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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Rirchspielvogt Mohr

Briefe. Bei dem Falle Hebbel-Mohr waltet, wie er nicht erfaßte, offenbar jene
Tragik, die sich aus dem Zusammenprallen zweier Naturen entwickelt, von
denen die eine so gut wie die andere recht zu haben meint und jede ihren
Standpunkt bis zum äußersten vertritt. In einem von Hebbel nicht gewollten
Sinne läßt sich seine erschütternde Bemerkung deuten: "Es gibt Ungerechtig¬
keiten, die gerade nur dieser Mensch gegen jenen begehen und deren Größe
der Gekränkte nur dadurch zeigen kann, daß er ebensoviele gegen den anderen
begeht. In diesem Fall befinde ich mich zu dem Kirchspielvogt Mohr in Wessel-
buren." Welch klare Einsicht in seine eigene seelische Verfassung und welche
Blindheit in der Einschätzung Mohrs!

Wer oberflächlich, ohne den tragischen Konflikt zu ergründen, das Ver¬
hältnis des Dichters zu dem Bureaukraten mit engem Horizont nur unter
Hebbels Gesichtswinkel betrachtet, kann von Mohr als einem "Lumpen", als
einer "Kanaille" sprechen. Übrigens stellt sich bei dem Dichter Eulenberg die
Wortassoziation "Mohr" und "Kanaille" wohl nur deshalb ein, weil er seinen
"Fiesko" (I. 9) im Kopfe hat.

Es ist Pflicht der Gerechtigkeit, einmal hervorzuheben, daß Hebbel zu Zeiten,
und zwar zu ganz verschiedenen, seinen Brodherrn, der ihn, ob mit vollem
Bewußtsein, bleibe unerörtert, in die Welt der Geisteskultur eingeführt hat,
minder hart beurteilte. Im Jahre 1832 schrieb er an Uhland: "Gleich nach
den: Absterben meines Vaters wurde ich von dem hiesigen Herrn Kirchspielvogt
Mohr, einem so menschenfreundlichen, als gebildeten Manne, in's Haus genommen,
um ihm als Schreiber in seinen zahlreichen Geschäften beizustehen: mein Herr
behandelt mich so gut, wie ich nur immer wünschen kann: ich könnte daher
wohl mit meiner Lage zufrieden seyn; allein, es fehlt mir hier fast an jeder
Gelegenheit, mir einige Bildung zu erwerben, welche ich mir doch so außer¬
ordentlich gern erwerben mögte. Mein Herr steht dieses selbst ein, und hat
schon wiederholentlich gegen mich geäußert, daß ich nicht am rechten Platze stehe:
er aber wußte so wenig einen Ausweg, als ich selbst." Vielleicht schätzt man
diese Darlegung nicht hoch ein, indem man sich in die damalige unfreie Lage
Hebbels versetzt. Gewiß mußte der junge Mann Vorsicht brauchen in seinem
Urteil über den Prinzipal, Uhland konnte doch Erkundigungen einziehen; aber
notwendig war ein so unzweideutiges Lob des Vorgesetzten in diesem Briefe
nicht. Noch zwanzig Jahre später erwähnt Hebbel in einem Lebensabriß, den
er Arnold Rüge zuschickt (Briefe V, 40 f.): "Ich konnte mich erst in meinem
zweiundzwanzigsten Jahre den Studieen widmen, befand mich im Uebrigen aber
in ganz erträglichen Verhältnissen." Hier erkennt er sogar den Gewinn des
Einblickes "in die Mannigfaltigkeit des menschlichen Thuns und Treibens" an.
1833 war der Kutscher Christoph am Fleckfieber erkrankt gewesen, und im Jahre
darauf dichtete Hebbel für den Fackelzug anläßlich von Mohrs Vermählung
Verse, die überströmen von Dankbarkeit (Sämtliche Werke. Historisch - kritische
Ausgabe, VII. Band, S. 117). Da heißt es u. a.:


Rirchspielvogt Mohr

Briefe. Bei dem Falle Hebbel-Mohr waltet, wie er nicht erfaßte, offenbar jene
Tragik, die sich aus dem Zusammenprallen zweier Naturen entwickelt, von
denen die eine so gut wie die andere recht zu haben meint und jede ihren
Standpunkt bis zum äußersten vertritt. In einem von Hebbel nicht gewollten
Sinne läßt sich seine erschütternde Bemerkung deuten: „Es gibt Ungerechtig¬
keiten, die gerade nur dieser Mensch gegen jenen begehen und deren Größe
der Gekränkte nur dadurch zeigen kann, daß er ebensoviele gegen den anderen
begeht. In diesem Fall befinde ich mich zu dem Kirchspielvogt Mohr in Wessel-
buren." Welch klare Einsicht in seine eigene seelische Verfassung und welche
Blindheit in der Einschätzung Mohrs!

Wer oberflächlich, ohne den tragischen Konflikt zu ergründen, das Ver¬
hältnis des Dichters zu dem Bureaukraten mit engem Horizont nur unter
Hebbels Gesichtswinkel betrachtet, kann von Mohr als einem „Lumpen", als
einer „Kanaille" sprechen. Übrigens stellt sich bei dem Dichter Eulenberg die
Wortassoziation „Mohr" und „Kanaille" wohl nur deshalb ein, weil er seinen
„Fiesko" (I. 9) im Kopfe hat.

