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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Georg Kerschensteiners Begriff der Arbeitsschule

keine Persönlichkeiten, sondern Maschinen zum blinden Dienst des gegebenen
Staatsorganismus bilde, so ist das ein Mißverständnis, an dessen bona 5las8
man kaum glauben kann. Denn dem freisinnigen Münchener liegt wohl nichts
ferner, als blinden Gehorsam zu predigen. Nur, wenn der Staat den Be¬
dingungen genügt, den man an ihn als oberstes sittliches Gemeinwesen stellen
muß, wenn er den gesellschaftlichen Zustand darstellt, in dem die Zwecke des
einzelnen im Gesamtzweck aufgenommen find, ist er Idealstaat. Der Dienst im
und am Staate ist nun nicht blinder Gehorsam einem gegebenen Staate gegen¬
über, sondern die Arbeit zur Herbeiführung des Staatsideales, die staats¬
bürgerliche Erziehung ist "die Erziehung zur Verwirklichung der ethischen Idee
des höchsten äußeren Gutes (des Staates) im wohlverstandenen Dienste des
gegebenen Staates". Es kommt uns hier nicht darauf an, diese Erklärung zu
beurteilen, sondern sie als Grundlage von Kerschensteiners Begriff der staats¬
bürgerlichen Erziehung einfach zu berichten. Denn aus ihr folgt die Organisation
der Schule, die Kerschensteiner Arbeitsschule nennt.

Jeder gute Staatsbürger hat irgendeine Arbeit zu leisten, die mittelbar
oder unmittelbar den Zwecken des Staatsverbandes zugute kommt; die Schule
muß also als ihre erste Aufgabe betrachten, die Schüler so zu erziehen, daß sie
befähigt und gewillt sind, in irgendeinem Berufe tätig zu sein und so den
Staatszweck zu fördern. Die zweite Aufgabe wird sein, bei dem Schüler das
Bewußtsein zu entwickeln, "daß jede Berufsarbeit vom Ausübenden als im
Dienste der Gesamtheit notwendig aufgefaßt werden kann und daß die Über-
nahme jeder entlohnten Arbeit, wie einförmig und bescheiden sie auch sein mag,
eine Verpflichtung zur besten Leistung nach sich zieht." Die dritte und höchste
Erziehungsaufgabe ist. "im Zögling Neigung und Kraft zu entwickeln, neben
und durch die Berufsarbeit seinen Teil beizutragen, daß die Entwicklung des
gegebenen Staates, dem er angehört, in der Richtung zum Ideal eines sitt¬
lichen Gemeinwesens vor sich geht." Denn, den Kultur- und Rechtsstaat als
sittliches Gemeinwesen zu verwirklichen, ist höchster Zweck und höchster Sinn
der menschlichen Tätigkeit.

Wie kann der Erzieher diese drei Aufgaben erreichen? Der Weg, auf dem
wir zu diesem Ziele kommen können, das ist die Arbeitsschule. Der Ausdruck
ist nicht glücklich gewählt, das sieht man schon an den vielen Mißverständnissen,
denen er ausgesetzt gewesen ist. Er ist viel zu eng gefaßt; man durfte Aus¬
drücke wie "Lebensschule" und "Gewöhnungsschule" erwarten, aber das erste
Wort ist zu allgemein, das zweite zu ungewöhnlich und geschmacklos, als daß
man es Kerschensteiner zum Ersatz für "Arbeitsschule" vorschlagen möchte. Und
so muß es schon bei dem schlechten Wort für die gute Sache bleiben. Am
besten wird man sich den Wortsinn klar machen, wenn man die von den An¬
hängern der Arbeitsschule geprägten Wörter für den Gegensatz der Arbeitsschule
hört: der heutige Schulbetrieb wird von ihnen "Lern-" oder "Buchschule"
genannt. Im Arbeitsschulbetrieb soll es nicht auf das durch Lernen eroberte


