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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Rodia

daß der Alte seinen Sohn noch immer heiß liebte. Ja, es war offenbar
gerade das Bewußtsein, sein Kind nun nicht mehr achten zu dürfen, was die
leidenschaftliche Verzweiflung des Vaters und damit jenen Steinwurf hervor¬
gerufen hatte. Das milderte meine Vorwürfe.

Ich redete ihm zu, er möge doch wenigstens und dem Sohn aus der Ent¬
fernung sprechen. Lange wollte er nichts davon wissen, als ich aber immer
dringender wurde, sagte er endlich: "Ja, wenn er sich von dem schmutzigen
Pack trennt, mit dem er zusammenlebtI" Und die Erinnerung an die Rodias
ließ auf einmal wieder seine ganze Leidenschaft aufflammen. Seine Wut schien
umgeschlagen. In wilden Schimpfworten tobte er gegen die, welche ihm den
Sohn genommen hatten.

Plötzlich wurde er unterbrochen. Geschrei und Lärm drang von der
Straße herein. Ich vernahm zornige Rufe: "Die Rodias, jetzt will uns die
ganze Bande beschmutzen, uns selbst zu Rodias machen! Weg mit ihnen!
Hinaus, hinaus!" Die Augen von Widschajas Vater rollten, blieben an
meiner Flinte haften und ehe ich dazu springen konnte, hatte er das Gewehr
ergriffen und war zur Tür hinausgestürzt. Ich rannte ihm voller Entsetzen
nach, aber er war schneller, und auf der Straße konnte ich nicht vorwärts,
denn wildes Getümmel kam mir entgegen. Endlich schlug ich mich durch,
da. . . ein Schuß! . . . Mir stand das Herz still. Alles stob zur Seite und
ich sah vor mir ein erschütterndes Bild.

Mitten auf der Straße saß Widschaja, das Antlitz niedergebeugt. Er hielt
eine hingestreckte Gestalt, deren langes Haar zur Erde floß, in den Armen.
Ich erkannte Kuweni. Unter der linken Brust rieselte das rote Blut hervor
und bildete eine Lache am Boden. Zu ihren Füßen kauerten zwei Menschen,
ein Mann und ein Weib.

Ich kniete an der Rodia nieder. Auf den ersten Blick sah ich, daß sie
tot war, von der Kugel ins Herz getroffen. AIs ich mich erhob, blickte
Widschaja auf, aber seine Gedanken blieben bei der Toten, er sah mich nicht.

Es war still auf dem Platze, das ganze Dorf wie ausgestorben. Nur
die Gipfel der Kokospalmen raschelten im Winde, und die durch die Blätter
fallenden Sonnenstrahlen wanderten hin und her und erweckten auf dem stillen
Antlitz den Schein von Leben. Lange verharrten wir schweigend. Dann
erhoben sich die beiden Rodias. Widschaja fuhr wie träumend mit der Hand
über die Stirn. Wir faßten die Tote, hoben sie und trugen sie aus dem
Dorfe.

Den ganzen Weg sprach niemand ein Wort. Langsam schritten wir am
Flusse entlang und dann durch den Urwald, bis sich die Lichtung öffnete.
Hier gruben wir ein Grab. Blumen legten wir aus den Grund, grüne und
bunte Blätter, was wir fanden. Darauf betteten wir die Tote. Als sie auf
dem duftigen Lager ruhte -- wie ein Vogel lag sie da, den der Falk ge¬
schlagen -- löste sich die Erstarrung von unseren Herzen. Widschaja verbarg


Die Rodia

daß der Alte seinen Sohn noch immer heiß liebte. Ja, es war offenbar
gerade das Bewußtsein, sein Kind nun nicht mehr achten zu dürfen, was die
leidenschaftliche Verzweiflung des Vaters und damit jenen Steinwurf hervor¬
gerufen hatte. Das milderte meine Vorwürfe.

Ich redete ihm zu, er möge doch wenigstens und dem Sohn aus der Ent¬
fernung sprechen. Lange wollte er nichts davon wissen, als ich aber immer
dringender wurde, sagte er endlich: „Ja, wenn er sich von dem schmutzigen
Pack trennt, mit dem er zusammenlebtI" Und die Erinnerung an die Rodias
ließ auf einmal wieder seine ganze Leidenschaft aufflammen. Seine Wut schien
umgeschlagen. In wilden Schimpfworten tobte er gegen die, welche ihm den
Sohn genommen hatten.

Plötzlich wurde er unterbrochen. Geschrei und Lärm drang von der
Straße herein. Ich vernahm zornige Rufe: „Die Rodias, jetzt will uns die
ganze Bande beschmutzen, uns selbst zu Rodias machen! Weg mit ihnen!
Hinaus, hinaus!" Die Augen von Widschajas Vater rollten, blieben an
meiner Flinte haften und ehe ich dazu springen konnte, hatte er das Gewehr
ergriffen und war zur Tür hinausgestürzt. Ich rannte ihm voller Entsetzen
nach, aber er war schneller, und auf der Straße konnte ich nicht vorwärts,
denn wildes Getümmel kam mir entgegen. Endlich schlug ich mich durch,
da. . . ein Schuß! . . . Mir stand das Herz still. Alles stob zur Seite und
ich sah vor mir ein erschütterndes Bild.

