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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Rodici

sein Haupt, nnr flössen die Tränen über die Wangen und laut schluchzend
brachen die Eltern am Fußende des Grabes zusammen.

Da erhob sich Widschaja, schritt zu den Weinenden und führte sie liebe¬
voll in die Hütte. Langsam kehrte er zurück. Er weinte nicht mehr, und
tiefer Ernst verschönte seine Züge. Dann setzte er sich, den Blick auf die Tote
gerichtet. Und nun erfuhr ich den traurigen Hergang.

"Ich war," so erzählte Widschaja, "in Verzweiflung nach Hause gerannt.
Hier traf ich nur die beiden Rodias. Bei ihrem Anblick geriet ich in Wut.
"Ihr seid schuld, daß ich von meinem Vater verstoßen bitt," schrie ich ihnen
zu, "von euch muß ich los, fort, ich kann euch nicht mehr sehen!" Sie baten
jammernd, doch nicht am hellen Tage ins Freie und durch das Dorf zu müssen,
aber ich hörte nicht und schrie nur "fort, fort!" Da sagten sie, sie wollten
alles leiden, wenn nur Kuweni wieder ein freundlicheres Leben bekäme. "Geht
fort," rief ich darauf, "und ich werde Kuweni lieb haben." Und sie gingen.

Aber sie waren noch nicht' lange fort, da kam Kuweni, fragte, wo die
Eltern seien und hörte, was vorgefallen. Ihr Antlitz wurdö starr. "Sie werden
getötet werden, wenn sie durch das Dorf müssen," rief sie und eilte über die
Lichtung. Ich stürzte ihr nach, denn bei ihrem Jammer wär mir nun das
Böse meiner Tat zum Bewußtsein gekommen. Auf dem ganzen Wege aber
fanden wir die Eltern nicht. Da kamen wir ins Dorf, hörten den Lärm,
sahen die Beiden von der wütenden Menge umringt. Wie ein Hirsch lief
Kuweni vor, die Eltern zu decken, den Leuten entgegen, die sich schreiend,
heulend zurückzogen. In diesem Augenblick sah ich meinen Vater, wie er mit einer
Flinte die Menge durchteilte. Kuweni stürzte ihm mit einem Angstschrei entgegen,
griff nach dem Gewehr, der Schuß ging los . . ." Widschajas Stimme brach.

"Ich bin der Schuldige," fuhr er nach einiger Zeit gefaßter fort, "ich stieß
ihre schuldlosen Eltern ins Verderben, sür die sie sich opferte. Sie warf mir
meine böse Tat nicht vor, sie wollte sie nur gut machen. Ihre Seele war schön
wie ihr Körper. Jetzt, wo die Sonne untergegangen, sehe ich, daß es eine
Sonne war." ^

Er hielt inne und sah auf das Antlitz der Toten, das die letzten Strahlen
des scheidenden Tagesgestirns beleuchteten. Immer längere Schatten fielen
über die Lichtung und hüllten allmählich das Grab in Dunkel. Widschaja blickte
uns und sagte:

"Rodias haben mich gelehrt, wie Eltern und Kinder zueinander sein sollen.
Ich aber will versuchen, gut zu machen, was ich gesündigt. Durch das Land
werde ich wandern, und wo ich Ansiedelungen der Rodias finde, werde ich ver¬
weilen. Lehren will ich die Unglücklichen und ihnen helfen, ihr hartes Los
zu tragen."

Er trat auf mich zu, und seine Stimme wurde weich, als er fortfuhr:

"Nur eines bindet mich an diesen Ort. Ein Wesen muß ich hier lassen
und ich weiß, daß es einem traurigen Leben entgegenwächst."


Die Rodici

sein Haupt, nnr flössen die Tränen über die Wangen und laut schluchzend
brachen die Eltern am Fußende des Grabes zusammen.

Da erhob sich Widschaja, schritt zu den Weinenden und führte sie liebe¬
voll in die Hütte. Langsam kehrte er zurück. Er weinte nicht mehr, und
tiefer Ernst verschönte seine Züge. Dann setzte er sich, den Blick auf die Tote
gerichtet. Und nun erfuhr ich den traurigen Hergang.

„Ich war," so erzählte Widschaja, „in Verzweiflung nach Hause gerannt.
Hier traf ich nur die beiden Rodias. Bei ihrem Anblick geriet ich in Wut.
„Ihr seid schuld, daß ich von meinem Vater verstoßen bitt," schrie ich ihnen
zu, „von euch muß ich los, fort, ich kann euch nicht mehr sehen!" Sie baten
jammernd, doch nicht am hellen Tage ins Freie und durch das Dorf zu müssen,
aber ich hörte nicht und schrie nur „fort, fort!" Da sagten sie, sie wollten
alles leiden, wenn nur Kuweni wieder ein freundlicheres Leben bekäme. „Geht
fort," rief ich darauf, „und ich werde Kuweni lieb haben." Und sie gingen.

Aber sie waren noch nicht' lange fort, da kam Kuweni, fragte, wo die
Eltern seien und hörte, was vorgefallen. Ihr Antlitz wurdö starr. „Sie werden
getötet werden, wenn sie durch das Dorf müssen," rief sie und eilte über die
Lichtung. Ich stürzte ihr nach, denn bei ihrem Jammer wär mir nun das
Böse meiner Tat zum Bewußtsein gekommen. Auf dem ganzen Wege aber
fanden wir die Eltern nicht. Da kamen wir ins Dorf, hörten den Lärm,
sahen die Beiden von der wütenden Menge umringt. Wie ein Hirsch lief
Kuweni vor, die Eltern zu decken, den Leuten entgegen, die sich schreiend,
heulend zurückzogen. In diesem Augenblick sah ich meinen Vater, wie er mit einer
Flinte die Menge durchteilte. Kuweni stürzte ihm mit einem Angstschrei entgegen,
griff nach dem Gewehr, der Schuß ging los . . ." Widschajas Stimme brach.