Georg Kerschensteiners Begriff der Arbeitsschule

keine Persönlichkeiten, sondern Maschinen zum blinden Dienst des gegebenen
Staatsorganismus bilde, so ist das ein Mißverständnis, an dessen bona 5las8
man kaum glauben kann. Denn dem freisinnigen Münchener liegt wohl nichts
ferner, als blinden Gehorsam zu predigen. Nur, wenn der Staat den Be¬
dingungen genügt, den man an ihn als oberstes sittliches Gemeinwesen stellen
muß, wenn er den gesellschaftlichen Zustand darstellt, in dem die Zwecke des
einzelnen im Gesamtzweck aufgenommen find, ist er Idealstaat. Der Dienst im
und am Staate ist nun nicht blinder Gehorsam einem gegebenen Staate gegen¬
über, sondern die Arbeit zur Herbeiführung des Staatsideales, die staats¬
bürgerliche Erziehung ist „die Erziehung zur Verwirklichung der ethischen Idee
des höchsten äußeren Gutes (des Staates) im wohlverstandenen Dienste des
gegebenen Staates". Es kommt uns hier nicht darauf an, diese Erklärung zu
beurteilen, sondern sie als Grundlage von Kerschensteiners Begriff der staats¬
bürgerlichen Erziehung einfach zu berichten. Denn aus ihr folgt die Organisation
der Schule, die Kerschensteiner Arbeitsschule nennt.

Jeder gute Staatsbürger hat irgendeine Arbeit zu leisten, die mittelbar
oder unmittelbar den Zwecken des Staatsverbandes zugute kommt; die Schule
muß also als ihre erste Aufgabe betrachten, die Schüler so zu erziehen, daß sie
befähigt und gewillt sind, in irgendeinem Berufe tätig zu sein und so den
Staatszweck zu fördern. Die zweite Aufgabe wird sein, bei dem Schüler das
Bewußtsein zu entwickeln, „daß jede Berufsarbeit vom Ausübenden als im
Dienste der Gesamtheit notwendig aufgefaßt werden kann und daß die Über-
nahme jeder entlohnten Arbeit, wie einförmig und bescheiden sie auch sein mag,
eine Verpflichtung zur besten Leistung nach sich zieht." Die dritte und höchste
Erziehungsaufgabe ist. „im Zögling Neigung und Kraft zu entwickeln, neben
und durch die Berufsarbeit seinen Teil beizutragen, daß die Entwicklung des
gegebenen Staates, dem er angehört, in der Richtung zum Ideal eines sitt¬
lichen Gemeinwesens vor sich geht." Denn, den Kultur- und Rechtsstaat als
sittliches Gemeinwesen zu verwirklichen, ist höchster Zweck und höchster Sinn
der menschlichen Tätigkeit.

Wie kann der Erzieher diese drei Aufgaben erreichen? Der Weg, auf dem
wir zu diesem Ziele kommen können, das ist die Arbeitsschule. Der Ausdruck
ist nicht glücklich gewählt, das sieht man schon an den vielen Mißverständnissen,
denen er ausgesetzt gewesen ist. Er ist viel zu eng gefaßt; man durfte Aus¬
drücke wie „Lebensschule" und „Gewöhnungsschule" erwarten, aber das erste
Wort ist zu allgemein, das zweite zu ungewöhnlich und geschmacklos, als daß
man es Kerschensteiner zum Ersatz für „Arbeitsschule" vorschlagen möchte. Und
so muß es schon bei dem schlechten Wort für die gute Sache bleiben. Am
besten wird man sich den Wortsinn klar machen, wenn man die von den An¬
hängern der Arbeitsschule geprägten Wörter für den Gegensatz der Arbeitsschule
hört: der heutige Schulbetrieb wird von ihnen „Lern-" oder „Buchschule"
genannt. Im Arbeitsschulbetrieb soll es nicht auf das durch Lernen eroberte


