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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Georg Aerschensteiners Begriff der Arbeitsschule

sittlich anregt und den intelligenten Teil der Jugend in das Verständnis des
modernen Staatslebens und seiner Verhältnisse einführt."

Das alles scheint mir zugleich praktisch und ideal gedacht; nur damit kann
ich nicht übereinstimmen, daß Kerschensteiner einen besonderen staatsbürgerlichen
Unterricht in den höheren Schulen für entbehrlich hält: "Wenn der Geschichts¬
unterricht aufhört, ein Frage- und Antwortspiel über den Inhalt der amtlich
vorgeschriebenen Leitfäden zu sein, wenn er unseren reiferen Primanern das
Recht und die Möglichkeit gibt, an Hand der besten Quellen und Geschichtswerke
der Schülerbibliotheken über die Erscheinungen einer reichbewegter Zeit selbst¬
ständig nachzudenken . . . dann können wir beruhigt den speziellen staatsbürger¬
lichen Unterricht zu den Akten legen."

Geschichtsunterricht und deutscher Unterricht werden sich am schwersten im
Sinne der Arbeitsschule gestalten lassen, eher noch der Religionsunterricht, für
den schon Pestalozzi*) das rechte Beispiel gegeben hat. Kerschensteiner hat in
den oben angeführten Sätzen entschieden den besten, fast allgemein anerkannten
Weg gewiesen, den Weg zur Vertiefung und Erarbeitung innerlich erschauten
historischen Wissens; der soll zur Begeisterung führen, und die Begeisterung soll
in Taten umgesetzt werden, wie ja auch Bismarck bescheiden nach der Gründung
des Reiches zu seinem alten Lehrer sagte: "Nun, ich habe so etwas an Ihren
Fäden weiter gesponnen." Trotzdem geht es im modernen Parteileben, in der
Suche nach Anschluß an eine Partei nicht ohne spezielle Kenntnisse des politischen
und sozialen Lebens ab. Die Grundlage der politischen Schulung muß schon
in den Schülerjahren gegeben werden. Ob das nun nach besonderen Lehrbüchern
geschieht oder ob das Notwendige in das Lehrbuch der Geschichte aufgenommen
wird, ist gleichgültig. Ich möchte Herrn Kerschensteiner mit seinen eigenen
Waffen schlagen: ebenso wie er Arbeitsunterricht als Prinzip und als Fach
fordert, müssen wir auch staatsbürgerlichen Unterricht als Prinzip und als Fach
bekommen.

Im übrigen kann ich mich auch mit dem vollständig vereinen, was Kerschen¬
steiner über die Organisation der höheren Schulen im Sinne des Arbeitsschul¬
prinzips in seinem Aufsatz "Die fünf Fundamentalsätze sür die Organisation
höherer Schulen" fordert. Um so mehr, als ich auf eignen Wegen zu denselben
Zielen gekommen bin. Leider kannte ich bei Abfassung meiner einschlägigen
Aufsätze in Ur. 20. 1912 der Grenzboten und Ur. 9. 1912 des Säemanns
Kerschensteiners Schriften noch nicht, sonst hätte ich es mir nicht versagt, auf
diesen gewaltigen Kronzeugen für die Vereinheitlichung des Schulstils hinzuweisen.

Auch für Kerscheusteiner ist "die Einheit des Bildungsstoffes die erste
Grundforderung für die Ausgestaltung der höheren neunklassigen Schulen", auch
er betont, daß "alle Erziehung mit den natürlichen Interessen des Zöglings



*) Mit Recht hat deswegen Dr. von Hofe den betreffenden Abschnitt aus Lienhard und
Gertrud "Arbeitsschule" überschrieben; bgl. seine Auswahl von Pestalozzis Werken, Bd. II
S. 171 ff. Berlin 1912.
Georg Aerschensteiners Begriff der Arbeitsschule

sittlich anregt und den intelligenten Teil der Jugend in das Verständnis des
modernen Staatslebens und seiner Verhältnisse einführt."

Das alles scheint mir zugleich praktisch und ideal gedacht; nur damit kann
ich nicht übereinstimmen, daß Kerschensteiner einen besonderen staatsbürgerlichen
Unterricht in den höheren Schulen für entbehrlich hält: „Wenn der Geschichts¬
unterricht aufhört, ein Frage- und Antwortspiel über den Inhalt der amtlich
vorgeschriebenen Leitfäden zu sein, wenn er unseren reiferen Primanern das
Recht und die Möglichkeit gibt, an Hand der besten Quellen und Geschichtswerke
der Schülerbibliotheken über die Erscheinungen einer reichbewegter Zeit selbst¬
ständig nachzudenken . . . dann können wir beruhigt den speziellen staatsbürger¬
lichen Unterricht zu den Akten legen."

Geschichtsunterricht und deutscher Unterricht werden sich am schwersten im
Sinne der Arbeitsschule gestalten lassen, eher noch der Religionsunterricht, für
den schon Pestalozzi*) das rechte Beispiel gegeben hat. Kerschensteiner hat in
den oben angeführten Sätzen entschieden den besten, fast allgemein anerkannten
Weg gewiesen, den Weg zur Vertiefung und Erarbeitung innerlich erschauten
historischen Wissens; der soll zur Begeisterung führen, und die Begeisterung soll
in Taten umgesetzt werden, wie ja auch Bismarck bescheiden nach der Gründung
des Reiches zu seinem alten Lehrer sagte: „Nun, ich habe so etwas an Ihren
Fäden weiter gesponnen." Trotzdem geht es im modernen Parteileben, in der
Suche nach Anschluß an eine Partei nicht ohne spezielle Kenntnisse des politischen
und sozialen Lebens ab. Die Grundlage der politischen Schulung muß schon
in den Schülerjahren gegeben werden. Ob das nun nach besonderen Lehrbüchern
geschieht oder ob das Notwendige in das Lehrbuch der Geschichte aufgenommen
wird, ist gleichgültig. Ich möchte Herrn Kerschensteiner mit seinen eigenen
Waffen schlagen: ebenso wie er Arbeitsunterricht als Prinzip und als Fach
fordert, müssen wir auch staatsbürgerlichen Unterricht als Prinzip und als Fach
bekommen.

