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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

gefahr. Der Arm der Terroristen reichte sogar bis London, wo ihnen der
Sekretär für Indien, Curzon Wheely zum Opfer fiel. In den letzten
Jahren sprach man daher auch in Indien ganz offen davon, daß demnächst eine
Wiedereroberung Bengalens notwendig werden würde.

Ich habe oben auseinandergesetzt, warum eine solche Wendung der Dinge
den Engländern nicht einmal unwillkommen sein würde. Ernstlich erschüttert
kann die englische Herrschaft durch solche Teilrevolutionen kaum werden,
wenigstens nicht, solange England in der übrigen Welt freie Hand hat. Eine
europäische Krise, welche die englische Regierung hinderte, im Bedarfsfalle Ver¬
stärkungen nach Indien zu schicken oder gar zu einer Schwächung der indischen
Okkupationsarmee zwänge, würde natürlich den indischen Besitz sofort schwer
gefährden. Ebenso könnte das Erscheinen einer modernen feindlichen Armee an
der indischen Grenze unabsehbare Folgen haben. Solche Möglichkeiten möchte
ich indessen hier ausscheiden und bloß den Fall ins Auge fassen, daß Indien
aus eigener Kraft versucht das fremde Joch abzuschütteln. Augenscheinlich kann
ein solcher Versuch nur dann glücken, wenn das ganze Volk oder wenigstens
sehr große Teile desselben in völliger Übereinstimmung und unter einheitlicher
Leitung an der Erhebung teilnehmen. Dazu fehlen aber augenblicklich noch
alle Vorbedingungen. Auf der Karte erscheint die vorderindische Halbinsel
zwar als ein politisches Ganzes; in der Wirklichkeit ist indessen die Bezeichnung
Indien nur ein geographischer Begriff. Denn, wie ich schon früher betonte,
nirgends auf der ganzen Erde gibt es ein solches Sprachenbabel, so scharfe und
unausgleichbare religiöse und politische Gegensätze, wie in Indien. Schon die
sprachliche Verständigung der verschiedenen Gruppen untereinander würde die
größten Schwierigkeiten bereiten; die Eifersucht und Empfindlichkeit der einge¬
borenen Fürsten (die mit ihrem gesicherten Besitz, ihren geordneten Finanzen
im Grunde heute viel besser daran sind, als in den Zeiten ihrer Despoten¬
herrlichkeit) würde wahrscheinlich die Wahl eines allgemein anerkannten Führers
selbst dann unmöglich machen, wenn keine englischen Schachzüge der Einigung
entgegen arbeiteten. Die Frage, wie sich der tief eingewurzelte religiöse Zwie¬
spalt beseitigen ließe, könnte wohl heute kein Inder in befriedigender Weise
beantworten. Die große Masse des niederen Volkes ist endlich noch gar nicht
genügend im Sinne der national-indischen Idee bearbeitet, um sich auf ein
gegebenes Zeichen wie ein Mann zu erheben. Sie würde sich wahrscheinlich
heute ebenso wie 1857 völlig passiv verhalten. Noch besteht also keine Möglichkeit,
die Kräfte zu entfesseln, welche Englands Herrschaft über Indien ins Wanken
bringen könnte.

Anderseits können natürlich die Engländer nicht damit rechnen, daß dieser
für sie so günstige Zustand unverändert weiterbestehen wird. Je länger die
heterogenen Teile Indiens künstlich zusammengehalten werden, um so stärker
müssen sich zwischen diesen Teilen anziehende Kräfte geltend machen. Ohne es
zu wollen wird England durch seine langjährige Beherrschung der ganzen


Die Engländer in Indien

gefahr. Der Arm der Terroristen reichte sogar bis London, wo ihnen der
Sekretär für Indien, Curzon Wheely zum Opfer fiel. In den letzten
Jahren sprach man daher auch in Indien ganz offen davon, daß demnächst eine
Wiedereroberung Bengalens notwendig werden würde.

Ich habe oben auseinandergesetzt, warum eine solche Wendung der Dinge
den Engländern nicht einmal unwillkommen sein würde. Ernstlich erschüttert
kann die englische Herrschaft durch solche Teilrevolutionen kaum werden,
wenigstens nicht, solange England in der übrigen Welt freie Hand hat. Eine
europäische Krise, welche die englische Regierung hinderte, im Bedarfsfalle Ver¬
stärkungen nach Indien zu schicken oder gar zu einer Schwächung der indischen
Okkupationsarmee zwänge, würde natürlich den indischen Besitz sofort schwer
gefährden. Ebenso könnte das Erscheinen einer modernen feindlichen Armee an
der indischen Grenze unabsehbare Folgen haben. Solche Möglichkeiten möchte
ich indessen hier ausscheiden und bloß den Fall ins Auge fassen, daß Indien
aus eigener Kraft versucht das fremde Joch abzuschütteln. Augenscheinlich kann
ein solcher Versuch nur dann glücken, wenn das ganze Volk oder wenigstens
sehr große Teile desselben in völliger Übereinstimmung und unter einheitlicher
Leitung an der Erhebung teilnehmen. Dazu fehlen aber augenblicklich noch
alle Vorbedingungen. Auf der Karte erscheint die vorderindische Halbinsel
zwar als ein politisches Ganzes; in der Wirklichkeit ist indessen die Bezeichnung
Indien nur ein geographischer Begriff. Denn, wie ich schon früher betonte,
nirgends auf der ganzen Erde gibt es ein solches Sprachenbabel, so scharfe und
unausgleichbare religiöse und politische Gegensätze, wie in Indien. Schon die
sprachliche Verständigung der verschiedenen Gruppen untereinander würde die
größten Schwierigkeiten bereiten; die Eifersucht und Empfindlichkeit der einge¬
borenen Fürsten (die mit ihrem gesicherten Besitz, ihren geordneten Finanzen
im Grunde heute viel besser daran sind, als in den Zeiten ihrer Despoten¬
herrlichkeit) würde wahrscheinlich die Wahl eines allgemein anerkannten Führers
selbst dann unmöglich machen, wenn keine englischen Schachzüge der Einigung
entgegen arbeiteten. Die Frage, wie sich der tief eingewurzelte religiöse Zwie¬
spalt beseitigen ließe, könnte wohl heute kein Inder in befriedigender Weise
beantworten. Die große Masse des niederen Volkes ist endlich noch gar nicht
genügend im Sinne der national-indischen Idee bearbeitet, um sich auf ein
gegebenes Zeichen wie ein Mann zu erheben. Sie würde sich wahrscheinlich
heute ebenso wie 1857 völlig passiv verhalten. Noch besteht also keine Möglichkeit,
die Kräfte zu entfesseln, welche Englands Herrschaft über Indien ins Wanken
bringen könnte.

