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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Nach dem Fall von Skutari

nicht der Hilfsquellen beraubt, deren Entwicklung allein es zu einem erträg¬
lichen Nachbarn machen kann. Also auch eine Exekution von Europa, die dem
trotzköpfigen Kleinstaat Skutari rin Gewalt entwindet, wird immer mit mög¬
lichster Glimpflichkeit verfahren müssen. Es ist nicht zu leugnen, daß man
einem in der Kultur weiter fortgeschrittenen Staat ob solcher Anschauungen
wohl mit vollem Recht den Vorwurf einer gehörigen Frivolität machen würde.
Aber der Psychologe wird zugeben, daß Gedankengänge, die im Nahmen eines
komplizierten Systems von Begriffen wohl frivol erscheinen können, bei einer
im ganzen urwüchsigeren und einfacheren Denkweise einen ganz anderen Cha¬
rakter annehmen, weil sie dieser Entwicklungsstufe natürlich sind. Es geht hier
ähnlich wie mit der natürlichen Derbheit des einfachen Menschen, die in gleicher
Gestalt bei einem verfeinerten Kulturmenschen Unsittlichkeit bedeuten würde.

Die Haltung Montenegros erklärt sich also zur Genüge aus sich selbst,
ohne daß man nötig hat, an geheime panslawistische Rückenstärkung zu glauben,
die vielleicht nicht ausgeschlossen ist, aber praktisch nicht so sehr ins Gewicht
fällt, wie das gemeinhin geglaubt wird. Nußland hat sich offiziell so sehr fest¬
gelegt, daß es auch inoffiziellen Gegenströmungen vorläufig die Hände gebunden
hat. Diese Bindung ist so stark, daß Kenner der russischen Politik, die sehr
wenig zu sanguinischen Urteilen geneigt sind und den Fanatismus und die
Unermüdlichkeit der panslawistischen Wühlarbeit keineswegs unterschätzen, doch
der Ansicht sind, auch ein etwaiger Sturz Ssasonows könne augenblicklich nur
die Bedeutung einer an ihm persönlich wegen seiner Politik geübten Rache
haben; denn auch ein panslawistischer Nachfolger Ssasonows werde den Seinen
erklären müssen, daß Nußland ohne schwere Einbuße an seinem Prestige und
seinen Interessen aus der eingeschlagenen Bahn des Zusammengehens mit den
Großmächten vorläufig nicht hinauskomme.

Der öffentlichen Begründung, die Ssasonow am 10. April in seinem
bekannten Exposö der russischen Balkanpolitik gegeben hat, kann die Anerkennung
nicht vorenthalten werden, daß sie in besonders geschickter und überzeugender
Weise den Anschluß Rußlands an den Standpunkt der Großmächte nicht aus
allgemeinen Erwägungen über die europäische Politik, über Krieg und Frieden
und ähnliches begründet, sondern aus dem wohlverstandenen russischen Interesse
selbst. Dieser Nachweis, so wie er tatsächlich geführt wird, gibt dem russischen
Staatsmann die sichere Stellung, von der aus der überraschend scharfe Tadel
des montenegrinischen Verhaltens überhaupt erst möglich wird, weiter aber auch
die Berechtigung, für seine Politik ein Vertrauen von den anderen Großmächten
zu fordern, wie er es sonst bei den obwaltenden Schwierigkeiten der Lage wohl
nicht in dem Maße erlangt hätte. Die Täuschung dieses Vertrauens würde
Rußland -- von allem Gefühlsmäßigen und Moralischen selbstverständlich ab¬
gesehen! -- den Vorwurf einer ganz zweckwidrigen, seinen eigenen Interessen
abträglichen Politik eintragen. Niemand -- auch nicht die Verbündeten Ru߬
lands -- würde verstehen, warum die russische Regierung die Notwendigkeit,


Nach dem Fall von Skutari

nicht der Hilfsquellen beraubt, deren Entwicklung allein es zu einem erträg¬
lichen Nachbarn machen kann. Also auch eine Exekution von Europa, die dem
trotzköpfigen Kleinstaat Skutari rin Gewalt entwindet, wird immer mit mög¬
lichster Glimpflichkeit verfahren müssen. Es ist nicht zu leugnen, daß man
einem in der Kultur weiter fortgeschrittenen Staat ob solcher Anschauungen
wohl mit vollem Recht den Vorwurf einer gehörigen Frivolität machen würde.
Aber der Psychologe wird zugeben, daß Gedankengänge, die im Nahmen eines
komplizierten Systems von Begriffen wohl frivol erscheinen können, bei einer
im ganzen urwüchsigeren und einfacheren Denkweise einen ganz anderen Cha¬
rakter annehmen, weil sie dieser Entwicklungsstufe natürlich sind. Es geht hier
ähnlich wie mit der natürlichen Derbheit des einfachen Menschen, die in gleicher
Gestalt bei einem verfeinerten Kulturmenschen Unsittlichkeit bedeuten würde.

Die Haltung Montenegros erklärt sich also zur Genüge aus sich selbst,
ohne daß man nötig hat, an geheime panslawistische Rückenstärkung zu glauben,
die vielleicht nicht ausgeschlossen ist, aber praktisch nicht so sehr ins Gewicht
fällt, wie das gemeinhin geglaubt wird. Nußland hat sich offiziell so sehr fest¬
gelegt, daß es auch inoffiziellen Gegenströmungen vorläufig die Hände gebunden
hat. Diese Bindung ist so stark, daß Kenner der russischen Politik, die sehr
wenig zu sanguinischen Urteilen geneigt sind und den Fanatismus und die
Unermüdlichkeit der panslawistischen Wühlarbeit keineswegs unterschätzen, doch
der Ansicht sind, auch ein etwaiger Sturz Ssasonows könne augenblicklich nur
die Bedeutung einer an ihm persönlich wegen seiner Politik geübten Rache
haben; denn auch ein panslawistischer Nachfolger Ssasonows werde den Seinen
erklären müssen, daß Nußland ohne schwere Einbuße an seinem Prestige und
seinen Interessen aus der eingeschlagenen Bahn des Zusammengehens mit den
Großmächten vorläufig nicht hinauskomme.

