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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Nietzsche und sein Biograph

Gegenbeweis (Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche S. 250 ff.) nicht
selbst gefunden hat.

Nietzsches Selbstschätzung wandelt sich und steigt ja ununterbrochen; Meyer
folgt ihm zu gläubig. Nach dem Biographen ist Nietzsche nicht nur ein großer
Philosoph, nicht nur ein großer Dichter, sondern auch noch und vor allem ein
Religionsstifter, der sich nicht mit totem Material begnügt wie der Künstler,
sondern am Menschen und an der Menschheit bildet und formt. Wäre Nietzsche
das alles, so hätten wir da ein noch nie erlebtes Phänomen menschlicher Viel¬
seitigkeit und Größe. Weder Vielseitigkeit noch Größe streiten wir ihm ab --
aber ein Philosoph nach Art der Spinoza, Leibniz, Kant war er nicht, ein
Dichter in dem Sinne wie viele große und kleine Poeten auch nicht, und er
verschmähte das tote Material nicht nur aus Größe des Wollens, sondern auch
weil er eine Erzählung, eine Ballade, eine Szene nicht zustande gebracht hätte.
Und was den Religionsstifter betrifft, so macht er zwar den Anspruch, es zu
sein; aber hier muß man nun doch fragen, warum er dieser neue Messias, der
er sein wollte, der nach seiner eigenen Lehre an dieser Stelle durchaus gefordert
wurde, und der er nach Anlage, Streben und Ernst auch sein könnte -- warum
er der am Ende doch nicht gewesen ist? Warum er einsam lebte, statt Jünger
zu sammeln? Lag es an der Zeit? War sie zu gebildet zur Jüngerschaft?
War er selbst vielleicht zu gebildet zum Propheten? Zu viel Bewußtsein, zu
wenig Natur? Hier, scheint mir, liegt das eigentliche Nietzsche-Problem, das
noch niemand in die Hand genommen hat. Und vorläufig verhält es sich doch
wohl so: Nietzsche hat die Rolle des Religionsstifters konzipiert und seine Vision
in geistreichen und großartigen Büchern mit unerhörter Sprachgewalt niedergelegt.
Aber gelebt hat er diese Rolle nicht. --

Eine Nietzsche-Biographie, die uns in die Tiefen dieser Probleme führt,
erwarten wir also noch.




Nietzsche und sein Biograph

Gegenbeweis (Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche S. 250 ff.) nicht
selbst gefunden hat.

Nietzsches Selbstschätzung wandelt sich und steigt ja ununterbrochen; Meyer
folgt ihm zu gläubig. Nach dem Biographen ist Nietzsche nicht nur ein großer
Philosoph, nicht nur ein großer Dichter, sondern auch noch und vor allem ein
Religionsstifter, der sich nicht mit totem Material begnügt wie der Künstler,
sondern am Menschen und an der Menschheit bildet und formt. Wäre Nietzsche
das alles, so hätten wir da ein noch nie erlebtes Phänomen menschlicher Viel¬
seitigkeit und Größe. Weder Vielseitigkeit noch Größe streiten wir ihm ab —
aber ein Philosoph nach Art der Spinoza, Leibniz, Kant war er nicht, ein
Dichter in dem Sinne wie viele große und kleine Poeten auch nicht, und er
verschmähte das tote Material nicht nur aus Größe des Wollens, sondern auch
weil er eine Erzählung, eine Ballade, eine Szene nicht zustande gebracht hätte.
Und was den Religionsstifter betrifft, so macht er zwar den Anspruch, es zu
sein; aber hier muß man nun doch fragen, warum er dieser neue Messias, der
er sein wollte, der nach seiner eigenen Lehre an dieser Stelle durchaus gefordert
wurde, und der er nach Anlage, Streben und Ernst auch sein könnte — warum
er der am Ende doch nicht gewesen ist? Warum er einsam lebte, statt Jünger
zu sammeln? Lag es an der Zeit? War sie zu gebildet zur Jüngerschaft?
War er selbst vielleicht zu gebildet zum Propheten? Zu viel Bewußtsein, zu
wenig Natur? Hier, scheint mir, liegt das eigentliche Nietzsche-Problem, das
noch niemand in die Hand genommen hat. Und vorläufig verhält es sich doch
wohl so: Nietzsche hat die Rolle des Religionsstifters konzipiert und seine Vision
in geistreichen und großartigen Büchern mit unerhörter Sprachgewalt niedergelegt.
Aber gelebt hat er diese Rolle nicht. —

Eine Nietzsche-Biographie, die uns in die Tiefen dieser Probleme führt,
erwarten wir also noch.




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[0285] Nietzsche und sein Biograph Gegenbeweis (Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche S. 250 ff.) nicht selbst gefunden hat. Nietzsches Selbstschätzung wandelt sich und steigt ja ununterbrochen; Meyer folgt ihm zu gläubig. Nach dem Biographen ist Nietzsche nicht nur ein großer Philosoph, nicht nur ein großer Dichter, sondern auch noch und vor allem ein Religionsstifter, der sich nicht mit totem Material begnügt wie der Künstler, sondern am Menschen und an der Menschheit bildet und formt. Wäre Nietzsche das alles, so hätten wir da ein noch nie erlebtes Phänomen menschlicher Viel¬ seitigkeit und Größe. Weder Vielseitigkeit noch Größe streiten wir ihm ab — aber ein Philosoph nach Art der Spinoza, Leibniz, Kant war er nicht, ein Dichter in dem Sinne wie viele große und kleine Poeten auch nicht, und er verschmähte das tote Material nicht nur aus Größe des Wollens, sondern auch weil er eine Erzählung, eine Ballade, eine Szene nicht zustande gebracht hätte. Und was den Religionsstifter betrifft, so macht er zwar den Anspruch, es zu sein; aber hier muß man nun doch fragen, warum er dieser neue Messias, der er sein wollte, der nach seiner eigenen Lehre an dieser Stelle durchaus gefordert wurde, und der er nach Anlage, Streben und Ernst auch sein könnte — warum er der am Ende doch nicht gewesen ist? Warum er einsam lebte, statt Jünger zu sammeln? Lag es an der Zeit? War sie zu gebildet zur Jüngerschaft? War er selbst vielleicht zu gebildet zum Propheten? Zu viel Bewußtsein, zu wenig Natur? Hier, scheint mir, liegt das eigentliche Nietzsche-Problem, das noch niemand in die Hand genommen hat. Und vorläufig verhält es sich doch wohl so: Nietzsche hat die Rolle des Religionsstifters konzipiert und seine Vision in geistreichen und großartigen Büchern mit unerhörter Sprachgewalt niedergelegt. Aber gelebt hat er diese Rolle nicht. — Eine Nietzsche-Biographie, die uns in die Tiefen dieser Probleme führt, erwarten wir also noch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/285>, abgerufen am 21.12.2024.