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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Rodia

"Meinen Vater wollte ich sehen," erzählte er schluchzend, "ich hätte ja
nicht verlangt, man solle mich wieder aufnehmen, nur sprechen, aus der Ferne
reden wollte ich mit ihm und meinesgleichen, wollte hören, daß er mich noch
liebt, daß man im Dorf um mich trauert. Nach Trost schrie mein Herz.
Aber ich war noch nicht weit im Dorf, da erkannten mich einzelne, und Rufe
tönten mir entgegen: "Zurück, Rodia, beschmutze unser Dorf nicht, geh zu
deinesgleichen, fort!" Immer drohender wurden die Mienen, immer lauter
schrien sie, da rief ich ihnen entgegen: "Nur meinen Vater will ich sehen!"
"Du hast keinen Vater mehr," gellte es mir entgegen, "bei den Rodias ist
deine Sippe, der früher dein Vater war, verabscheut dich." Ich aber konnte
mich nicht halten, ich stürzte weiter. Vor Abscheu kreischend, flohen sie auseinander,
da sie eine Berührung mit mir fürchteten. Aber ich hatte das Haus meiner Kind¬
heit erreicht, und schon kam mir mein Vater entgegen. Ich wollte zu ihm,
doch er wich zurück, streckte die Hand aus und sein Gesicht wurde dunkel vor
Wut. "Du willst mein Haus beschmutzen," schrie er, "du verunreinigst das
Dorf? Ich will dir zeigen, wie man sich vor Rodias schützt." Und er hob
einen Stein auf und warf ihn nach mir. Hier traf er mich, über dem Auge.
Von meinem Vater!"

Widschaja barg sein Gesicht in den Händen.

"Ich brach zusammen," fuhr er dann fort. "Doch da flogen noch mehr
Steine, laut schreiend kamen von allen Seiten Leute herbei. Ich mußte fort.
Und ich lief aus meinem Dorf, wo ich einst geherrscht hatte. Ich wurde ver¬
jagt, wie ein Hund!"

Wie ein Hund. In mir stieg der Zorn auf. "Ich gehe zu ihnen," sagte
ich. Doch Widschaja hörte nicht mehr, er hatte sich aufgerafft und rannte
wie in einem plötzlichen Wahnsinnsanfall fort. Ich sah dem Verzweifelten voll
Mitleid nach. Dann setzte ich mich auf einen niedergebrochenen Baumstamm
und überdachte, was zu tun war. Endlich war mein Entschluß gefaßt, ich
erhob mich und ging dem Dorfe zu.

Schon gleich, als ich mich den ersten Hütten näherte, merkte ich, das etwas
vorgefallen war, was das ganze Dorf in Aufregung versetzt hatte. Überall
standen Gruppen von erregt sprechenden Männern und Frauen zusammen. Als
sie mich sahen, verstummten sie. Ich kümmerte mich nicht um die Leute,
sondern ging geradenwegs zu Widschajas Vater. Vor dem Hause war niemand,
als ich aber durch die Tür trat, sah ich den Alten sitzen, die Arme auf die
Knie gestützt, das Gesicht auf die Hände gelegt. Er starrte vor sich hin. Ich
lehnte mein Gewehr an die Wand und trat zu ihm.

In scharfen Worten wollte ich ihm seine Härte vorhalten, aber er war
wie betäubt und ganz gebrochen. Die unselige Tat, zu der sein Jähzorn ihn
getrieben, schien schwer auf seinem Herzen zu lasten. "Der Stein aus meiner
Hand hat meinen Sohn getroffen," seufzte er, "und er hat mich angesehen!
Nicht auf dem Totenlager werde ich diesen Blick vergessen." Ich sah jetzt,


Die Rodia

„Meinen Vater wollte ich sehen," erzählte er schluchzend, „ich hätte ja
nicht verlangt, man solle mich wieder aufnehmen, nur sprechen, aus der Ferne
reden wollte ich mit ihm und meinesgleichen, wollte hören, daß er mich noch
liebt, daß man im Dorf um mich trauert. Nach Trost schrie mein Herz.
Aber ich war noch nicht weit im Dorf, da erkannten mich einzelne, und Rufe
tönten mir entgegen: „Zurück, Rodia, beschmutze unser Dorf nicht, geh zu
deinesgleichen, fort!" Immer drohender wurden die Mienen, immer lauter
schrien sie, da rief ich ihnen entgegen: „Nur meinen Vater will ich sehen!"
„Du hast keinen Vater mehr," gellte es mir entgegen, „bei den Rodias ist
deine Sippe, der früher dein Vater war, verabscheut dich." Ich aber konnte
mich nicht halten, ich stürzte weiter. Vor Abscheu kreischend, flohen sie auseinander,
da sie eine Berührung mit mir fürchteten. Aber ich hatte das Haus meiner Kind¬
heit erreicht, und schon kam mir mein Vater entgegen. Ich wollte zu ihm,
doch er wich zurück, streckte die Hand aus und sein Gesicht wurde dunkel vor
Wut. „Du willst mein Haus beschmutzen," schrie er, „du verunreinigst das
Dorf? Ich will dir zeigen, wie man sich vor Rodias schützt." Und er hob
einen Stein auf und warf ihn nach mir. Hier traf er mich, über dem Auge.
Von meinem Vater!"

Widschaja barg sein Gesicht in den Händen.

