Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Georg Aerschensteiners Begriff der Arbeitsschule

und wenn Kerschensteiner bewußt an Pestalozzi anknüpft, so ist er doch kein
vermittelnder Pädagoge, der jede Behauptung mit "aber", "indes" und
"anderseits" einzuschränken hat; der höhere Gedanke gibt ihm die Kraft, das
gute Alte in die neue Form hineinzuzwingen.

Der höchste Zweck aller Erziehung ist Charakterbildung! -- Alle Schul¬
systeme und Schulgattungen werden sich zu diesem Satze bekennen. Aber, da
über das Wesen und die Beeinflussungsmöglichkeit des Charakters nur nebel¬
hafte Vorstellungen vorhanden sind, hat Kerschensteiner im Anschluß an John
Deweys .Moral principIsZ in eclucation" den Charakterbegriff näher unter¬
sucht, um kennen zu lernen, "an welche Seelenkräfte wir uns wenden müssen,
damit der Zögling einen wertvollen Charakter erhalte" (Charakterbegriff und
Charaktererziehung). Zunächst unterscheidet er zwischen "biologischen" und
"intellegiblen" Charakter. Unter dem ersteren versteht er "die Eigentümlich¬
keiten des Empfindens und Handelns, die ihren Ursprung in jenen Trieben
und Anlagen haben, die auch das Tier besitzt, die also ohne Einfluß der höheren
geistigen Funktionen sich äußern". Der biologische Charakter ist also etwa das,
was man landläufig "Temperament" nennt. Er ist im wesentlichen angeboren
und nur durch physische Entwicklung veränderlich. Der Erzieher hat ihn zu
studieren; auf ihn zu wirken, ist im allgemeinen unmöglich. Die Tätigkeit des
Erziehers richtet sich auf die über dem biologischen Charakter liegende Schicht
von Kräftegruppen, die Kerschensteiner "intellegiblen" Charakter nennt; denn
neben dem Temperament, also "der bloßen Beschaffenheit unseres Nervensystems
oder unserer sonstigen physischen Konstitution" ist unser Handeln von den
Kräften abhängig, die Kerschensteiner als Wurzeln des intellegiblen Charakters
erscheinen: Willensstärke, Urteilsklarheit, Feinfühligkeit oder Empfänglichkeit im
engeren Sinne und Aufwühlbarkeit des Gemütsgrundes.

Mit diesen Seelenkräften hat der Erzieher zu rechnen. Hat er so die
Elemente der Seele des Kindes näher und klarer bestimmt, als das bisher
geschehen war, so handelt es sich nun darum, für welchen Zweck diese Kräfte
ausgenutzt werden sollen. Und das ist nach Kerschensteiner der Staat. Auf
der Dresdener Tagung des Bundes für Schulreform (6. bis 8. Oktober 1911)
zeigte sich zwischen Gaudig und Kerschensteiner eine Meinungsverschiedenheit
über das höchste Erziehungsziel; während Gaudig das Ziel aller Erziehung in
der Persönlichkeitsbildung, in der Bestimmung zur "Idealität des eigenen Ichs"
sieht, betont Kerschensteiner, daß sich der Persönlichkeitswert erst aus der Wirkung
der Persönlichkeit auf sich selbst und auf die Gesamtheit ergibt. Und wenn
Kerschensteiner vorgeworfen wird, daß er mit seiner Erziehung für den Staat


ebenda, 1912. Charakterbegriff und Charaktererziehung, ebenda, 1912. Begriff der Arbeits¬
schule, ebenda, 1912. Ferner der Abdruck des Vortrages in Dresden mit dem Vortrage von
Gaudig und den Verhandlungen in: "Arbeiten des Bundes für Schulreform." Erster
deutscher Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde. Teil 1: Die Arbeitsschule.
Teubner, Leipzig, 1912.
Georg Aerschensteiners Begriff der Arbeitsschule

und wenn Kerschensteiner bewußt an Pestalozzi anknüpft, so ist er doch kein
vermittelnder Pädagoge, der jede Behauptung mit „aber", „indes" und
„anderseits" einzuschränken hat; der höhere Gedanke gibt ihm die Kraft, das
gute Alte in die neue Form hineinzuzwingen.