Anderseits können natürlich die Engländer nicht damit rechnen, daß dieser
für sie so günstige Zustand unverändert weiterbestehen wird. Je länger die
heterogenen Teile Indiens künstlich zusammengehalten werden, um so stärker
müssen sich zwischen diesen Teilen anziehende Kräfte geltend machen. Ohne es
zu wollen wird England durch seine langjährige Beherrschung der ganzen


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[0339] Die Engländer in Indien gefahr. Der Arm der Terroristen reichte sogar bis London, wo ihnen der Sekretär für Indien, Curzon Wheely zum Opfer fiel. In den letzten Jahren sprach man daher auch in Indien ganz offen davon, daß demnächst eine Wiedereroberung Bengalens notwendig werden würde. Ich habe oben auseinandergesetzt, warum eine solche Wendung der Dinge den Engländern nicht einmal unwillkommen sein würde. Ernstlich erschüttert kann die englische Herrschaft durch solche Teilrevolutionen kaum werden, wenigstens nicht, solange England in der übrigen Welt freie Hand hat. Eine europäische Krise, welche die englische Regierung hinderte, im Bedarfsfalle Ver¬ stärkungen nach Indien zu schicken oder gar zu einer Schwächung der indischen Okkupationsarmee zwänge, würde natürlich den indischen Besitz sofort schwer gefährden. Ebenso könnte das Erscheinen einer modernen feindlichen Armee an der indischen Grenze unabsehbare Folgen haben. Solche Möglichkeiten möchte ich indessen hier ausscheiden und bloß den Fall ins Auge fassen, daß Indien aus eigener Kraft versucht das fremde Joch abzuschütteln. Augenscheinlich kann ein solcher Versuch nur dann glücken, wenn das ganze Volk oder wenigstens sehr große Teile desselben in völliger Übereinstimmung und unter einheitlicher Leitung an der Erhebung teilnehmen. Dazu fehlen aber augenblicklich noch alle Vorbedingungen. Auf der Karte erscheint die vorderindische Halbinsel zwar als ein politisches Ganzes; in der Wirklichkeit ist indessen die Bezeichnung Indien nur ein geographischer Begriff. Denn, wie ich schon früher betonte, nirgends auf der ganzen Erde gibt es ein solches Sprachenbabel, so scharfe und unausgleichbare religiöse und politische Gegensätze, wie in Indien. Schon die sprachliche Verständigung der verschiedenen Gruppen untereinander würde die größten Schwierigkeiten bereiten; die Eifersucht und Empfindlichkeit der einge¬ borenen Fürsten (die mit ihrem gesicherten Besitz, ihren geordneten Finanzen im Grunde heute viel besser daran sind, als in den Zeiten ihrer Despoten¬ herrlichkeit) würde wahrscheinlich die Wahl eines allgemein anerkannten Führers selbst dann unmöglich machen, wenn keine englischen Schachzüge der Einigung entgegen arbeiteten. Die Frage, wie sich der tief eingewurzelte religiöse Zwie¬ spalt beseitigen ließe, könnte wohl heute kein Inder in befriedigender Weise beantworten. Die große Masse des niederen Volkes ist endlich noch gar nicht genügend im Sinne der national-indischen Idee bearbeitet, um sich auf ein gegebenes Zeichen wie ein Mann zu erheben. Sie würde sich wahrscheinlich heute ebenso wie 1857 völlig passiv verhalten. Noch besteht also keine Möglichkeit, die Kräfte zu entfesseln, welche Englands Herrschaft über Indien ins Wanken bringen könnte. Anderseits können natürlich die Engländer nicht damit rechnen, daß dieser für sie so günstige Zustand unverändert weiterbestehen wird. Je länger die heterogenen Teile Indiens künstlich zusammengehalten werden, um so stärker müssen sich zwischen diesen Teilen anziehende Kräfte geltend machen. Ohne es zu wollen wird England durch seine langjährige Beherrschung der ganzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/339>, abgerufen am 22.12.2024.