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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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^cictzschc und sein Biograph

nicht denkbar sind (wie Meyer selbst in anderem Zusammenhange andeutet).
Und wenn man schon soweit zurückgeht, wie es hier geschieht, so sollte auch
der Name I. I. Rousseaus genannt werden, der -- bei aller sachlichen Ver¬
schiedenheit -- schon einmal und mit ungeheuerer Energie, vielleicht auch mit
ähnlichem Erfolg und Mißerfolg den Versuch einer Umwertung und einer Neu¬
gründung der europäischen Kultur unternommen hat.

Ich sehe das Hauptverdienst von Meyers Buch in der literarischen Analyse
der einzelnen Werke, in dem Nachweis ihrer innerlichen Einheitlichkeit bei apho¬
ristischer Form, sowie in der selbständigen kritischen Würdigung. Man wird
im ganzen dem Urteil zustimmen müssen, daß der eigentliche Aufstieg mit dem
"Zarathrusta", ja im Grunde schon mit der "Fröhlichen Wissenschaft" ab¬
geschlossen ist -- wenngleich mir der "Wille zur Macht" unterschätzt scheint.
Ob man mit Meyer im "Zarathustra" ein Epos sehen will, das moderne
Epos, mag jeder mit sich abmachen; die eigentlich epischen Elemente sind doch
wohl das schwächste daran, und wie man dieses inkommensurable Werk ein¬
ordnet, ist ziemlich belanglos. Über seine ungeheuere Bedeutung besteht ja
kein Zweifel.

Mit alledem ist die Aufgabe eines Buches über Nietzsche, auch eines philo¬
logischen, gerade eines philologischen, noch nicht erfüllt. Das Wichtigste bleibt
die Darstellung der Persönlichkeit und die Auseinandersetzung mit seiner "Philo¬
sophie", wie wir vorläufig sagen wollen. Daß Nietzsche nicht nur Bücher
schrieb, daß diese Bücher vielmehr einen sachlichen Inhalt haben, der wahr
oder falsch ist, den man annehmen oder bekämpfen muß, das hebt den Nietzsche-
Biographen über den Literarhistoriker weit hinaus. Und daß Nietzsches Lehre
in ganz enger und nicht immer harmonischer Beziehung zu seinem Leben steht,
das macht diese Aufgabe so schwierig und so reizvoll wie kaum eine andere.

Meyer weiß das so gut wie wir, und er steckt sich das Ziel weit genug;
aber es muß leider gesagt werden: dieser höheren Aufgabe wird weder seine
Darstellungsgabe noch sein philosophischer Scharfsinn gerecht.

Für Meyers Arbeitsweise ist die Einteilung seines Buches bezeichnend.
"Die Persönlichkeit" will er darstellen und er gibt "das Leben" besonders, "das
Studium" besonders (im wesentlichen nur eine Übersicht über Nietzsches Lektüre),
"die Persönlichkeit" besonders, "die Briefe" besonders (dies Kapitel, eins der
besten überhaupt, gibt -- bezeichnend genug -- die lebendigste Darstellung des
Menschen Nietzsche); es wird nicht nur jedes Werk für sich abgehandelt (was
notwendig ist), sondern bei jedem Werk auch die Paralipomena für sich (die
vielmehr für die Betrachtung des Buches selbst benutzt werden müßten).

Vielleicht hält der Verfasser dies Verfahren für analytisch. Das ist es
nicht, sondern es heißt den Organismus zerhacken und die toten Teile neben-
einander legen. Das Resultat ist denn auch, daß weder von der Persönlichkeit
noch von ihrem Wollen und Wirken ein deutliches Bild entsteht. Aus den
eingehenden, mit warmer Anteilnahme geschriebenen Untersuchungen der einzelnen


^cictzschc und sein Biograph

nicht denkbar sind (wie Meyer selbst in anderem Zusammenhange andeutet).
Und wenn man schon soweit zurückgeht, wie es hier geschieht, so sollte auch
der Name I. I. Rousseaus genannt werden, der — bei aller sachlichen Ver¬
schiedenheit — schon einmal und mit ungeheuerer Energie, vielleicht auch mit
ähnlichem Erfolg und Mißerfolg den Versuch einer Umwertung und einer Neu¬
gründung der europäischen Kultur unternommen hat.

Ich sehe das Hauptverdienst von Meyers Buch in der literarischen Analyse
der einzelnen Werke, in dem Nachweis ihrer innerlichen Einheitlichkeit bei apho¬
ristischer Form, sowie in der selbständigen kritischen Würdigung. Man wird
im ganzen dem Urteil zustimmen müssen, daß der eigentliche Aufstieg mit dem
„Zarathrusta", ja im Grunde schon mit der „Fröhlichen Wissenschaft" ab¬
geschlossen ist — wenngleich mir der „Wille zur Macht" unterschätzt scheint.
Ob man mit Meyer im „Zarathustra" ein Epos sehen will, das moderne
Epos, mag jeder mit sich abmachen; die eigentlich epischen Elemente sind doch
wohl das schwächste daran, und wie man dieses inkommensurable Werk ein¬
ordnet, ist ziemlich belanglos. Über seine ungeheuere Bedeutung besteht ja
kein Zweifel.

Mit alledem ist die Aufgabe eines Buches über Nietzsche, auch eines philo¬
logischen, gerade eines philologischen, noch nicht erfüllt. Das Wichtigste bleibt
die Darstellung der Persönlichkeit und die Auseinandersetzung mit seiner „Philo¬
sophie", wie wir vorläufig sagen wollen. Daß Nietzsche nicht nur Bücher
schrieb, daß diese Bücher vielmehr einen sachlichen Inhalt haben, der wahr
oder falsch ist, den man annehmen oder bekämpfen muß, das hebt den Nietzsche-
Biographen über den Literarhistoriker weit hinaus. Und daß Nietzsches Lehre
in ganz enger und nicht immer harmonischer Beziehung zu seinem Leben steht,
das macht diese Aufgabe so schwierig und so reizvoll wie kaum eine andere.

Meyer weiß das so gut wie wir, und er steckt sich das Ziel weit genug;
aber es muß leider gesagt werden: dieser höheren Aufgabe wird weder seine
Darstellungsgabe noch sein philosophischer Scharfsinn gerecht.

Für Meyers Arbeitsweise ist die Einteilung seines Buches bezeichnend.
„Die Persönlichkeit" will er darstellen und er gibt „das Leben" besonders, „das
Studium" besonders (im wesentlichen nur eine Übersicht über Nietzsches Lektüre),
„die Persönlichkeit" besonders, „die Briefe" besonders (dies Kapitel, eins der
besten überhaupt, gibt — bezeichnend genug — die lebendigste Darstellung des
Menschen Nietzsche); es wird nicht nur jedes Werk für sich abgehandelt (was
notwendig ist), sondern bei jedem Werk auch die Paralipomena für sich (die
vielmehr für die Betrachtung des Buches selbst benutzt werden müßten).

Vielleicht hält der Verfasser dies Verfahren für analytisch. Das ist es
nicht, sondern es heißt den Organismus zerhacken und die toten Teile neben-
einander legen. Das Resultat ist denn auch, daß weder von der Persönlichkeit
noch von ihrem Wollen und Wirken ein deutliches Bild entsteht. Aus den
eingehenden, mit warmer Anteilnahme geschriebenen Untersuchungen der einzelnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/283>, abgerufen am 30.12.2024.