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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Nach dem Fall von Skutari

dem Bilde eines Staates mit Königtum, Parlament und Ministerium leicht die
Wirklichkeit der sehr primitiven Zustände, die sich unter dem modernen Firnis
verbergen. Dieses Volk hat in seiner rauhen, kargen, von größerem Verkehr
fast abgeschlossenen Heimat Jahrhunderte hindurch seine Freiheit gegen eine
glaubensfremde Übermacht verteidigen müssen; ist es zu verwundern, daß es
ihm vollständig unverständlich bleibt, wie eine Anzahl von fremden Mächten
ihm verbieten wollen, etwas zu nehmen, worauf es nach vielen Opfern an Gut
und Blut ein Recht zu haben glaubt? Dieses ganze Getriebe diplomatischer
Rücksichten und Abmachungen liegt doch selbstverständlich ganz fernab von dem,
was den Gedankenkreis des montenegrinischen Bauern erfüllt. Das Wirtschafts¬
leben entfaltet sich erst ganz allmählich zu größerer Vielseitigkeit; noch sind die
Zustände nicht überwunden, in denen sich der Bauer weniger als Landwirt
wie als Held und Krieger fühlte, der die eigentliche Arbeit den Frauen über¬
läßt. Je geringer aber die Arbeitsamkeit war und je weniger sie der wirt¬
schaftlichen Entwicklung des Landes diente, desto mehr gedieh der selbstbewußte
Kriegerstolz, der auch der Fürstenwürde nur eine bedingte und persönliche
Autorität zuwies. Der König ist daher mehr als anderswo an die Rücksichten
gebunden, die ihm weniger durch die fortgeschrittenen Kreise seines Volkes als
durch die volkstümlichen Anschauungen sehr ursprünglicher Art auferlegt werden.
Er weiß, daß seine Stellung nur soweit gesichert und anerkannt ist, als er
diese besondere nationale Denkweise respektiert, die von alledem, was die Ge¬
wöhnung an entwickeltere internationale Beziehungen den anderen europäischen
Völkern geläufig macht, nichts weiß und nichts wissen will.

So steht also der Herr der Schwarzen Berge zwischen zwei Feuern, und
wenn er sich am Ende seiner Erwägungen entschlossen hat, lieber den Zorn von
ganz Europa als den seines Volkes auf sich zu nehmen, so muß man weiter
daran denken, daß auch der anscheinende Heroismus, der in dieser Entscheidung
liegt, bei näherer Betrachtung sich in ein verhältnismäßig nüchternes Rechen¬
exempel auflöst. Nicht im Sinne einer Parallele oder eines wirklichen Ver¬
gleiches -- denn das würde eine schiefe Beurteilung und Übertreibung sein --,
wohl aber, um die allgemeine Auffassung der Lage in die richtige Bahn zu
lenken, mag daran erinnert sein, daß der Entschluß, sich pfänden zu lassen, für
den sehr erleichtert wird, der in der Lage ist. den Offenbarungseid zu leisten.
Es liegt eine bemerkenswerte Stärke darin, daß man nicht allzuviel zu ver¬
lieren hat. Kein anderer europäischer Staat könnte sich das leisten, was
Montenegro allenfalls wagen kann. Das Volk denkt noch kraftvoll und ur¬
sprünglich genug, um das, was die verzärtelten Kinder höherer Zivilisations¬
stufen am schwersten empfinden würden, nämlich die Blutopfer im engeren
Sinne, verhältnismäßig leicht und freudig zu tragen. Im übrigen aber weiß
der König, daß man seinem Lande nicht allzuviel Schaden antun kann und
wird. Es liegt im eigenen Interesse der Nachbarn Montenegros, daß man
dieseni zum größten Teil armen und rauhen Lande nicht zu viel zumutet, es
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Nach dem Fall von Skutari

dem Bilde eines Staates mit Königtum, Parlament und Ministerium leicht die
Wirklichkeit der sehr primitiven Zustände, die sich unter dem modernen Firnis
verbergen. Dieses Volk hat in seiner rauhen, kargen, von größerem Verkehr
fast abgeschlossenen Heimat Jahrhunderte hindurch seine Freiheit gegen eine
glaubensfremde Übermacht verteidigen müssen; ist es zu verwundern, daß es
ihm vollständig unverständlich bleibt, wie eine Anzahl von fremden Mächten
ihm verbieten wollen, etwas zu nehmen, worauf es nach vielen Opfern an Gut
und Blut ein Recht zu haben glaubt? Dieses ganze Getriebe diplomatischer
Rücksichten und Abmachungen liegt doch selbstverständlich ganz fernab von dem,
was den Gedankenkreis des montenegrinischen Bauern erfüllt. Das Wirtschafts¬
leben entfaltet sich erst ganz allmählich zu größerer Vielseitigkeit; noch sind die
Zustände nicht überwunden, in denen sich der Bauer weniger als Landwirt
wie als Held und Krieger fühlte, der die eigentliche Arbeit den Frauen über¬
läßt. Je geringer aber die Arbeitsamkeit war und je weniger sie der wirt¬
schaftlichen Entwicklung des Landes diente, desto mehr gedieh der selbstbewußte
Kriegerstolz, der auch der Fürstenwürde nur eine bedingte und persönliche
Autorität zuwies. Der König ist daher mehr als anderswo an die Rücksichten
gebunden, die ihm weniger durch die fortgeschrittenen Kreise seines Volkes als
durch die volkstümlichen Anschauungen sehr ursprünglicher Art auferlegt werden.
Er weiß, daß seine Stellung nur soweit gesichert und anerkannt ist, als er
diese besondere nationale Denkweise respektiert, die von alledem, was die Ge¬
wöhnung an entwickeltere internationale Beziehungen den anderen europäischen
Völkern geläufig macht, nichts weiß und nichts wissen will.

So steht also der Herr der Schwarzen Berge zwischen zwei Feuern, und
wenn er sich am Ende seiner Erwägungen entschlossen hat, lieber den Zorn von
ganz Europa als den seines Volkes auf sich zu nehmen, so muß man weiter
daran denken, daß auch der anscheinende Heroismus, der in dieser Entscheidung
liegt, bei näherer Betrachtung sich in ein verhältnismäßig nüchternes Rechen¬
exempel auflöst. Nicht im Sinne einer Parallele oder eines wirklichen Ver¬
gleiches — denn das würde eine schiefe Beurteilung und Übertreibung sein —,
wohl aber, um die allgemeine Auffassung der Lage in die richtige Bahn zu
lenken, mag daran erinnert sein, daß der Entschluß, sich pfänden zu lassen, für
den sehr erleichtert wird, der in der Lage ist. den Offenbarungseid zu leisten.
Es liegt eine bemerkenswerte Stärke darin, daß man nicht allzuviel zu ver¬
lieren hat. Kein anderer europäischer Staat könnte sich das leisten, was
Montenegro allenfalls wagen kann. Das Volk denkt noch kraftvoll und ur¬
sprünglich genug, um das, was die verzärtelten Kinder höherer Zivilisations¬
stufen am schwersten empfinden würden, nämlich die Blutopfer im engeren
Sinne, verhältnismäßig leicht und freudig zu tragen. Im übrigen aber weiß
der König, daß man seinem Lande nicht allzuviel Schaden antun kann und
wird. Es liegt im eigenen Interesse der Nachbarn Montenegros, daß man
dieseni zum größten Teil armen und rauhen Lande nicht zu viel zumutet, es
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/215>, abgerufen am 27.07.2024.