Der öffentlichen Begründung, die Ssasonow am 10. April in seinem
bekannten Exposö der russischen Balkanpolitik gegeben hat, kann die Anerkennung
nicht vorenthalten werden, daß sie in besonders geschickter und überzeugender
Weise den Anschluß Rußlands an den Standpunkt der Großmächte nicht aus
allgemeinen Erwägungen über die europäische Politik, über Krieg und Frieden
und ähnliches begründet, sondern aus dem wohlverstandenen russischen Interesse
selbst. Dieser Nachweis, so wie er tatsächlich geführt wird, gibt dem russischen
Staatsmann die sichere Stellung, von der aus der überraschend scharfe Tadel
des montenegrinischen Verhaltens überhaupt erst möglich wird, weiter aber auch
die Berechtigung, für seine Politik ein Vertrauen von den anderen Großmächten
zu fordern, wie er es sonst bei den obwaltenden Schwierigkeiten der Lage wohl
nicht in dem Maße erlangt hätte. Die Täuschung dieses Vertrauens würde
Rußland — von allem Gefühlsmäßigen und Moralischen selbstverständlich ab¬
gesehen! — den Vorwurf einer ganz zweckwidrigen, seinen eigenen Interessen
abträglichen Politik eintragen. Niemand — auch nicht die Verbündeten Ru߬
lands — würde verstehen, warum die russische Regierung die Notwendigkeit,


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[0216] Nach dem Fall von Skutari nicht der Hilfsquellen beraubt, deren Entwicklung allein es zu einem erträg¬ lichen Nachbarn machen kann. Also auch eine Exekution von Europa, die dem trotzköpfigen Kleinstaat Skutari rin Gewalt entwindet, wird immer mit mög¬ lichster Glimpflichkeit verfahren müssen. Es ist nicht zu leugnen, daß man einem in der Kultur weiter fortgeschrittenen Staat ob solcher Anschauungen wohl mit vollem Recht den Vorwurf einer gehörigen Frivolität machen würde. Aber der Psychologe wird zugeben, daß Gedankengänge, die im Nahmen eines komplizierten Systems von Begriffen wohl frivol erscheinen können, bei einer im ganzen urwüchsigeren und einfacheren Denkweise einen ganz anderen Cha¬ rakter annehmen, weil sie dieser Entwicklungsstufe natürlich sind. Es geht hier ähnlich wie mit der natürlichen Derbheit des einfachen Menschen, die in gleicher Gestalt bei einem verfeinerten Kulturmenschen Unsittlichkeit bedeuten würde. Die Haltung Montenegros erklärt sich also zur Genüge aus sich selbst, ohne daß man nötig hat, an geheime panslawistische Rückenstärkung zu glauben, die vielleicht nicht ausgeschlossen ist, aber praktisch nicht so sehr ins Gewicht fällt, wie das gemeinhin geglaubt wird. Nußland hat sich offiziell so sehr fest¬ gelegt, daß es auch inoffiziellen Gegenströmungen vorläufig die Hände gebunden hat. Diese Bindung ist so stark, daß Kenner der russischen Politik, die sehr wenig zu sanguinischen Urteilen geneigt sind und den Fanatismus und die Unermüdlichkeit der panslawistischen Wühlarbeit keineswegs unterschätzen, doch der Ansicht sind, auch ein etwaiger Sturz Ssasonows könne augenblicklich nur die Bedeutung einer an ihm persönlich wegen seiner Politik geübten Rache haben; denn auch ein panslawistischer Nachfolger Ssasonows werde den Seinen erklären müssen, daß Nußland ohne schwere Einbuße an seinem Prestige und seinen Interessen aus der eingeschlagenen Bahn des Zusammengehens mit den Großmächten vorläufig nicht hinauskomme. Der öffentlichen Begründung, die Ssasonow am 10. April in seinem bekannten Exposö der russischen Balkanpolitik gegeben hat, kann die Anerkennung nicht vorenthalten werden, daß sie in besonders geschickter und überzeugender Weise den Anschluß Rußlands an den Standpunkt der Großmächte nicht aus allgemeinen Erwägungen über die europäische Politik, über Krieg und Frieden und ähnliches begründet, sondern aus dem wohlverstandenen russischen Interesse selbst. Dieser Nachweis, so wie er tatsächlich geführt wird, gibt dem russischen Staatsmann die sichere Stellung, von der aus der überraschend scharfe Tadel des montenegrinischen Verhaltens überhaupt erst möglich wird, weiter aber auch die Berechtigung, für seine Politik ein Vertrauen von den anderen Großmächten zu fordern, wie er es sonst bei den obwaltenden Schwierigkeiten der Lage wohl nicht in dem Maße erlangt hätte. Die Täuschung dieses Vertrauens würde Rußland — von allem Gefühlsmäßigen und Moralischen selbstverständlich ab¬ gesehen! — den Vorwurf einer ganz zweckwidrigen, seinen eigenen Interessen abträglichen Politik eintragen. Niemand — auch nicht die Verbündeten Ru߬ lands — würde verstehen, warum die russische Regierung die Notwendigkeit,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/216>, abgerufen am 27.07.2024.