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[0183] Georg Kerschensteiners Begriff der Arbeitsschule keine Persönlichkeiten, sondern Maschinen zum blinden Dienst des gegebenen Staatsorganismus bilde, so ist das ein Mißverständnis, an dessen bona 5las8 man kaum glauben kann. Denn dem freisinnigen Münchener liegt wohl nichts ferner, als blinden Gehorsam zu predigen. Nur, wenn der Staat den Be¬ dingungen genügt, den man an ihn als oberstes sittliches Gemeinwesen stellen muß, wenn er den gesellschaftlichen Zustand darstellt, in dem die Zwecke des einzelnen im Gesamtzweck aufgenommen find, ist er Idealstaat. Der Dienst im und am Staate ist nun nicht blinder Gehorsam einem gegebenen Staate gegen¬ über, sondern die Arbeit zur Herbeiführung des Staatsideales, die staats¬ bürgerliche Erziehung ist „die Erziehung zur Verwirklichung der ethischen Idee des höchsten äußeren Gutes (des Staates) im wohlverstandenen Dienste des gegebenen Staates". Es kommt uns hier nicht darauf an, diese Erklärung zu beurteilen, sondern sie als Grundlage von Kerschensteiners Begriff der staats¬ bürgerlichen Erziehung einfach zu berichten. Denn aus ihr folgt die Organisation der Schule, die Kerschensteiner Arbeitsschule nennt. Jeder gute Staatsbürger hat irgendeine Arbeit zu leisten, die mittelbar oder unmittelbar den Zwecken des Staatsverbandes zugute kommt; die Schule muß also als ihre erste Aufgabe betrachten, die Schüler so zu erziehen, daß sie befähigt und gewillt sind, in irgendeinem Berufe tätig zu sein und so den Staatszweck zu fördern. Die zweite Aufgabe wird sein, bei dem Schüler das Bewußtsein zu entwickeln, „daß jede Berufsarbeit vom Ausübenden als im Dienste der Gesamtheit notwendig aufgefaßt werden kann und daß die Über- nahme jeder entlohnten Arbeit, wie einförmig und bescheiden sie auch sein mag, eine Verpflichtung zur besten Leistung nach sich zieht." Die dritte und höchste Erziehungsaufgabe ist. „im Zögling Neigung und Kraft zu entwickeln, neben und durch die Berufsarbeit seinen Teil beizutragen, daß die Entwicklung des gegebenen Staates, dem er angehört, in der Richtung zum Ideal eines sitt¬ lichen Gemeinwesens vor sich geht." Denn, den Kultur- und Rechtsstaat als sittliches Gemeinwesen zu verwirklichen, ist höchster Zweck und höchster Sinn der menschlichen Tätigkeit. Wie kann der Erzieher diese drei Aufgaben erreichen? Der Weg, auf dem wir zu diesem Ziele kommen können, das ist die Arbeitsschule. Der Ausdruck ist nicht glücklich gewählt, das sieht man schon an den vielen Mißverständnissen, denen er ausgesetzt gewesen ist. Er ist viel zu eng gefaßt; man durfte Aus¬ drücke wie „Lebensschule" und „Gewöhnungsschule" erwarten, aber das erste Wort ist zu allgemein, das zweite zu ungewöhnlich und geschmacklos, als daß man es Kerschensteiner zum Ersatz für „Arbeitsschule" vorschlagen möchte. Und so muß es schon bei dem schlechten Wort für die gute Sache bleiben. Am besten wird man sich den Wortsinn klar machen, wenn man die von den An¬ hängern der Arbeitsschule geprägten Wörter für den Gegensatz der Arbeitsschule hört: der heutige Schulbetrieb wird von ihnen „Lern-" oder „Buchschule" genannt. Im Arbeitsschulbetrieb soll es nicht auf das durch Lernen eroberte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/183>, abgerufen am 27.07.2024.