Im übrigen kann ich mich auch mit dem vollständig vereinen, was Kerschen¬
steiner über die Organisation der höheren Schulen im Sinne des Arbeitsschul¬
prinzips in seinem Aufsatz „Die fünf Fundamentalsätze sür die Organisation
höherer Schulen" fordert. Um so mehr, als ich auf eignen Wegen zu denselben
Zielen gekommen bin. Leider kannte ich bei Abfassung meiner einschlägigen
Aufsätze in Ur. 20. 1912 der Grenzboten und Ur. 9. 1912 des Säemanns
Kerschensteiners Schriften noch nicht, sonst hätte ich es mir nicht versagt, auf
diesen gewaltigen Kronzeugen für die Vereinheitlichung des Schulstils hinzuweisen.

Auch für Kerscheusteiner ist „die Einheit des Bildungsstoffes die erste
Grundforderung für die Ausgestaltung der höheren neunklassigen Schulen", auch
er betont, daß „alle Erziehung mit den natürlichen Interessen des Zöglings



*) Mit Recht hat deswegen Dr. von Hofe den betreffenden Abschnitt aus Lienhard und
Gertrud „Arbeitsschule" überschrieben; bgl. seine Auswahl von Pestalozzis Werken, Bd. II
S. 171 ff. Berlin 1912.
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[0186] Georg Aerschensteiners Begriff der Arbeitsschule sittlich anregt und den intelligenten Teil der Jugend in das Verständnis des modernen Staatslebens und seiner Verhältnisse einführt." Das alles scheint mir zugleich praktisch und ideal gedacht; nur damit kann ich nicht übereinstimmen, daß Kerschensteiner einen besonderen staatsbürgerlichen Unterricht in den höheren Schulen für entbehrlich hält: „Wenn der Geschichts¬ unterricht aufhört, ein Frage- und Antwortspiel über den Inhalt der amtlich vorgeschriebenen Leitfäden zu sein, wenn er unseren reiferen Primanern das Recht und die Möglichkeit gibt, an Hand der besten Quellen und Geschichtswerke der Schülerbibliotheken über die Erscheinungen einer reichbewegter Zeit selbst¬ ständig nachzudenken . . . dann können wir beruhigt den speziellen staatsbürger¬ lichen Unterricht zu den Akten legen." Geschichtsunterricht und deutscher Unterricht werden sich am schwersten im Sinne der Arbeitsschule gestalten lassen, eher noch der Religionsunterricht, für den schon Pestalozzi*) das rechte Beispiel gegeben hat. Kerschensteiner hat in den oben angeführten Sätzen entschieden den besten, fast allgemein anerkannten Weg gewiesen, den Weg zur Vertiefung und Erarbeitung innerlich erschauten historischen Wissens; der soll zur Begeisterung führen, und die Begeisterung soll in Taten umgesetzt werden, wie ja auch Bismarck bescheiden nach der Gründung des Reiches zu seinem alten Lehrer sagte: „Nun, ich habe so etwas an Ihren Fäden weiter gesponnen." Trotzdem geht es im modernen Parteileben, in der Suche nach Anschluß an eine Partei nicht ohne spezielle Kenntnisse des politischen und sozialen Lebens ab. Die Grundlage der politischen Schulung muß schon in den Schülerjahren gegeben werden. Ob das nun nach besonderen Lehrbüchern geschieht oder ob das Notwendige in das Lehrbuch der Geschichte aufgenommen wird, ist gleichgültig. Ich möchte Herrn Kerschensteiner mit seinen eigenen Waffen schlagen: ebenso wie er Arbeitsunterricht als Prinzip und als Fach fordert, müssen wir auch staatsbürgerlichen Unterricht als Prinzip und als Fach bekommen. Im übrigen kann ich mich auch mit dem vollständig vereinen, was Kerschen¬ steiner über die Organisation der höheren Schulen im Sinne des Arbeitsschul¬ prinzips in seinem Aufsatz „Die fünf Fundamentalsätze sür die Organisation höherer Schulen" fordert. Um so mehr, als ich auf eignen Wegen zu denselben Zielen gekommen bin. Leider kannte ich bei Abfassung meiner einschlägigen Aufsätze in Ur. 20. 1912 der Grenzboten und Ur. 9. 1912 des Säemanns Kerschensteiners Schriften noch nicht, sonst hätte ich es mir nicht versagt, auf diesen gewaltigen Kronzeugen für die Vereinheitlichung des Schulstils hinzuweisen. Auch für Kerscheusteiner ist „die Einheit des Bildungsstoffes die erste Grundforderung für die Ausgestaltung der höheren neunklassigen Schulen", auch er betont, daß „alle Erziehung mit den natürlichen Interessen des Zöglings *) Mit Recht hat deswegen Dr. von Hofe den betreffenden Abschnitt aus Lienhard und Gertrud „Arbeitsschule" überschrieben; bgl. seine Auswahl von Pestalozzis Werken, Bd. II S. 171 ff. Berlin 1912.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/186>, abgerufen am 27.07.2024.