichbarer Kontinent, wie Amerika, der unbekümmert
seine eigene Politik betreiben könnte; es ist keine Mittelmeermacht, wie Frank¬
reich, das die Herrschaft über das Mittelmeer erstreben könnte. Deutschland
hat lange, bedrohte Grenzen, auf deren Schutz es die nötige Kraft, das nötige
Geld verwenden muß. Deutschland liegt im Zentrum von Europa; so muß es
seinen Einfluß vor allem hier behaupten und stärken. Deutschland hat eine
schmale Küste an der Nordsee; so muß es sich die Verteidigung dieser Küste,
die Aktionsfreiheit auf diesem Meere sichern. Es hat die größte Küste von
allen Anliegern an der Ostsee; so muß es sich hier einen beherrschenden Einfluß
sichern oder erwerben.

Das also ist das eine grundlegende Prinzip für eine deutsche imperia¬
listische Politik: Stärkung und Festigung der Stellung Deutschlands als mittel¬
europäischer Großmacht. Daraus folgt, daß es seine nächste, unabweisbare
Pflicht ist, diese Aufgabe zu lösen. Daraus folgt weiter, daß es sich auf eine
überseeische Politik nur in einem Maße einlassen kann, das der Stärke seiner
mitteleuropäischen Stellung entspricht. Auch hier ist die Fixierung einer ab¬
soluten Norm unmöglich. Wenn Deutschlands mitteleuropäische Stellung sich
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[0359] Deutscher Imperialismus kein Grund vor. Zwar hat eine unglückliche äußere Geschichte Deutschlands Entwicklung verzögert, zwar hat eine nationale Einigung erst spät seine gesamten Kräfte zusammengefaßt, aber noch zeigt es nicht die Spuren nationaler Er¬ schlaffung und Kraftlosigkeit. Wenn es den Willen hätte für eine imperialistische Politik — die Kraft dazu hat es. Die Vorbedingung für einen erfolgreichen deutschen Imperialismus ist die organische Fortentwicklung deutschen Einflusses und deutscher Macht. Nichts wäre falscher, als etwa aus überstürzter Habgier jedes Fleckchen Erde, das irgendwo frei würde, sich anzueignen, vielleicht nur aus dem Grunde, weil keine andere Macht widerspricht. Ein solches Verstreuen deutscher Besitzungen über die Erde müßte gerade den entgegengesetzten Erfolg haben, den eine imperialistische Politik erzielen will. Statt Deutschlands Macht zu stärken, würde sie durch eine solche Schaffung von neuen Angriffspunkten nur geschwächt werden. Nur aus diesem Grunde verdienten die Stimmen, die im Sommer 1911 eine territoriale Beteiligung Deutschlands an Marokko forderten, eine so scharfe Zurückweisung. Daß sie einer Vermehrung französischen Einflusses auf Kosten des deutschen widerstrebten, daß sie eine starke deutsche Politik forderten, war eine richtige und patriotische Idee. Daß sie Marokko haben wollten, obwohl dieses Land in keinen inneren oder äußeren Zusammenhang mit Deutschland gebracht werden konnte, war eine Torheit. Eine organische Fortentwicklung Deutschlands hat zur Voraussetzung, daß sie erfolgt im Einklang mit den natürlichen und geschichtlichen Vorbedingungen. Die charakteristische Eigenschaft Deutschlands ist aber die, daß es eine mittel¬ europäische Großmacht ist. Es ist keine Insel, wie England, die, des Grenzschutzes überhoben, seine Kraft auf überseeische Unternehmungen verwenden könnte; es ist kein schwer erreichbarer Kontinent, wie Amerika, der unbekümmert seine eigene Politik betreiben könnte; es ist keine Mittelmeermacht, wie Frank¬ reich, das die Herrschaft über das Mittelmeer erstreben könnte. Deutschland hat lange, bedrohte Grenzen, auf deren Schutz es die nötige Kraft, das nötige Geld verwenden muß. Deutschland liegt im Zentrum von Europa; so muß es seinen Einfluß vor allem hier behaupten und stärken. Deutschland hat eine schmale Küste an der Nordsee; so muß es sich die Verteidigung dieser Küste, die Aktionsfreiheit auf diesem Meere sichern. Es hat die größte Küste von allen Anliegern an der Ostsee; so muß es sich hier einen beherrschenden Einfluß sichern oder erwerben. Das also ist das eine grundlegende Prinzip für eine deutsche imperia¬ listische Politik: Stärkung und Festigung der Stellung Deutschlands als mittel¬ europäischer Großmacht. Daraus folgt, daß es seine nächste, unabweisbare Pflicht ist, diese Aufgabe zu lösen. Daraus folgt weiter, daß es sich auf eine überseeische Politik nur in einem Maße einlassen kann, das der Stärke seiner mitteleuropäischen Stellung entspricht. Auch hier ist die Fixierung einer ab¬ soluten Norm unmöglich. Wenn Deutschlands mitteleuropäische Stellung sich ' 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/359>, abgerufen am 27.07.2024.