„Ich brach zusammen," fuhr er dann fort. „Doch da flogen noch mehr
Steine, laut schreiend kamen von allen Seiten Leute herbei. Ich mußte fort.
Und ich lief aus meinem Dorf, wo ich einst geherrscht hatte. Ich wurde ver¬
jagt, wie ein Hund!"

Wie ein Hund. In mir stieg der Zorn auf. „Ich gehe zu ihnen," sagte
ich. Doch Widschaja hörte nicht mehr, er hatte sich aufgerafft und rannte
wie in einem plötzlichen Wahnsinnsanfall fort. Ich sah dem Verzweifelten voll
Mitleid nach. Dann setzte ich mich auf einen niedergebrochenen Baumstamm
und überdachte, was zu tun war. Endlich war mein Entschluß gefaßt, ich
erhob mich und ging dem Dorfe zu.

Schon gleich, als ich mich den ersten Hütten näherte, merkte ich, das etwas
vorgefallen war, was das ganze Dorf in Aufregung versetzt hatte. Überall
standen Gruppen von erregt sprechenden Männern und Frauen zusammen. Als
sie mich sahen, verstummten sie. Ich kümmerte mich nicht um die Leute,
sondern ging geradenwegs zu Widschajas Vater. Vor dem Hause war niemand,
als ich aber durch die Tür trat, sah ich den Alten sitzen, die Arme auf die
Knie gestützt, das Gesicht auf die Hände gelegt. Er starrte vor sich hin. Ich
lehnte mein Gewehr an die Wand und trat zu ihm.

In scharfen Worten wollte ich ihm seine Härte vorhalten, aber er war
wie betäubt und ganz gebrochen. Die unselige Tat, zu der sein Jähzorn ihn
getrieben, schien schwer auf seinem Herzen zu lasten. „Der Stein aus meiner
Hand hat meinen Sohn getroffen," seufzte er, „und er hat mich angesehen!
Nicht auf dem Totenlager werde ich diesen Blick vergessen." Ich sah jetzt,


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[0134] Die Rodia „Meinen Vater wollte ich sehen," erzählte er schluchzend, „ich hätte ja nicht verlangt, man solle mich wieder aufnehmen, nur sprechen, aus der Ferne reden wollte ich mit ihm und meinesgleichen, wollte hören, daß er mich noch liebt, daß man im Dorf um mich trauert. Nach Trost schrie mein Herz. Aber ich war noch nicht weit im Dorf, da erkannten mich einzelne, und Rufe tönten mir entgegen: „Zurück, Rodia, beschmutze unser Dorf nicht, geh zu deinesgleichen, fort!" Immer drohender wurden die Mienen, immer lauter schrien sie, da rief ich ihnen entgegen: „Nur meinen Vater will ich sehen!" „Du hast keinen Vater mehr," gellte es mir entgegen, „bei den Rodias ist deine Sippe, der früher dein Vater war, verabscheut dich." Ich aber konnte mich nicht halten, ich stürzte weiter. Vor Abscheu kreischend, flohen sie auseinander, da sie eine Berührung mit mir fürchteten. Aber ich hatte das Haus meiner Kind¬ heit erreicht, und schon kam mir mein Vater entgegen. Ich wollte zu ihm, doch er wich zurück, streckte die Hand aus und sein Gesicht wurde dunkel vor Wut. „Du willst mein Haus beschmutzen," schrie er, „du verunreinigst das Dorf? Ich will dir zeigen, wie man sich vor Rodias schützt." Und er hob einen Stein auf und warf ihn nach mir. Hier traf er mich, über dem Auge. Von meinem Vater!" Widschaja barg sein Gesicht in den Händen. „Ich brach zusammen," fuhr er dann fort. „Doch da flogen noch mehr Steine, laut schreiend kamen von allen Seiten Leute herbei. Ich mußte fort. Und ich lief aus meinem Dorf, wo ich einst geherrscht hatte. Ich wurde ver¬ jagt, wie ein Hund!" Wie ein Hund. In mir stieg der Zorn auf. „Ich gehe zu ihnen," sagte ich. Doch Widschaja hörte nicht mehr, er hatte sich aufgerafft und rannte wie in einem plötzlichen Wahnsinnsanfall fort. Ich sah dem Verzweifelten voll Mitleid nach. Dann setzte ich mich auf einen niedergebrochenen Baumstamm und überdachte, was zu tun war. Endlich war mein Entschluß gefaßt, ich erhob mich und ging dem Dorfe zu. Schon gleich, als ich mich den ersten Hütten näherte, merkte ich, das etwas vorgefallen war, was das ganze Dorf in Aufregung versetzt hatte. Überall standen Gruppen von erregt sprechenden Männern und Frauen zusammen. Als sie mich sahen, verstummten sie. Ich kümmerte mich nicht um die Leute, sondern ging geradenwegs zu Widschajas Vater. Vor dem Hause war niemand, als ich aber durch die Tür trat, sah ich den Alten sitzen, die Arme auf die Knie gestützt, das Gesicht auf die Hände gelegt. Er starrte vor sich hin. Ich lehnte mein Gewehr an die Wand und trat zu ihm. In scharfen Worten wollte ich ihm seine Härte vorhalten, aber er war wie betäubt und ganz gebrochen. Die unselige Tat, zu der sein Jähzorn ihn getrieben, schien schwer auf seinem Herzen zu lasten. „Der Stein aus meiner Hand hat meinen Sohn getroffen," seufzte er, „und er hat mich angesehen! Nicht auf dem Totenlager werde ich diesen Blick vergessen." Ich sah jetzt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/134>, abgerufen am 22.12.2024.