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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Nietzsche und sein Biograph

Bücher, ja aus dem ganzen umfangreichen Werk habe ich zwar vielerlei Einzel¬
belehrung im Tatsächlichen, aber nicht eine Erkenntnis gewonnen, die mich
weiter oder tiefer geführt hätte als die einfache Lektüre Nietzsches. Ja, Meyers
sachliche Analyse bleibt eigentlich überall dicht unter der Oberfläche stecken.

Die Sache ist mit einem Worte die: trotz immer neuer Formulierung
hat der Biograph den Kern dieser Persönlichkeit nicht aufgedeckt. Dieser ist
weder bezeichnet, wenn (S. 181) Nietzsches Forschungsprobleme unter die Formel
gebracht werden: was lehrt die Geschichte der menschlichen Kultur über die
Möglichkeiten einer höchsten Kultur? -- noch gar, wenn (S. 676 ff ) seine Per¬
sönlichkeit zusammengesetzt wird aus Ernst, Vornehmheit und Schaffenslust!
Der seelische Urgrund, aus dem ganz allein Nietzsches Leben und Schaffen be¬
griffen werden kann und muß, ist vielmehr die Tatsache, daß er ein ausschlie߬
lich ethisch orientierter Mensch ist, in demselben Sinne wie z. B. Christus. Das
einzige ethische Problem aber, um das sich bewußt oder unbewußt sein Denken
und Wollen dreht, ist das Problem aller ethischen Persönlichkeiten: die Frage
nach dem Sinn, d. h. nach dem Wert von Welt und Leben. Von hier aus
allein muß begriffen werden, was ihn im Grunde zum Philosophieren treibt,
warum er aus dem Philosophen einen Psychologen macht, warum er die her¬
gebrachte europäische Moral kritisiert und umzustürzen droht; warum er endlich
auf den fanatischen Einfall kommt, dieser sinnlos gewordenen Welt einen neuen
Sinn zu geben, d. h. aufzuzwingen; und warum und mit welchem Recht dieser
neue Sinn gerade der Übermensch sein muß.

Diesen Zusammenhang und diese Wurzel zeigt Meyers Buch nicht auf. Er
sieht in Nietzsche vor allem einen theoretischen Philosophen. Daß dieser Philo¬
soph praktisch sein will, wird zwar immer wieder betont, aber nirgends begreif¬
lich gemacht, und Nietzsches Anspruch, ein Religionsstifter zu sein, wirkt hier
als reiner Größenwahn. Aus diesem Grundfehler folgt zunächst eine falsche
Einschätzung der Theorie vom Willen zur Macht. Diese Formel hat für Nietzsche
ganz und gar nicht die Bedeutung wie für Schopenhauer der "Wille", wenn
Nietzsche selbst dies auch glauben mochte. Schopenhauers "Wille" ist wirklich
ein metaphysisches Prinzip, er bezeichnet das Absolute, das Ding an sich; er
ist ^- für Schopenhauer -- eine philosophische Erkenntnis. Nietzsches "Wille
zur Macht" ist lediglich ein ethisches Regulativ, ein Moralprinzip und ist meta¬
physisch sehr leicht zu widerlegen. Meyer überschätzt also den Philosophen in
Nietzsche, er unterschätzt ihn aber wieder, wenn er die Lehre von der ewigen
Wiederkunft darauf zurückführt, daß Nietzsche für seine Religion ein mystisches
Element brauchte! (S. 381 ff.) Der Trugschluß der Wiederkunft des Gleichen
ergibt sich leicht von selbst für jeden, dem die Welt sinnlos und -- im natur¬
wissenschaftlichen Sinne ziellos geworden ist, sobald er in diesem Chaos
festen Fuß zu fassen sucht. Übrigens weckt es doch wohl gegen Nietzsche, den
Denker, Verdacht, daß er den von Simmel schlagend geführten mathematischen


Nietzsche und sein Biograph

Bücher, ja aus dem ganzen umfangreichen Werk habe ich zwar vielerlei Einzel¬
belehrung im Tatsächlichen, aber nicht eine Erkenntnis gewonnen, die mich
weiter oder tiefer geführt hätte als die einfache Lektüre Nietzsches. Ja, Meyers
sachliche Analyse bleibt eigentlich überall dicht unter der Oberfläche stecken.

Die Sache ist mit einem Worte die: trotz immer neuer Formulierung
hat der Biograph den Kern dieser Persönlichkeit nicht aufgedeckt. Dieser ist
weder bezeichnet, wenn (S. 181) Nietzsches Forschungsprobleme unter die Formel
gebracht werden: was lehrt die Geschichte der menschlichen Kultur über die
Möglichkeiten einer höchsten Kultur? — noch gar, wenn (S. 676 ff ) seine Per¬
sönlichkeit zusammengesetzt wird aus Ernst, Vornehmheit und Schaffenslust!
Der seelische Urgrund, aus dem ganz allein Nietzsches Leben und Schaffen be¬
griffen werden kann und muß, ist vielmehr die Tatsache, daß er ein ausschlie߬
lich ethisch orientierter Mensch ist, in demselben Sinne wie z. B. Christus. Das
einzige ethische Problem aber, um das sich bewußt oder unbewußt sein Denken
und Wollen dreht, ist das Problem aller ethischen Persönlichkeiten: die Frage
nach dem Sinn, d. h. nach dem Wert von Welt und Leben. Von hier aus
allein muß begriffen werden, was ihn im Grunde zum Philosophieren treibt,
warum er aus dem Philosophen einen Psychologen macht, warum er die her¬
gebrachte europäische Moral kritisiert und umzustürzen droht; warum er endlich
auf den fanatischen Einfall kommt, dieser sinnlos gewordenen Welt einen neuen
Sinn zu geben, d. h. aufzuzwingen; und warum und mit welchem Recht dieser
neue Sinn gerade der Übermensch sein muß.

