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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

daß es bisher noch nicht gelungen ist, einen guten Stamm tüchtiger und zu¬
verlässiger eingeborener Beamten heranzubilden. Geschickt und anstellig ist der
Bengali-Babu ohne Zweifel; als Unterbeamter leistet er ausgezeichnete Dienste
und versteht es nicht selten, sich geradezu unentbehrlich zu machen.

Die conclitio 8me ama non ist aber genügende Aufsicht. Kann es un¬
gestraft geschehen so vernachlässigt er nicht nur gar leicht seine Pflicht, sondern
denkt auch mehr wie gut ist an seinen persönlichen Vorteil. Vor allem fehlt
es ihm aber an Initiative. Was man ihm vorschreibt, wird er genau und
geschickt ausführen, wenn er weiß, daß er kontrolliert wird. Aber selbst vor¬
ausdenken, in einem unvorhergesehenen Fall auf eigene Faust handeln oder
gar große selbständige Pläne fassen und ausführen, das find Eigenschaften, die
man beim indischen Beamten kaum suchen darf. Großartiges Organisations¬
talent und eine nie um Mittel verlegene Tatkraft sind aber gerade die treibenden
Kräfte, mit denen England Indien einst eroberte und heute regiert.

Eine der lehrreichsten Unterrichtsstunden über indische Verwaltung bekam
ich auf der Rundreise mit einem englischen Beamten in einem wenig kultivierten
Walddistrikt des nordöstlichen Indiens. Mein Lehrmeister war der einzige
weiße Beamte eines Bezirks, der an Ausdehnung einem preußischen Regierungs¬
bezirk nicht nachstand. Seine bewaffnete Macht bestand aus einigen Gurkha-
soldaten zur Bewachung des Kassengebäudes. Den größten Teil des Jahres
verbrachte er auf Reisen innerhalb seines Bezirks. Dort war er im vollsten
Sinne des Wortes "Mädchen für alles": Verwaltungsbeamter, Richter, Wege-
und Wasserbauingenieur, Sachverständiger für landwirtschaftliche Fragen,
Sanitätsbeamter usw. usw., daneben vorzüglicher Jäger und guter Kenner der
Fauna und Flora des Landes. Er beherrschte nicht weniger als vier der in
seinem Bezirk gesprochenen Sprachen und hatte das Vertrauen seiner Unter¬
gebenen in so hohem Maße gewonnen, daß diese ihn schließlich sogar bei
häuslichen Sorgen und ehelichen Zwistigkeiten um Rat fragten. Obgleich er
nie von Bewaffneten begleitet war, genoß er doch unbedingte Autorität und
konnte im entlegensten Zipfel seines Gebietes auf pünktliche Befolgung seiner
Befehle rechnen. Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten erwuchsen ihm eigentlich
nur durch seine bengalischen Unterbeamten, die bei der unzivilisierten, aber
ehrlichen und gutherzigen Bevölkerung gründlich verhaßt waren. Keiner von
diesen Bengalis wäre imstande gewesen, seinen englischen Vorgesetzten auch nur
in einer seiner vielen Funktionen zu ersetzen. Dort ist mir erst wirklich klar
geworden, was der englische Beamte für Indien bedeutet und wie hoch er über
dem eingeborenen Beamten steht.

Ist nun irgendeine Aussicht dafür vorhanden, daß der Inder jemals seinen
Lehrmeister wird ersetzen können? Das ist offenbar der Kernpunkt des anglo-
indischen Problems. Denn von ihm hängt es ab, ob und in welchem Tempo
die Umwandlung Indiens in einen sich selbst regierenden Staat vor sich gehen
kann. Gewiß wäre es vorschnell geurteilt, wollte man dem Inder einfach die


Die Engländer in Indien

daß es bisher noch nicht gelungen ist, einen guten Stamm tüchtiger und zu¬
verlässiger eingeborener Beamten heranzubilden. Geschickt und anstellig ist der
Bengali-Babu ohne Zweifel; als Unterbeamter leistet er ausgezeichnete Dienste
und versteht es nicht selten, sich geradezu unentbehrlich zu machen.

Die conclitio 8me ama non ist aber genügende Aufsicht. Kann es un¬
gestraft geschehen so vernachlässigt er nicht nur gar leicht seine Pflicht, sondern
denkt auch mehr wie gut ist an seinen persönlichen Vorteil. Vor allem fehlt
es ihm aber an Initiative. Was man ihm vorschreibt, wird er genau und
geschickt ausführen, wenn er weiß, daß er kontrolliert wird. Aber selbst vor¬
ausdenken, in einem unvorhergesehenen Fall auf eigene Faust handeln oder
gar große selbständige Pläne fassen und ausführen, das find Eigenschaften, die
man beim indischen Beamten kaum suchen darf. Großartiges Organisations¬
talent und eine nie um Mittel verlegene Tatkraft sind aber gerade die treibenden
Kräfte, mit denen England Indien einst eroberte und heute regiert.