„Ich bin der Schuldige," fuhr er nach einiger Zeit gefaßter fort, „ich stieß
ihre schuldlosen Eltern ins Verderben, sür die sie sich opferte. Sie warf mir
meine böse Tat nicht vor, sie wollte sie nur gut machen. Ihre Seele war schön
wie ihr Körper. Jetzt, wo die Sonne untergegangen, sehe ich, daß es eine
Sonne war." ^

Er hielt inne und sah auf das Antlitz der Toten, das die letzten Strahlen
des scheidenden Tagesgestirns beleuchteten. Immer längere Schatten fielen
über die Lichtung und hüllten allmählich das Grab in Dunkel. Widschaja blickte
uns und sagte:

„Rodias haben mich gelehrt, wie Eltern und Kinder zueinander sein sollen.
Ich aber will versuchen, gut zu machen, was ich gesündigt. Durch das Land
werde ich wandern, und wo ich Ansiedelungen der Rodias finde, werde ich ver¬
weilen. Lehren will ich die Unglücklichen und ihnen helfen, ihr hartes Los
zu tragen."

Er trat auf mich zu, und seine Stimme wurde weich, als er fortfuhr:

„Nur eines bindet mich an diesen Ort. Ein Wesen muß ich hier lassen
und ich weiß, daß es einem traurigen Leben entgegenwächst."


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[0136] Die Rodici sein Haupt, nnr flössen die Tränen über die Wangen und laut schluchzend brachen die Eltern am Fußende des Grabes zusammen. Da erhob sich Widschaja, schritt zu den Weinenden und führte sie liebe¬ voll in die Hütte. Langsam kehrte er zurück. Er weinte nicht mehr, und tiefer Ernst verschönte seine Züge. Dann setzte er sich, den Blick auf die Tote gerichtet. Und nun erfuhr ich den traurigen Hergang. „Ich war," so erzählte Widschaja, „in Verzweiflung nach Hause gerannt. Hier traf ich nur die beiden Rodias. Bei ihrem Anblick geriet ich in Wut. „Ihr seid schuld, daß ich von meinem Vater verstoßen bitt," schrie ich ihnen zu, „von euch muß ich los, fort, ich kann euch nicht mehr sehen!" Sie baten jammernd, doch nicht am hellen Tage ins Freie und durch das Dorf zu müssen, aber ich hörte nicht und schrie nur „fort, fort!" Da sagten sie, sie wollten alles leiden, wenn nur Kuweni wieder ein freundlicheres Leben bekäme. „Geht fort," rief ich darauf, „und ich werde Kuweni lieb haben." Und sie gingen. Aber sie waren noch nicht' lange fort, da kam Kuweni, fragte, wo die Eltern seien und hörte, was vorgefallen. Ihr Antlitz wurdö starr. „Sie werden getötet werden, wenn sie durch das Dorf müssen," rief sie und eilte über die Lichtung. Ich stürzte ihr nach, denn bei ihrem Jammer wär mir nun das Böse meiner Tat zum Bewußtsein gekommen. Auf dem ganzen Wege aber fanden wir die Eltern nicht. Da kamen wir ins Dorf, hörten den Lärm, sahen die Beiden von der wütenden Menge umringt. Wie ein Hirsch lief Kuweni vor, die Eltern zu decken, den Leuten entgegen, die sich schreiend, heulend zurückzogen. In diesem Augenblick sah ich meinen Vater, wie er mit einer Flinte die Menge durchteilte. Kuweni stürzte ihm mit einem Angstschrei entgegen, griff nach dem Gewehr, der Schuß ging los . . ." Widschajas Stimme brach. „Ich bin der Schuldige," fuhr er nach einiger Zeit gefaßter fort, „ich stieß ihre schuldlosen Eltern ins Verderben, sür die sie sich opferte. Sie warf mir meine böse Tat nicht vor, sie wollte sie nur gut machen. Ihre Seele war schön wie ihr Körper. Jetzt, wo die Sonne untergegangen, sehe ich, daß es eine Sonne war." ^ Er hielt inne und sah auf das Antlitz der Toten, das die letzten Strahlen des scheidenden Tagesgestirns beleuchteten. Immer längere Schatten fielen über die Lichtung und hüllten allmählich das Grab in Dunkel. Widschaja blickte uns und sagte: „Rodias haben mich gelehrt, wie Eltern und Kinder zueinander sein sollen. Ich aber will versuchen, gut zu machen, was ich gesündigt. Durch das Land werde ich wandern, und wo ich Ansiedelungen der Rodias finde, werde ich ver¬ weilen. Lehren will ich die Unglücklichen und ihnen helfen, ihr hartes Los zu tragen." Er trat auf mich zu, und seine Stimme wurde weich, als er fortfuhr: „Nur eines bindet mich an diesen Ort. Ein Wesen muß ich hier lassen und ich weiß, daß es einem traurigen Leben entgegenwächst."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/136>, abgerufen am 27.07.2024.