Diesen Zusammenhang und diese Wurzel zeigt Meyers Buch nicht auf. Er
sieht in Nietzsche vor allem einen theoretischen Philosophen. Daß dieser Philo¬
soph praktisch sein will, wird zwar immer wieder betont, aber nirgends begreif¬
lich gemacht, und Nietzsches Anspruch, ein Religionsstifter zu sein, wirkt hier
als reiner Größenwahn. Aus diesem Grundfehler folgt zunächst eine falsche
Einschätzung der Theorie vom Willen zur Macht. Diese Formel hat für Nietzsche
ganz und gar nicht die Bedeutung wie für Schopenhauer der „Wille", wenn
Nietzsche selbst dies auch glauben mochte. Schopenhauers „Wille" ist wirklich
ein metaphysisches Prinzip, er bezeichnet das Absolute, das Ding an sich; er
ist ^- für Schopenhauer — eine philosophische Erkenntnis. Nietzsches „Wille
zur Macht" ist lediglich ein ethisches Regulativ, ein Moralprinzip und ist meta¬
physisch sehr leicht zu widerlegen. Meyer überschätzt also den Philosophen in
Nietzsche, er unterschätzt ihn aber wieder, wenn er die Lehre von der ewigen
Wiederkunft darauf zurückführt, daß Nietzsche für seine Religion ein mystisches
Element brauchte! (S. 381 ff.) Der Trugschluß der Wiederkunft des Gleichen
ergibt sich leicht von selbst für jeden, dem die Welt sinnlos und — im natur¬
wissenschaftlichen Sinne ziellos geworden ist, sobald er in diesem Chaos
festen Fuß zu fassen sucht. Übrigens weckt es doch wohl gegen Nietzsche, den
Denker, Verdacht, daß er den von Simmel schlagend geführten mathematischen


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[0284] Nietzsche und sein Biograph Bücher, ja aus dem ganzen umfangreichen Werk habe ich zwar vielerlei Einzel¬ belehrung im Tatsächlichen, aber nicht eine Erkenntnis gewonnen, die mich weiter oder tiefer geführt hätte als die einfache Lektüre Nietzsches. Ja, Meyers sachliche Analyse bleibt eigentlich überall dicht unter der Oberfläche stecken. Die Sache ist mit einem Worte die: trotz immer neuer Formulierung hat der Biograph den Kern dieser Persönlichkeit nicht aufgedeckt. Dieser ist weder bezeichnet, wenn (S. 181) Nietzsches Forschungsprobleme unter die Formel gebracht werden: was lehrt die Geschichte der menschlichen Kultur über die Möglichkeiten einer höchsten Kultur? — noch gar, wenn (S. 676 ff ) seine Per¬ sönlichkeit zusammengesetzt wird aus Ernst, Vornehmheit und Schaffenslust! Der seelische Urgrund, aus dem ganz allein Nietzsches Leben und Schaffen be¬ griffen werden kann und muß, ist vielmehr die Tatsache, daß er ein ausschlie߬ lich ethisch orientierter Mensch ist, in demselben Sinne wie z. B. Christus. Das einzige ethische Problem aber, um das sich bewußt oder unbewußt sein Denken und Wollen dreht, ist das Problem aller ethischen Persönlichkeiten: die Frage nach dem Sinn, d. h. nach dem Wert von Welt und Leben. Von hier aus allein muß begriffen werden, was ihn im Grunde zum Philosophieren treibt, warum er aus dem Philosophen einen Psychologen macht, warum er die her¬ gebrachte europäische Moral kritisiert und umzustürzen droht; warum er endlich auf den fanatischen Einfall kommt, dieser sinnlos gewordenen Welt einen neuen Sinn zu geben, d. h. aufzuzwingen; und warum und mit welchem Recht dieser neue Sinn gerade der Übermensch sein muß. Diesen Zusammenhang und diese Wurzel zeigt Meyers Buch nicht auf. Er sieht in Nietzsche vor allem einen theoretischen Philosophen. Daß dieser Philo¬ soph praktisch sein will, wird zwar immer wieder betont, aber nirgends begreif¬ lich gemacht, und Nietzsches Anspruch, ein Religionsstifter zu sein, wirkt hier als reiner Größenwahn. Aus diesem Grundfehler folgt zunächst eine falsche Einschätzung der Theorie vom Willen zur Macht. Diese Formel hat für Nietzsche ganz und gar nicht die Bedeutung wie für Schopenhauer der „Wille", wenn Nietzsche selbst dies auch glauben mochte. Schopenhauers „Wille" ist wirklich ein metaphysisches Prinzip, er bezeichnet das Absolute, das Ding an sich; er ist ^- für Schopenhauer — eine philosophische Erkenntnis. Nietzsches „Wille zur Macht" ist lediglich ein ethisches Regulativ, ein Moralprinzip und ist meta¬ physisch sehr leicht zu widerlegen. Meyer überschätzt also den Philosophen in Nietzsche, er unterschätzt ihn aber wieder, wenn er die Lehre von der ewigen Wiederkunft darauf zurückführt, daß Nietzsche für seine Religion ein mystisches Element brauchte! (S. 381 ff.) Der Trugschluß der Wiederkunft des Gleichen ergibt sich leicht von selbst für jeden, dem die Welt sinnlos und — im natur¬ wissenschaftlichen Sinne ziellos geworden ist, sobald er in diesem Chaos festen Fuß zu fassen sucht. Übrigens weckt es doch wohl gegen Nietzsche, den Denker, Verdacht, daß er den von Simmel schlagend geführten mathematischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/284>, abgerufen am 27.07.2024.