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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Georg Kerschensteiners Begriff der Arbeitsschule

anheben muß", daß das Dogma von der allseitigen Bildung an allem Elend
schuld ist und daß es Unsinn ist, die klassische Bildung oder die naturwissen¬
schaftliche oder die technische oder die neusprachliche für minderwertig zu erklären.
Minderwertig wird eine Schulart nicht durch den Stoff, sondern durch die Me¬
thode. "Ich kann mir," sagt er, "sehr wohl neben demi alten humanistischen
Gymnasium ein naturwissenschaftliches, ein neusprachliches, ein technisches Gym¬
nasium als völlig gleichwertige Bildungsanstalt denken, aber nicht ein huma-
nistisch-neusprachlich-naturwissenschaftlich-mathematisches Gymnasium, diesen Mops-
Pudel-Dachs-Pinscher gewisser Organisationsdilettanten." Deshalb muß die
Schule so organisiert sein -- ich habe das "bewegliche Schule" genannt --
daß sie allen besonderen Begabungen ihrer Zöglinge gerecht werden kann. Aber
das macht sie noch nicht zur Arbeitsschule in jenem höheren Kerschensteinerschen
Sinne. Zur Arbeitsschule wird sie erst, wenn sie "der staatsbürgerlichen Er¬
ziehung nicht bloß mit dem Worte, sondern auch in der Tat dient."

Das kann zum Teil in derselben Weise geschehen, wie es von Kerschen-
steiner schon praktisch in München an den Volksschulen ausgeführt worden ist;
aber noch mehr durch freiere Schuldisziplin, bei der die Schüler selbst eine weit
größere Rolle spielen würden, als das auch nach den bisherigen Versuchen mit
Schülerselbstverwaltung der Fall ist. Einsichtige Jnternatsleiter haben uns hier
schon den Weg gewiesen. Am meisten durch Förderung der Wärter- und
Sportvereine. Ganz besonders bietet sich in den Wandervereinen die anmutigste
und freieste Gelegenheit für die Erziehung zur Hingabesittlichkeit.

Wir werden noch einige Mühe haben, den Unterricht didaktisch nach dem
Grundsatz der Arbeitsschule einzurichten. Wir alle müssen ganz gewaltig um¬
lernen, wenn wir uns gewöhnen sollen, daß wir ja mehr und mehr bei der
Erziehung überflüssig werden, und doch ist die beste Erziehung die, bei der der
Erzieher fortfällt. Was wir aber zum Segen unseres Nachwuchses sofort in
die Tat unisetzen können, ist die Verselbständigung der Schüler im Unterricht
durch Freiheit in den häuslichen Arbeiten und die praktische staatsbürgerliche Er¬
ziehung in Wärter-, Sport-, Musik- und literarischen Vereinen, d. h. Arbeits¬
gemeinschaften, die das Hauptkennzeichen von Kerschensteiners Begriff der Arbeits¬
schule bilden. Die Arbeitsschule in diesem Sinne ist kein System, nach dem
man Lehrpläne ausschneidet, kein Schnittmuster für neue Modeschulen, sondern
ein Ideal für alle Schulen, ein Wertmesser für den Grad der Versittlichung der
Schülerarbeit: "In dem Einen, was er recht tut, sieht er das Gleichnis von
allem, was recht getan wird."




Georg Kerschensteiners Begriff der Arbeitsschule

anheben muß", daß das Dogma von der allseitigen Bildung an allem Elend
schuld ist und daß es Unsinn ist, die klassische Bildung oder die naturwissen¬
schaftliche oder die technische oder die neusprachliche für minderwertig zu erklären.
Minderwertig wird eine Schulart nicht durch den Stoff, sondern durch die Me¬
thode. „Ich kann mir," sagt er, „sehr wohl neben demi alten humanistischen
Gymnasium ein naturwissenschaftliches, ein neusprachliches, ein technisches Gym¬
nasium als völlig gleichwertige Bildungsanstalt denken, aber nicht ein huma-
nistisch-neusprachlich-naturwissenschaftlich-mathematisches Gymnasium, diesen Mops-
Pudel-Dachs-Pinscher gewisser Organisationsdilettanten." Deshalb muß die
Schule so organisiert sein — ich habe das „bewegliche Schule" genannt —
daß sie allen besonderen Begabungen ihrer Zöglinge gerecht werden kann. Aber
das macht sie noch nicht zur Arbeitsschule in jenem höheren Kerschensteinerschen
Sinne. Zur Arbeitsschule wird sie erst, wenn sie „der staatsbürgerlichen Er¬
ziehung nicht bloß mit dem Worte, sondern auch in der Tat dient."

Das kann zum Teil in derselben Weise geschehen, wie es von Kerschen-
steiner schon praktisch in München an den Volksschulen ausgeführt worden ist;
aber noch mehr durch freiere Schuldisziplin, bei der die Schüler selbst eine weit
größere Rolle spielen würden, als das auch nach den bisherigen Versuchen mit
Schülerselbstverwaltung der Fall ist. Einsichtige Jnternatsleiter haben uns hier
schon den Weg gewiesen. Am meisten durch Förderung der Wärter- und
Sportvereine. Ganz besonders bietet sich in den Wandervereinen die anmutigste
und freieste Gelegenheit für die Erziehung zur Hingabesittlichkeit.

Wir werden noch einige Mühe haben, den Unterricht didaktisch nach dem
Grundsatz der Arbeitsschule einzurichten. Wir alle müssen ganz gewaltig um¬
lernen, wenn wir uns gewöhnen sollen, daß wir ja mehr und mehr bei der
Erziehung überflüssig werden, und doch ist die beste Erziehung die, bei der der
Erzieher fortfällt. Was wir aber zum Segen unseres Nachwuchses sofort in
die Tat unisetzen können, ist die Verselbständigung der Schüler im Unterricht
durch Freiheit in den häuslichen Arbeiten und die praktische staatsbürgerliche Er¬
ziehung in Wärter-, Sport-, Musik- und literarischen Vereinen, d. h. Arbeits¬
gemeinschaften, die das Hauptkennzeichen von Kerschensteiners Begriff der Arbeits¬
schule bilden. Die Arbeitsschule in diesem Sinne ist kein System, nach dem
man Lehrpläne ausschneidet, kein Schnittmuster für neue Modeschulen, sondern
ein Ideal für alle Schulen, ein Wertmesser für den Grad der Versittlichung der
Schülerarbeit: „In dem Einen, was er recht tut, sieht er das Gleichnis von
allem, was recht getan wird."




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/187>, abgerufen am 30.12.2024.