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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Nach dem Fall von Skutari

gerade im russischen Interesse unter Umständen auch den glaubens- und stamm¬
verwandten Balkanstaaten entgegenzutreten, mit so großer Geschicklichkeit und
Entschiedenheit nachgewiesen hat, wenn sie bei der ersten offenen Unbotmäßigkeit
eines solchen Staats sogleich wieder aus der Rolle fallen wollte. Der Grund
könnte doch nur sein, daß sie nachträglich doch noch den gefurchtsten Weltbrand
entzünden wollte. Dann würde sie aber erst recht den berechtigten Vorwurf
nicht nur der Panslawisten, sondern aller russischen Patrioten verdienen, daß sie
günstigere Augenblicke als den jetzigen habe vorübergehen lassen.

Auch noch anderes spricht gegen die Wahrscheinlichkeit, daß der montene¬
grinische Trotz allein die Vereinigung der Großmächte sprengen könnte. Da
müßte noch mancherlei dazwischen kommen, was sich jeder Berechnung und Vor¬
aussicht entzieht. Eine starke Garantie liegt in der Haltung Englands. Wenn
Sir Edward Gren während der ganzen Balkankrisis eine Politik verfolgt hat,
die -- man soll sich nur nicht darüber täuschen -- keineswegs von der ungeteilten
Zustimmung der Faktoren, mit denen er rechnen muß, getragen wird, so muß
er seine besonderen Gründe dafür haben. Engere Beziehungen zu Rußland und
Frankreich sind für die englische Weltpolitik sehr bequem. Die Triple-Entente
konnte aber lange Jahre nur als Gegengewicht oder -- wenn man will --
Gegensatz gegen den Dreibund gehalten werden. Dieses Schema der europäischen
Gruppierung bewährte sich, solange die einzige Frage nicht in den Vordergrund
trat, bei der der natürliche Verlauf der Dinge immer dahin führen muß, daß
die Interessen Englands und Rußlands kollidieren, wenn nicht rechtzeitig für
eine künstliche Hemmung und Ableitung gesorgt wird. Diese Frage ist die
Balkanfrage. Der englischen Diplomatie ist es nicht gelungen, die Balkankrisis
zu verhüten. Es blieben ihr nur zwei Wege, um das Interesse Englands
dabei zu wahren. Der eine Weg war eine Politik, die in ihrem Verlauf
die Triple - Entente sprengen mußte. Der andere Weg bestand darin,
daß England in dieser Situation den bis dahin festgehaltenen Gegen¬
satz zwischen Triple - Entente und Dreibund entschlossen fallen ließ und
versuchte, die beiden Gruppen zu einer Einheit aä non zusammenzubringen.
Daß England diesen zweiten Weg vorziehen mußte, liegt auf d.r Hand. Aber
es liegt auch weiter in der Natur der Sache, daß es auf diesem Wege solange
bleiben muß, bis für die Zustände auf der Balkanhalbinsel eine einigermaßen
befriedigende Form gefunden worden ist. Sir Edward Grey hat sehr fest und
sehr schnell die Konsequenzen aus diesen Erwägungen gezogen und dem be¬
freundeten Frankreich mit sanfter Bestimmtheit die Zügel aus der Hand ge¬
nommen, als dieses sich anschickte, eine Orientpolitik der Triple-Entente contra
Dreibund unter freundlicher Mitwirkung der panslawistischen Presse Rußlands
in die Wege zu leiten. Dem geeigneten Vermittler in der Person des Herrn
Jswolski hatte man ja in Paris zur Hand.

Die weitere Entwicklung ist bekannt. Deutschland griff die Aktion Greys
in richtiger Erkenntnis der weiteren günstigen Folgen verständnisvoll auf; es


Nach dem Fall von Skutari

gerade im russischen Interesse unter Umständen auch den glaubens- und stamm¬
verwandten Balkanstaaten entgegenzutreten, mit so großer Geschicklichkeit und
Entschiedenheit nachgewiesen hat, wenn sie bei der ersten offenen Unbotmäßigkeit
eines solchen Staats sogleich wieder aus der Rolle fallen wollte. Der Grund
könnte doch nur sein, daß sie nachträglich doch noch den gefurchtsten Weltbrand
entzünden wollte. Dann würde sie aber erst recht den berechtigten Vorwurf
nicht nur der Panslawisten, sondern aller russischen Patrioten verdienen, daß sie
günstigere Augenblicke als den jetzigen habe vorübergehen lassen.