Mitten auf der Straße saß Widschaja, das Antlitz niedergebeugt. Er hielt
eine hingestreckte Gestalt, deren langes Haar zur Erde floß, in den Armen.
Ich erkannte Kuweni. Unter der linken Brust rieselte das rote Blut hervor
und bildete eine Lache am Boden. Zu ihren Füßen kauerten zwei Menschen,
ein Mann und ein Weib.

Ich kniete an der Rodia nieder. Auf den ersten Blick sah ich, daß sie
tot war, von der Kugel ins Herz getroffen. AIs ich mich erhob, blickte
Widschaja auf, aber seine Gedanken blieben bei der Toten, er sah mich nicht.

Es war still auf dem Platze, das ganze Dorf wie ausgestorben. Nur
die Gipfel der Kokospalmen raschelten im Winde, und die durch die Blätter
fallenden Sonnenstrahlen wanderten hin und her und erweckten auf dem stillen
Antlitz den Schein von Leben. Lange verharrten wir schweigend. Dann
erhoben sich die beiden Rodias. Widschaja fuhr wie träumend mit der Hand
über die Stirn. Wir faßten die Tote, hoben sie und trugen sie aus dem
Dorfe.

Den ganzen Weg sprach niemand ein Wort. Langsam schritten wir am
Flusse entlang und dann durch den Urwald, bis sich die Lichtung öffnete.
Hier gruben wir ein Grab. Blumen legten wir aus den Grund, grüne und
bunte Blätter, was wir fanden. Darauf betteten wir die Tote. Als sie auf
dem duftigen Lager ruhte — wie ein Vogel lag sie da, den der Falk ge¬
schlagen — löste sich die Erstarrung von unseren Herzen. Widschaja verbarg


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[0135] Die Rodia daß der Alte seinen Sohn noch immer heiß liebte. Ja, es war offenbar gerade das Bewußtsein, sein Kind nun nicht mehr achten zu dürfen, was die leidenschaftliche Verzweiflung des Vaters und damit jenen Steinwurf hervor¬ gerufen hatte. Das milderte meine Vorwürfe. Ich redete ihm zu, er möge doch wenigstens und dem Sohn aus der Ent¬ fernung sprechen. Lange wollte er nichts davon wissen, als ich aber immer dringender wurde, sagte er endlich: „Ja, wenn er sich von dem schmutzigen Pack trennt, mit dem er zusammenlebtI" Und die Erinnerung an die Rodias ließ auf einmal wieder seine ganze Leidenschaft aufflammen. Seine Wut schien umgeschlagen. In wilden Schimpfworten tobte er gegen die, welche ihm den Sohn genommen hatten. Plötzlich wurde er unterbrochen. Geschrei und Lärm drang von der Straße herein. Ich vernahm zornige Rufe: „Die Rodias, jetzt will uns die ganze Bande beschmutzen, uns selbst zu Rodias machen! Weg mit ihnen! Hinaus, hinaus!" Die Augen von Widschajas Vater rollten, blieben an meiner Flinte haften und ehe ich dazu springen konnte, hatte er das Gewehr ergriffen und war zur Tür hinausgestürzt. Ich rannte ihm voller Entsetzen nach, aber er war schneller, und auf der Straße konnte ich nicht vorwärts, denn wildes Getümmel kam mir entgegen. Endlich schlug ich mich durch, da. . . ein Schuß! . . . Mir stand das Herz still. Alles stob zur Seite und ich sah vor mir ein erschütterndes Bild. Mitten auf der Straße saß Widschaja, das Antlitz niedergebeugt. Er hielt eine hingestreckte Gestalt, deren langes Haar zur Erde floß, in den Armen. Ich erkannte Kuweni. Unter der linken Brust rieselte das rote Blut hervor und bildete eine Lache am Boden. Zu ihren Füßen kauerten zwei Menschen, ein Mann und ein Weib. Ich kniete an der Rodia nieder. Auf den ersten Blick sah ich, daß sie tot war, von der Kugel ins Herz getroffen. AIs ich mich erhob, blickte Widschaja auf, aber seine Gedanken blieben bei der Toten, er sah mich nicht. Es war still auf dem Platze, das ganze Dorf wie ausgestorben. Nur die Gipfel der Kokospalmen raschelten im Winde, und die durch die Blätter fallenden Sonnenstrahlen wanderten hin und her und erweckten auf dem stillen Antlitz den Schein von Leben. Lange verharrten wir schweigend. Dann erhoben sich die beiden Rodias. Widschaja fuhr wie träumend mit der Hand über die Stirn. Wir faßten die Tote, hoben sie und trugen sie aus dem Dorfe. Den ganzen Weg sprach niemand ein Wort. Langsam schritten wir am Flusse entlang und dann durch den Urwald, bis sich die Lichtung öffnete. Hier gruben wir ein Grab. Blumen legten wir aus den Grund, grüne und bunte Blätter, was wir fanden. Darauf betteten wir die Tote. Als sie auf dem duftigen Lager ruhte — wie ein Vogel lag sie da, den der Falk ge¬ schlagen — löste sich die Erstarrung von unseren Herzen. Widschaja verbarg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/135>, abgerufen am 27.07.2024.