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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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geschlossenen Rahmen überhaupt zu verzichten und den fahrenden Zug. das
rasende Auto selbst zur Szene zu machen. Das ist etwas, das es bisher noch
nicht gab, und in der Ausnutzung eben dieser Eigenschaft liegt die Entwicklungs¬
möglichkeit zu eigenem Stil. Das Kino ist das Theater der Geschwindigkeit,
derjenigen Lebensform, die für uns ja mehr und mehr aus einer Ausnahme
zur Regel wird. Hier hat es auch seine Berechtigung, Vorgänge für den Filu
zu erfinden und einzurichten, während die bloße kinematographierte Bühnen¬
szene auch ini besten Falle Surrogat bleibt. Die allerfrühesten Filmstücke, deren
Inhalt war, daß unter einem Vorwand eine wilde Jagd hinter irgendjemandem
her veranstaltet wurde, haben also das Wesen des neuen Schaumittels ganz
richtig erfaßt. Das Schlimme ist nur, daß man über dieses einfache Schema
eines echten Filmstückes kaum hinausgelangen kann. Denn die Variations¬
möglichkeiten sind gering, und eine Vertiefung ins Seelische oder sonstwie Pro¬
blematische ist wohl kaum möglich.

Die besten Wirkungen der kinematographierten Geschwindigkeit liegen auf
dein Gebiet des Komischen. Und in der Tat scheint mir das eigentliche Feld
des Kinos, soweit es nicht die Wirklichkeit abbildet, also des richtigen Film¬
theaters, das Grotesk-Komische zu sein. Das bedeutete an sich schon eine Er-
höhung des Niveaus; denn im Grotesken selbst liegt ein Herausheben aus der
bloßen Realität, eine gewisse Stilisierung, die bei gut erfundenen sujets ein
reines Vergnügen gewähren kann. Eine Vertiefung oder Erhöhung zu Humor
und Satire ist ja wohl auch kaum möglich; aber hier scheint eine Entwicklung
noch am ehesten denkbar. Die Wirkungen, die ausgeübt werden können, sind
in der Tat außerordentlich. Mir ist folgende Groteske in Erinnerung: im Hof
eines Miethauses spielen Bettelmusikanten einen langsamen Walzer, was zur
Folge hat. daß in sämtlichen Etagen nach dem Takt langsam gearbeitet wird:
ein Herr läuft wütend hinunter und läßt Galopp spielen, worauf die Arbeitenden
sich dem neuen Takt anpassen. Die folgenden Vorgänge waren nun offenbar
langsam aufgenommen worden und wurden jetzt schnell abgekurbelt. Da sah
man in einer Etage in wenigen Sekunden ein Zimmer tapezieren, in der
nächsten eine Wohnung einräumen, Leute liefen im Bruchteil einer Sekunde die
Treppe hinauf und hinunter und dergleichen mehr. Die Wirkung dieses harm¬
losen Unsinns war so unglaublich komisch, daß der Saal vor Lachen dröhnte.

Kunst? -- Man höre endlich auf, uns einzureden, daß wir im Kino ein
neues Kunstmittel besitzen, das nur der Veredelung harre I Mag sich immerhin
das Filmdrama über das heutige beschämende Niveau geschmackloser Senti¬
mentalität und brutaler Sensation hinaussehen lassen, es wird nie etwas
anderes sein können als ein schlechtes Surrogat des Theaters, bestimmt für
Leute, denen das Wortdrama aus Mangel an Geld oder Zeit oder aus geistiger
Trägheit unzugänglich ist; sein bester Ruhm wird immer sein, daß es nicht
schadet; und selbst wenn es hier und da nützt, wird es sich zum Theater immer
verhalten wie das Grammophon zum Konzert.


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geschlossenen Rahmen überhaupt zu verzichten und den fahrenden Zug. das
rasende Auto selbst zur Szene zu machen. Das ist etwas, das es bisher noch
nicht gab, und in der Ausnutzung eben dieser Eigenschaft liegt die Entwicklungs¬
möglichkeit zu eigenem Stil. Das Kino ist das Theater der Geschwindigkeit,
derjenigen Lebensform, die für uns ja mehr und mehr aus einer Ausnahme
zur Regel wird. Hier hat es auch seine Berechtigung, Vorgänge für den Filu
zu erfinden und einzurichten, während die bloße kinematographierte Bühnen¬
szene auch ini besten Falle Surrogat bleibt. Die allerfrühesten Filmstücke, deren
Inhalt war, daß unter einem Vorwand eine wilde Jagd hinter irgendjemandem
her veranstaltet wurde, haben also das Wesen des neuen Schaumittels ganz
richtig erfaßt. Das Schlimme ist nur, daß man über dieses einfache Schema
eines echten Filmstückes kaum hinausgelangen kann. Denn die Variations¬
möglichkeiten sind gering, und eine Vertiefung ins Seelische oder sonstwie Pro¬
blematische ist wohl kaum möglich.

Die besten Wirkungen der kinematographierten Geschwindigkeit liegen auf
dein Gebiet des Komischen. Und in der Tat scheint mir das eigentliche Feld
des Kinos, soweit es nicht die Wirklichkeit abbildet, also des richtigen Film¬
theaters, das Grotesk-Komische zu sein. Das bedeutete an sich schon eine Er-
höhung des Niveaus; denn im Grotesken selbst liegt ein Herausheben aus der
bloßen Realität, eine gewisse Stilisierung, die bei gut erfundenen sujets ein
reines Vergnügen gewähren kann. Eine Vertiefung oder Erhöhung zu Humor
und Satire ist ja wohl auch kaum möglich; aber hier scheint eine Entwicklung
noch am ehesten denkbar. Die Wirkungen, die ausgeübt werden können, sind
in der Tat außerordentlich. Mir ist folgende Groteske in Erinnerung: im Hof
eines Miethauses spielen Bettelmusikanten einen langsamen Walzer, was zur
Folge hat. daß in sämtlichen Etagen nach dem Takt langsam gearbeitet wird:
ein Herr läuft wütend hinunter und läßt Galopp spielen, worauf die Arbeitenden
sich dem neuen Takt anpassen. Die folgenden Vorgänge waren nun offenbar
langsam aufgenommen worden und wurden jetzt schnell abgekurbelt. Da sah
man in einer Etage in wenigen Sekunden ein Zimmer tapezieren, in der
nächsten eine Wohnung einräumen, Leute liefen im Bruchteil einer Sekunde die
Treppe hinauf und hinunter und dergleichen mehr. Die Wirkung dieses harm¬
losen Unsinns war so unglaublich komisch, daß der Saal vor Lachen dröhnte.

Kunst? — Man höre endlich auf, uns einzureden, daß wir im Kino ein
neues Kunstmittel besitzen, das nur der Veredelung harre I Mag sich immerhin
das Filmdrama über das heutige beschämende Niveau geschmackloser Senti¬
mentalität und brutaler Sensation hinaussehen lassen, es wird nie etwas
anderes sein können als ein schlechtes Surrogat des Theaters, bestimmt für
Leute, denen das Wortdrama aus Mangel an Geld oder Zeit oder aus geistiger
Trägheit unzugänglich ist; sein bester Ruhm wird immer sein, daß es nicht
schadet; und selbst wenn es hier und da nützt, wird es sich zum Theater immer
verhalten wie das Grammophon zum Konzert.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/142>, abgerufen am 27.07.2024.