Auch noch anderes spricht gegen die Wahrscheinlichkeit, daß der montene¬
grinische Trotz allein die Vereinigung der Großmächte sprengen könnte. Da
müßte noch mancherlei dazwischen kommen, was sich jeder Berechnung und Vor¬
aussicht entzieht. Eine starke Garantie liegt in der Haltung Englands. Wenn
Sir Edward Gren während der ganzen Balkankrisis eine Politik verfolgt hat,
die — man soll sich nur nicht darüber täuschen — keineswegs von der ungeteilten
Zustimmung der Faktoren, mit denen er rechnen muß, getragen wird, so muß
er seine besonderen Gründe dafür haben. Engere Beziehungen zu Rußland und
Frankreich sind für die englische Weltpolitik sehr bequem. Die Triple-Entente
konnte aber lange Jahre nur als Gegengewicht oder — wenn man will —
Gegensatz gegen den Dreibund gehalten werden. Dieses Schema der europäischen
Gruppierung bewährte sich, solange die einzige Frage nicht in den Vordergrund
trat, bei der der natürliche Verlauf der Dinge immer dahin führen muß, daß
die Interessen Englands und Rußlands kollidieren, wenn nicht rechtzeitig für
eine künstliche Hemmung und Ableitung gesorgt wird. Diese Frage ist die
Balkanfrage. Der englischen Diplomatie ist es nicht gelungen, die Balkankrisis
zu verhüten. Es blieben ihr nur zwei Wege, um das Interesse Englands
dabei zu wahren. Der eine Weg war eine Politik, die in ihrem Verlauf
die Triple - Entente sprengen mußte. Der andere Weg bestand darin,
daß England in dieser Situation den bis dahin festgehaltenen Gegen¬
satz zwischen Triple - Entente und Dreibund entschlossen fallen ließ und
versuchte, die beiden Gruppen zu einer Einheit aä non zusammenzubringen.
Daß England diesen zweiten Weg vorziehen mußte, liegt auf d.r Hand. Aber
es liegt auch weiter in der Natur der Sache, daß es auf diesem Wege solange
bleiben muß, bis für die Zustände auf der Balkanhalbinsel eine einigermaßen
befriedigende Form gefunden worden ist. Sir Edward Grey hat sehr fest und
sehr schnell die Konsequenzen aus diesen Erwägungen gezogen und dem be¬
freundeten Frankreich mit sanfter Bestimmtheit die Zügel aus der Hand ge¬
nommen, als dieses sich anschickte, eine Orientpolitik der Triple-Entente contra
Dreibund unter freundlicher Mitwirkung der panslawistischen Presse Rußlands
in die Wege zu leiten. Dem geeigneten Vermittler in der Person des Herrn
Jswolski hatte man ja in Paris zur Hand.

Die weitere Entwicklung ist bekannt. Deutschland griff die Aktion Greys
in richtiger Erkenntnis der weiteren günstigen Folgen verständnisvoll auf; es


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[0217] Nach dem Fall von Skutari gerade im russischen Interesse unter Umständen auch den glaubens- und stamm¬ verwandten Balkanstaaten entgegenzutreten, mit so großer Geschicklichkeit und Entschiedenheit nachgewiesen hat, wenn sie bei der ersten offenen Unbotmäßigkeit eines solchen Staats sogleich wieder aus der Rolle fallen wollte. Der Grund könnte doch nur sein, daß sie nachträglich doch noch den gefurchtsten Weltbrand entzünden wollte. Dann würde sie aber erst recht den berechtigten Vorwurf nicht nur der Panslawisten, sondern aller russischen Patrioten verdienen, daß sie günstigere Augenblicke als den jetzigen habe vorübergehen lassen. Auch noch anderes spricht gegen die Wahrscheinlichkeit, daß der montene¬ grinische Trotz allein die Vereinigung der Großmächte sprengen könnte. Da müßte noch mancherlei dazwischen kommen, was sich jeder Berechnung und Vor¬ aussicht entzieht. Eine starke Garantie liegt in der Haltung Englands. Wenn Sir Edward Gren während der ganzen Balkankrisis eine Politik verfolgt hat, die — man soll sich nur nicht darüber täuschen — keineswegs von der ungeteilten Zustimmung der Faktoren, mit denen er rechnen muß, getragen wird, so muß er seine besonderen Gründe dafür haben. Engere Beziehungen zu Rußland und Frankreich sind für die englische Weltpolitik sehr bequem. Die Triple-Entente konnte aber lange Jahre nur als Gegengewicht oder — wenn man will — Gegensatz gegen den Dreibund gehalten werden. Dieses Schema der europäischen Gruppierung bewährte sich, solange die einzige Frage nicht in den Vordergrund trat, bei der der natürliche Verlauf der Dinge immer dahin führen muß, daß die Interessen Englands und Rußlands kollidieren, wenn nicht rechtzeitig für eine künstliche Hemmung und Ableitung gesorgt wird. Diese Frage ist die Balkanfrage. Der englischen Diplomatie ist es nicht gelungen, die Balkankrisis zu verhüten. Es blieben ihr nur zwei Wege, um das Interesse Englands dabei zu wahren. Der eine Weg war eine Politik, die in ihrem Verlauf die Triple - Entente sprengen mußte. Der andere Weg bestand darin, daß England in dieser Situation den bis dahin festgehaltenen Gegen¬ satz zwischen Triple - Entente und Dreibund entschlossen fallen ließ und versuchte, die beiden Gruppen zu einer Einheit aä non zusammenzubringen. Daß England diesen zweiten Weg vorziehen mußte, liegt auf d.r Hand. Aber es liegt auch weiter in der Natur der Sache, daß es auf diesem Wege solange bleiben muß, bis für die Zustände auf der Balkanhalbinsel eine einigermaßen befriedigende Form gefunden worden ist. Sir Edward Grey hat sehr fest und sehr schnell die Konsequenzen aus diesen Erwägungen gezogen und dem be¬ freundeten Frankreich mit sanfter Bestimmtheit die Zügel aus der Hand ge¬ nommen, als dieses sich anschickte, eine Orientpolitik der Triple-Entente contra Dreibund unter freundlicher Mitwirkung der panslawistischen Presse Rußlands in die Wege zu leiten. Dem geeigneten Vermittler in der Person des Herrn Jswolski hatte man ja in Paris zur Hand. Die weitere Entwicklung ist bekannt. Deutschland griff die Aktion Greys in richtiger Erkenntnis der weiteren günstigen Folgen verständnisvoll auf; es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/217>, abgerufen am 27.07.2024.