Der höchste Zweck aller Erziehung ist Charakterbildung! — Alle Schul¬
systeme und Schulgattungen werden sich zu diesem Satze bekennen. Aber, da
über das Wesen und die Beeinflussungsmöglichkeit des Charakters nur nebel¬
hafte Vorstellungen vorhanden sind, hat Kerschensteiner im Anschluß an John
Deweys .Moral principIsZ in eclucation" den Charakterbegriff näher unter¬
sucht, um kennen zu lernen, „an welche Seelenkräfte wir uns wenden müssen,
damit der Zögling einen wertvollen Charakter erhalte" (Charakterbegriff und
Charaktererziehung). Zunächst unterscheidet er zwischen „biologischen" und
„intellegiblen" Charakter. Unter dem ersteren versteht er „die Eigentümlich¬
keiten des Empfindens und Handelns, die ihren Ursprung in jenen Trieben
und Anlagen haben, die auch das Tier besitzt, die also ohne Einfluß der höheren
geistigen Funktionen sich äußern". Der biologische Charakter ist also etwa das,
was man landläufig „Temperament" nennt. Er ist im wesentlichen angeboren
und nur durch physische Entwicklung veränderlich. Der Erzieher hat ihn zu
studieren; auf ihn zu wirken, ist im allgemeinen unmöglich. Die Tätigkeit des
Erziehers richtet sich auf die über dem biologischen Charakter liegende Schicht
von Kräftegruppen, die Kerschensteiner „intellegiblen" Charakter nennt; denn
neben dem Temperament, also „der bloßen Beschaffenheit unseres Nervensystems
oder unserer sonstigen physischen Konstitution" ist unser Handeln von den
Kräften abhängig, die Kerschensteiner als Wurzeln des intellegiblen Charakters
erscheinen: Willensstärke, Urteilsklarheit, Feinfühligkeit oder Empfänglichkeit im
engeren Sinne und Aufwühlbarkeit des Gemütsgrundes.

Mit diesen Seelenkräften hat der Erzieher zu rechnen. Hat er so die
Elemente der Seele des Kindes näher und klarer bestimmt, als das bisher
geschehen war, so handelt es sich nun darum, für welchen Zweck diese Kräfte
ausgenutzt werden sollen. Und das ist nach Kerschensteiner der Staat. Auf
der Dresdener Tagung des Bundes für Schulreform (6. bis 8. Oktober 1911)
zeigte sich zwischen Gaudig und Kerschensteiner eine Meinungsverschiedenheit
über das höchste Erziehungsziel; während Gaudig das Ziel aller Erziehung in
der Persönlichkeitsbildung, in der Bestimmung zur „Idealität des eigenen Ichs"
sieht, betont Kerschensteiner, daß sich der Persönlichkeitswert erst aus der Wirkung
der Persönlichkeit auf sich selbst und auf die Gesamtheit ergibt. Und wenn
Kerschensteiner vorgeworfen wird, daß er mit seiner Erziehung für den Staat