Eine der lehrreichsten Unterrichtsstunden über indische Verwaltung bekam
ich auf der Rundreise mit einem englischen Beamten in einem wenig kultivierten
Walddistrikt des nordöstlichen Indiens. Mein Lehrmeister war der einzige
weiße Beamte eines Bezirks, der an Ausdehnung einem preußischen Regierungs¬
bezirk nicht nachstand. Seine bewaffnete Macht bestand aus einigen Gurkha-
soldaten zur Bewachung des Kassengebäudes. Den größten Teil des Jahres
verbrachte er auf Reisen innerhalb seines Bezirks. Dort war er im vollsten
Sinne des Wortes „Mädchen für alles": Verwaltungsbeamter, Richter, Wege-
und Wasserbauingenieur, Sachverständiger für landwirtschaftliche Fragen,
Sanitätsbeamter usw. usw., daneben vorzüglicher Jäger und guter Kenner der
Fauna und Flora des Landes. Er beherrschte nicht weniger als vier der in
seinem Bezirk gesprochenen Sprachen und hatte das Vertrauen seiner Unter¬
gebenen in so hohem Maße gewonnen, daß diese ihn schließlich sogar bei
häuslichen Sorgen und ehelichen Zwistigkeiten um Rat fragten. Obgleich er
nie von Bewaffneten begleitet war, genoß er doch unbedingte Autorität und
konnte im entlegensten Zipfel seines Gebietes auf pünktliche Befolgung seiner
Befehle rechnen. Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten erwuchsen ihm eigentlich
nur durch seine bengalischen Unterbeamten, die bei der unzivilisierten, aber
ehrlichen und gutherzigen Bevölkerung gründlich verhaßt waren. Keiner von
diesen Bengalis wäre imstande gewesen, seinen englischen Vorgesetzten auch nur
in einer seiner vielen Funktionen zu ersetzen. Dort ist mir erst wirklich klar
geworden, was der englische Beamte für Indien bedeutet und wie hoch er über
dem eingeborenen Beamten steht.

Ist nun irgendeine Aussicht dafür vorhanden, daß der Inder jemals seinen
Lehrmeister wird ersetzen können? Das ist offenbar der Kernpunkt des anglo-
indischen Problems. Denn von ihm hängt es ab, ob und in welchem Tempo
die Umwandlung Indiens in einen sich selbst regierenden Staat vor sich gehen
kann. Gewiß wäre es vorschnell geurteilt, wollte man dem Inder einfach die


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[0343] Die Engländer in Indien daß es bisher noch nicht gelungen ist, einen guten Stamm tüchtiger und zu¬ verlässiger eingeborener Beamten heranzubilden. Geschickt und anstellig ist der Bengali-Babu ohne Zweifel; als Unterbeamter leistet er ausgezeichnete Dienste und versteht es nicht selten, sich geradezu unentbehrlich zu machen. Die conclitio 8me ama non ist aber genügende Aufsicht. Kann es un¬ gestraft geschehen so vernachlässigt er nicht nur gar leicht seine Pflicht, sondern denkt auch mehr wie gut ist an seinen persönlichen Vorteil. Vor allem fehlt es ihm aber an Initiative. Was man ihm vorschreibt, wird er genau und geschickt ausführen, wenn er weiß, daß er kontrolliert wird. Aber selbst vor¬ ausdenken, in einem unvorhergesehenen Fall auf eigene Faust handeln oder gar große selbständige Pläne fassen und ausführen, das find Eigenschaften, die man beim indischen Beamten kaum suchen darf. Großartiges Organisations¬ talent und eine nie um Mittel verlegene Tatkraft sind aber gerade die treibenden Kräfte, mit denen England Indien einst eroberte und heute regiert. Eine der lehrreichsten Unterrichtsstunden über indische Verwaltung bekam ich auf der Rundreise mit einem englischen Beamten in einem wenig kultivierten Walddistrikt des nordöstlichen Indiens. Mein Lehrmeister war der einzige weiße Beamte eines Bezirks, der an Ausdehnung einem preußischen Regierungs¬ bezirk nicht nachstand. Seine bewaffnete Macht bestand aus einigen Gurkha- soldaten zur Bewachung des Kassengebäudes. Den größten Teil des Jahres verbrachte er auf Reisen innerhalb seines Bezirks. Dort war er im vollsten Sinne des Wortes „Mädchen für alles": Verwaltungsbeamter, Richter, Wege- und Wasserbauingenieur, Sachverständiger für landwirtschaftliche Fragen, Sanitätsbeamter usw. usw., daneben vorzüglicher Jäger und guter Kenner der Fauna und Flora des Landes. Er beherrschte nicht weniger als vier der in seinem Bezirk gesprochenen Sprachen und hatte das Vertrauen seiner Unter¬ gebenen in so hohem Maße gewonnen, daß diese ihn schließlich sogar bei häuslichen Sorgen und ehelichen Zwistigkeiten um Rat fragten. Obgleich er nie von Bewaffneten begleitet war, genoß er doch unbedingte Autorität und konnte im entlegensten Zipfel seines Gebietes auf pünktliche Befolgung seiner Befehle rechnen. Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten erwuchsen ihm eigentlich nur durch seine bengalischen Unterbeamten, die bei der unzivilisierten, aber ehrlichen und gutherzigen Bevölkerung gründlich verhaßt waren. Keiner von diesen Bengalis wäre imstande gewesen, seinen englischen Vorgesetzten auch nur in einer seiner vielen Funktionen zu ersetzen. Dort ist mir erst wirklich klar geworden, was der englische Beamte für Indien bedeutet und wie hoch er über dem eingeborenen Beamten steht. Ist nun irgendeine Aussicht dafür vorhanden, daß der Inder jemals seinen Lehrmeister wird ersetzen können? Das ist offenbar der Kernpunkt des anglo- indischen Problems. Denn von ihm hängt es ab, ob und in welchem Tempo die Umwandlung Indiens in einen sich selbst regierenden Staat vor sich gehen kann. Gewiß wäre es vorschnell geurteilt, wollte man dem Inder einfach die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/343>, abgerufen am 28.07.2024.