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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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gauges. Und so muß im ganzen und einzelnen die Leinwand eine beständige
Augenweide darbieten. Aber damit noch nicht genug. Das Fehlen des Wortes
und die Beschränkung auf die Geste hebt den Vorgang über die Realität hinaus
und bewirkt, oder vielmehr verlangt eine gewisse Stilisierung. Es verhält sich
genau so wie mit der Oper. Wenn die Leute singen statt zu sprechen, so
dürfen sie sich auch im übrigen nicht realistisch benehmen, sondern es muß alles,
von der Szenerie bis zu den Bewegungen stilisiert sein; sonst entsteht eine höchst
widrige Stilmischung. So erfordert auch das Pantomimische des Kinodramas
eine Vereinfachung, eine Typisierung der Dekoration sowohl wie der Geste wie
auch des Kostüms, und die bis jetzt üblichen kraß realistischen Stücke, die von
modernen Menschen in modernen Räumen gespielt werden, sind so unkünstlerisch
wie möglich.

Wenn man nun aber hofft, durch Annäherung an den Stil der echten
Pantomime diese Kunstgattung zu erneuern, so ist doch auch das leider ein
Irrtum. Die Pantomime ist mit dem Tanz verwandt und verlangt zu ihrer
Unterstützung die Musik. Nun läßt sich freilich auch zum Filmdrama Musik
machen. Aber zum Wesen des Tanzes und der Pantomime gehört doch, daß
sich der Vorgang nach der Musik richte: ihr wechselnder lebendiger Rhythmus
muß sich fortwährend in den Tanzenden oder Spielenden ausdrücken; daß sie
der Musik folgen, darin besteht für den Zuschauer und Zuhörer der eigentliche
Kunstgenuß. Beini Kino aber steht der Rhythmus ja fest, und der Herr Kapell¬
meister hat seine ganze Sorge darauf zu richten, diesem photographierten Takt
gehörig zu folgen. Statt daß der Reiz erhöht wird durch die Feinfühligkeit,
mit dem die Spieler dem Orchester sich anpassen, sähe man hier höchst störender
Weise seine ängstliche Aufmerksamkeit darauf hingezerrt, ob die Musik auch zur
rechten Zeit einsetze und aufhöre, langsamer und schneller werde, und empfände
die zahllosen kleinen Ungenauigkeiten wie unreine Töne.

Genug, die Filmpantomime ist von Anfang an tot, eben Photographie.
Das Kinoschauspiel mag in der angedeuteten Richtung über den jetzigen
Zustand hinaus verbessert werden; ein Kunstwerk kann auf diesen, Wege nicht
entstehen.

Wenn aber nicht die Pantomime, so läßt sich etwas ähnliches durch den
Filu wirksamer als auf der Bühne darstellen, nämlich das Mimodrama, und
zwar einfach deswegen, weil durch die Vergrößerung der Projektion die Mimik
auf der Leinwand mit unerhörter Deutlichkeit sichtbar wird. Es besteht also
kein Zweifel, daß ein begabter Schauspieler in einem geschmackvollen Sketch hier
etwas ganz besonderes leisten kann. Nur von einem Kunstwerk wird niemand
reden wollen; es handelt sich um Virtuosenstücke.

Mit alledem ist aber noch nicht von jener technischen Eigenschaft gesprochen,
die das Instrument des Kinos vor der Wortbühne immer voraus hat.
Dies ist die völlige Überwindung der räumlichen Schranken, die Fähigkeit, nicht
nur die Szene beliebig oft und beliebig schnell zu wechseln, sondern auf einen


Grenzboten II 1913 > 9
Ri»o-T>rcimaturgie

gauges. Und so muß im ganzen und einzelnen die Leinwand eine beständige
Augenweide darbieten. Aber damit noch nicht genug. Das Fehlen des Wortes
und die Beschränkung auf die Geste hebt den Vorgang über die Realität hinaus
und bewirkt, oder vielmehr verlangt eine gewisse Stilisierung. Es verhält sich
genau so wie mit der Oper. Wenn die Leute singen statt zu sprechen, so
dürfen sie sich auch im übrigen nicht realistisch benehmen, sondern es muß alles,
von der Szenerie bis zu den Bewegungen stilisiert sein; sonst entsteht eine höchst
widrige Stilmischung. So erfordert auch das Pantomimische des Kinodramas
eine Vereinfachung, eine Typisierung der Dekoration sowohl wie der Geste wie
auch des Kostüms, und die bis jetzt üblichen kraß realistischen Stücke, die von
modernen Menschen in modernen Räumen gespielt werden, sind so unkünstlerisch
wie möglich.

Wenn man nun aber hofft, durch Annäherung an den Stil der echten
Pantomime diese Kunstgattung zu erneuern, so ist doch auch das leider ein
Irrtum. Die Pantomime ist mit dem Tanz verwandt und verlangt zu ihrer
Unterstützung die Musik. Nun läßt sich freilich auch zum Filmdrama Musik
machen. Aber zum Wesen des Tanzes und der Pantomime gehört doch, daß
sich der Vorgang nach der Musik richte: ihr wechselnder lebendiger Rhythmus
muß sich fortwährend in den Tanzenden oder Spielenden ausdrücken; daß sie
der Musik folgen, darin besteht für den Zuschauer und Zuhörer der eigentliche
Kunstgenuß. Beini Kino aber steht der Rhythmus ja fest, und der Herr Kapell¬
meister hat seine ganze Sorge darauf zu richten, diesem photographierten Takt
gehörig zu folgen. Statt daß der Reiz erhöht wird durch die Feinfühligkeit,
mit dem die Spieler dem Orchester sich anpassen, sähe man hier höchst störender
Weise seine ängstliche Aufmerksamkeit darauf hingezerrt, ob die Musik auch zur
rechten Zeit einsetze und aufhöre, langsamer und schneller werde, und empfände
die zahllosen kleinen Ungenauigkeiten wie unreine Töne.