ebenda, 1912. Charakterbegriff und Charaktererziehung, ebenda, 1912. Begriff der Arbeits¬
schule, ebenda, 1912. Ferner der Abdruck des Vortrages in Dresden mit dem Vortrage von
Gaudig und den Verhandlungen in: „Arbeiten des Bundes für Schulreform." Erster
deutscher Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde. Teil 1: Die Arbeitsschule.
Teubner, Leipzig, 1912.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0182" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325702"/>
          <fw type="header" place="top"> Georg Aerschensteiners Begriff der Arbeitsschule</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_729" prev="#ID_728"> und wenn Kerschensteiner bewußt an Pestalozzi anknüpft, so ist er doch kein<lb/>
vermittelnder Pädagoge, der jede Behauptung mit &#x201E;aber", &#x201E;indes" und<lb/>
&#x201E;anderseits" einzuschränken hat; der höhere Gedanke gibt ihm die Kraft, das<lb/>
gute Alte in die neue Form hineinzuzwingen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_730"> Der höchste Zweck aller Erziehung ist Charakterbildung! &#x2014; Alle Schul¬<lb/>
systeme und Schulgattungen werden sich zu diesem Satze bekennen. Aber, da<lb/>
über das Wesen und die Beeinflussungsmöglichkeit des Charakters nur nebel¬<lb/>
hafte Vorstellungen vorhanden sind, hat Kerschensteiner im Anschluß an John<lb/>
Deweys .Moral principIsZ in eclucation" den Charakterbegriff näher unter¬<lb/>
sucht, um kennen zu lernen, &#x201E;an welche Seelenkräfte wir uns wenden müssen,<lb/>
damit der Zögling einen wertvollen Charakter erhalte" (Charakterbegriff und<lb/>
Charaktererziehung). Zunächst unterscheidet er zwischen &#x201E;biologischen" und<lb/>
&#x201E;intellegiblen" Charakter. Unter dem ersteren versteht er &#x201E;die Eigentümlich¬<lb/>
keiten des Empfindens und Handelns, die ihren Ursprung in jenen Trieben<lb/>
und Anlagen haben, die auch das Tier besitzt, die also ohne Einfluß der höheren<lb/>
geistigen Funktionen sich äußern". Der biologische Charakter ist also etwa das,<lb/>
was man landläufig &#x201E;Temperament" nennt. Er ist im wesentlichen angeboren<lb/>
und nur durch physische Entwicklung veränderlich. Der Erzieher hat ihn zu<lb/>
studieren; auf ihn zu wirken, ist im allgemeinen unmöglich. Die Tätigkeit des<lb/>
Erziehers richtet sich auf die über dem biologischen Charakter liegende Schicht<lb/>
von Kräftegruppen, die Kerschensteiner &#x201E;intellegiblen" Charakter nennt; denn<lb/>
neben dem Temperament, also &#x201E;der bloßen Beschaffenheit unseres Nervensystems<lb/>
oder unserer sonstigen physischen Konstitution" ist unser Handeln von den<lb/>
Kräften abhängig, die Kerschensteiner als Wurzeln des intellegiblen Charakters<lb/>
erscheinen: Willensstärke, Urteilsklarheit, Feinfühligkeit oder Empfänglichkeit im<lb/>
engeren Sinne und Aufwühlbarkeit des Gemütsgrundes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_731" next="#ID_732"> Mit diesen Seelenkräften hat der Erzieher zu rechnen. Hat er so die<lb/>
Elemente der Seele des Kindes näher und klarer bestimmt, als das bisher<lb/>
geschehen war, so handelt es sich nun darum, für welchen Zweck diese Kräfte<lb/>
ausgenutzt werden sollen. Und das ist nach Kerschensteiner der Staat. Auf<lb/>
der Dresdener Tagung des Bundes für Schulreform (6. bis 8. Oktober 1911)<lb/>
zeigte sich zwischen Gaudig und Kerschensteiner eine Meinungsverschiedenheit<lb/>
über das höchste Erziehungsziel; während Gaudig das Ziel aller Erziehung in<lb/>
der Persönlichkeitsbildung, in der Bestimmung zur &#x201E;Idealität des eigenen Ichs"<lb/>
sieht, betont Kerschensteiner, daß sich der Persönlichkeitswert erst aus der Wirkung<lb/>
der Persönlichkeit auf sich selbst und auf die Gesamtheit ergibt. Und wenn<lb/>
Kerschensteiner vorgeworfen wird, daß er mit seiner Erziehung für den Staat</p><lb/>
          <note xml:id="FID_30" prev="#FID_29" place="foot"> ebenda, 1912. Charakterbegriff und Charaktererziehung, ebenda, 1912. Begriff der Arbeits¬<lb/>
schule, ebenda, 1912. Ferner der Abdruck des Vortrages in Dresden mit dem Vortrage von<lb/>
Gaudig und den Verhandlungen in: &#x201E;Arbeiten des Bundes für Schulreform." Erster<lb/>
deutscher Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde. Teil 1: Die Arbeitsschule.<lb/>
Teubner, Leipzig, 1912.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0182] Georg Aerschensteiners Begriff der Arbeitsschule und wenn Kerschensteiner bewußt an Pestalozzi anknüpft, so ist er doch kein vermittelnder Pädagoge, der jede Behauptung mit „aber", „indes" und „anderseits" einzuschränken hat; der höhere Gedanke gibt ihm die Kraft, das gute Alte in die neue Form hineinzuzwingen. Der höchste Zweck aller Erziehung ist Charakterbildung! — Alle Schul¬ systeme und Schulgattungen werden sich zu diesem Satze bekennen. Aber, da über das Wesen und die Beeinflussungsmöglichkeit des Charakters nur nebel¬ hafte Vorstellungen vorhanden sind, hat Kerschensteiner im Anschluß an John Deweys .Moral principIsZ in eclucation" den Charakterbegriff näher unter¬ sucht, um kennen zu lernen, „an welche Seelenkräfte wir uns wenden müssen, damit der Zögling einen wertvollen Charakter erhalte" (Charakterbegriff und Charaktererziehung). Zunächst unterscheidet er zwischen „biologischen" und „intellegiblen" Charakter. Unter dem ersteren versteht er „die Eigentümlich¬ keiten des Empfindens und Handelns, die ihren Ursprung in jenen Trieben und Anlagen haben, die auch das Tier besitzt, die also ohne Einfluß der höheren geistigen Funktionen sich äußern". Der biologische Charakter ist also etwa das, was man landläufig „Temperament" nennt. Er ist im wesentlichen angeboren und nur durch physische Entwicklung veränderlich. Der Erzieher hat ihn zu studieren; auf ihn zu wirken, ist im allgemeinen unmöglich. Die Tätigkeit des Erziehers richtet sich auf die über dem biologischen Charakter liegende Schicht von Kräftegruppen, die Kerschensteiner „intellegiblen" Charakter nennt; denn neben dem Temperament, also „der bloßen Beschaffenheit unseres Nervensystems oder unserer sonstigen physischen Konstitution" ist unser Handeln von den Kräften abhängig, die Kerschensteiner als Wurzeln des intellegiblen Charakters erscheinen: Willensstärke, Urteilsklarheit, Feinfühligkeit oder Empfänglichkeit im engeren Sinne und Aufwühlbarkeit des Gemütsgrundes. Mit diesen Seelenkräften hat der Erzieher zu rechnen. Hat er so die Elemente der Seele des Kindes näher und klarer bestimmt, als das bisher geschehen war, so handelt es sich nun darum, für welchen Zweck diese Kräfte ausgenutzt werden sollen. Und das ist nach Kerschensteiner der Staat. Auf der Dresdener Tagung des Bundes für Schulreform (6. bis 8. Oktober 1911) zeigte sich zwischen Gaudig und Kerschensteiner eine Meinungsverschiedenheit über das höchste Erziehungsziel; während Gaudig das Ziel aller Erziehung in der Persönlichkeitsbildung, in der Bestimmung zur „Idealität des eigenen Ichs" sieht, betont Kerschensteiner, daß sich der Persönlichkeitswert erst aus der Wirkung der Persönlichkeit auf sich selbst und auf die Gesamtheit ergibt. Und wenn Kerschensteiner vorgeworfen wird, daß er mit seiner Erziehung für den Staat ebenda, 1912. Charakterbegriff und Charaktererziehung, ebenda, 1912. Begriff der Arbeits¬ schule, ebenda, 1912. Ferner der Abdruck des Vortrages in Dresden mit dem Vortrage von Gaudig und den Verhandlungen in: „Arbeiten des Bundes für Schulreform." Erster deutscher Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde. Teil 1: Die Arbeitsschule. Teubner, Leipzig, 1912.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/182
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/182>, abgerufen am 22.12.2024.