Genug, die Filmpantomime ist von Anfang an tot, eben Photographie.
Das Kinoschauspiel mag in der angedeuteten Richtung über den jetzigen
Zustand hinaus verbessert werden; ein Kunstwerk kann auf diesen, Wege nicht
entstehen.

Wenn aber nicht die Pantomime, so läßt sich etwas ähnliches durch den
Filu wirksamer als auf der Bühne darstellen, nämlich das Mimodrama, und
zwar einfach deswegen, weil durch die Vergrößerung der Projektion die Mimik
auf der Leinwand mit unerhörter Deutlichkeit sichtbar wird. Es besteht also
kein Zweifel, daß ein begabter Schauspieler in einem geschmackvollen Sketch hier
etwas ganz besonderes leisten kann. Nur von einem Kunstwerk wird niemand
reden wollen; es handelt sich um Virtuosenstücke.

Mit alledem ist aber noch nicht von jener technischen Eigenschaft gesprochen,
die das Instrument des Kinos vor der Wortbühne immer voraus hat.
Dies ist die völlige Überwindung der räumlichen Schranken, die Fähigkeit, nicht
nur die Szene beliebig oft und beliebig schnell zu wechseln, sondern auf einen


Grenzboten II 1913 > 9
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[0141] Ri»o-T>rcimaturgie gauges. Und so muß im ganzen und einzelnen die Leinwand eine beständige Augenweide darbieten. Aber damit noch nicht genug. Das Fehlen des Wortes und die Beschränkung auf die Geste hebt den Vorgang über die Realität hinaus und bewirkt, oder vielmehr verlangt eine gewisse Stilisierung. Es verhält sich genau so wie mit der Oper. Wenn die Leute singen statt zu sprechen, so dürfen sie sich auch im übrigen nicht realistisch benehmen, sondern es muß alles, von der Szenerie bis zu den Bewegungen stilisiert sein; sonst entsteht eine höchst widrige Stilmischung. So erfordert auch das Pantomimische des Kinodramas eine Vereinfachung, eine Typisierung der Dekoration sowohl wie der Geste wie auch des Kostüms, und die bis jetzt üblichen kraß realistischen Stücke, die von modernen Menschen in modernen Räumen gespielt werden, sind so unkünstlerisch wie möglich. Wenn man nun aber hofft, durch Annäherung an den Stil der echten Pantomime diese Kunstgattung zu erneuern, so ist doch auch das leider ein Irrtum. Die Pantomime ist mit dem Tanz verwandt und verlangt zu ihrer Unterstützung die Musik. Nun läßt sich freilich auch zum Filmdrama Musik machen. Aber zum Wesen des Tanzes und der Pantomime gehört doch, daß sich der Vorgang nach der Musik richte: ihr wechselnder lebendiger Rhythmus muß sich fortwährend in den Tanzenden oder Spielenden ausdrücken; daß sie der Musik folgen, darin besteht für den Zuschauer und Zuhörer der eigentliche Kunstgenuß. Beini Kino aber steht der Rhythmus ja fest, und der Herr Kapell¬ meister hat seine ganze Sorge darauf zu richten, diesem photographierten Takt gehörig zu folgen. Statt daß der Reiz erhöht wird durch die Feinfühligkeit, mit dem die Spieler dem Orchester sich anpassen, sähe man hier höchst störender Weise seine ängstliche Aufmerksamkeit darauf hingezerrt, ob die Musik auch zur rechten Zeit einsetze und aufhöre, langsamer und schneller werde, und empfände die zahllosen kleinen Ungenauigkeiten wie unreine Töne. Genug, die Filmpantomime ist von Anfang an tot, eben Photographie. Das Kinoschauspiel mag in der angedeuteten Richtung über den jetzigen Zustand hinaus verbessert werden; ein Kunstwerk kann auf diesen, Wege nicht entstehen. Wenn aber nicht die Pantomime, so läßt sich etwas ähnliches durch den Filu wirksamer als auf der Bühne darstellen, nämlich das Mimodrama, und zwar einfach deswegen, weil durch die Vergrößerung der Projektion die Mimik auf der Leinwand mit unerhörter Deutlichkeit sichtbar wird. Es besteht also kein Zweifel, daß ein begabter Schauspieler in einem geschmackvollen Sketch hier etwas ganz besonderes leisten kann. Nur von einem Kunstwerk wird niemand reden wollen; es handelt sich um Virtuosenstücke. Mit alledem ist aber noch nicht von jener technischen Eigenschaft gesprochen, die das Instrument des Kinos vor der Wortbühne immer voraus hat. Dies ist die völlige Überwindung der räumlichen Schranken, die Fähigkeit, nicht nur die Szene beliebig oft und beliebig schnell zu wechseln, sondern auf einen Grenzboten II 1913 > 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/141>, abgerufen am 01.09.2024.