Es ist Pflicht der Gerechtigkeit, einmal hervorzuheben, daß Hebbel zu Zeiten,
und zwar zu ganz verschiedenen, seinen Brodherrn, der ihn, ob mit vollem
Bewußtsein, bleibe unerörtert, in die Welt der Geisteskultur eingeführt hat,
minder hart beurteilte. Im Jahre 1832 schrieb er an Uhland: „Gleich nach
den: Absterben meines Vaters wurde ich von dem hiesigen Herrn Kirchspielvogt
Mohr, einem so menschenfreundlichen, als gebildeten Manne, in's Haus genommen,
um ihm als Schreiber in seinen zahlreichen Geschäften beizustehen: mein Herr
behandelt mich so gut, wie ich nur immer wünschen kann: ich könnte daher
wohl mit meiner Lage zufrieden seyn; allein, es fehlt mir hier fast an jeder
Gelegenheit, mir einige Bildung zu erwerben, welche ich mir doch so außer¬
ordentlich gern erwerben mögte. Mein Herr steht dieses selbst ein, und hat
schon wiederholentlich gegen mich geäußert, daß ich nicht am rechten Platze stehe:
er aber wußte so wenig einen Ausweg, als ich selbst." Vielleicht schätzt man
diese Darlegung nicht hoch ein, indem man sich in die damalige unfreie Lage
Hebbels versetzt. Gewiß mußte der junge Mann Vorsicht brauchen in seinem
Urteil über den Prinzipal, Uhland konnte doch Erkundigungen einziehen; aber
notwendig war ein so unzweideutiges Lob des Vorgesetzten in diesem Briefe
nicht. Noch zwanzig Jahre später erwähnt Hebbel in einem Lebensabriß, den
er Arnold Rüge zuschickt (Briefe V, 40 f.): „Ich konnte mich erst in meinem
zweiundzwanzigsten Jahre den Studieen widmen, befand mich im Uebrigen aber
in ganz erträglichen Verhältnissen." Hier erkennt er sogar den Gewinn des
Einblickes „in die Mannigfaltigkeit des menschlichen Thuns und Treibens" an.
1833 war der Kutscher Christoph am Fleckfieber erkrankt gewesen, und im Jahre
darauf dichtete Hebbel für den Fackelzug anläßlich von Mohrs Vermählung
Verse, die überströmen von Dankbarkeit (Sämtliche Werke. Historisch - kritische
Ausgabe, VII. Band, S. 117). Da heißt es u. a.:


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[0121] Rirchspielvogt Mohr Briefe. Bei dem Falle Hebbel-Mohr waltet, wie er nicht erfaßte, offenbar jene Tragik, die sich aus dem Zusammenprallen zweier Naturen entwickelt, von denen die eine so gut wie die andere recht zu haben meint und jede ihren Standpunkt bis zum äußersten vertritt. In einem von Hebbel nicht gewollten Sinne läßt sich seine erschütternde Bemerkung deuten: „Es gibt Ungerechtig¬ keiten, die gerade nur dieser Mensch gegen jenen begehen und deren Größe der Gekränkte nur dadurch zeigen kann, daß er ebensoviele gegen den anderen begeht. In diesem Fall befinde ich mich zu dem Kirchspielvogt Mohr in Wessel- buren." Welch klare Einsicht in seine eigene seelische Verfassung und welche Blindheit in der Einschätzung Mohrs! Wer oberflächlich, ohne den tragischen Konflikt zu ergründen, das Ver¬ hältnis des Dichters zu dem Bureaukraten mit engem Horizont nur unter Hebbels Gesichtswinkel betrachtet, kann von Mohr als einem „Lumpen", als einer „Kanaille" sprechen. Übrigens stellt sich bei dem Dichter Eulenberg die Wortassoziation „Mohr" und „Kanaille" wohl nur deshalb ein, weil er seinen „Fiesko" (I. 9) im Kopfe hat. Es ist Pflicht der Gerechtigkeit, einmal hervorzuheben, daß Hebbel zu Zeiten, und zwar zu ganz verschiedenen, seinen Brodherrn, der ihn, ob mit vollem Bewußtsein, bleibe unerörtert, in die Welt der Geisteskultur eingeführt hat, minder hart beurteilte. Im Jahre 1832 schrieb er an Uhland: „Gleich nach den: Absterben meines Vaters wurde ich von dem hiesigen Herrn Kirchspielvogt Mohr, einem so menschenfreundlichen, als gebildeten Manne, in's Haus genommen, um ihm als Schreiber in seinen zahlreichen Geschäften beizustehen: mein Herr behandelt mich so gut, wie ich nur immer wünschen kann: ich könnte daher wohl mit meiner Lage zufrieden seyn; allein, es fehlt mir hier fast an jeder Gelegenheit, mir einige Bildung zu erwerben, welche ich mir doch so außer¬ ordentlich gern erwerben mögte. Mein Herr steht dieses selbst ein, und hat schon wiederholentlich gegen mich geäußert, daß ich nicht am rechten Platze stehe: er aber wußte so wenig einen Ausweg, als ich selbst." Vielleicht schätzt man diese Darlegung nicht hoch ein, indem man sich in die damalige unfreie Lage Hebbels versetzt. Gewiß mußte der junge Mann Vorsicht brauchen in seinem Urteil über den Prinzipal, Uhland konnte doch Erkundigungen einziehen; aber notwendig war ein so unzweideutiges Lob des Vorgesetzten in diesem Briefe nicht. Noch zwanzig Jahre später erwähnt Hebbel in einem Lebensabriß, den er Arnold Rüge zuschickt (Briefe V, 40 f.): „Ich konnte mich erst in meinem zweiundzwanzigsten Jahre den Studieen widmen, befand mich im Uebrigen aber in ganz erträglichen Verhältnissen." Hier erkennt er sogar den Gewinn des Einblickes „in die Mannigfaltigkeit des menschlichen Thuns und Treibens" an. 1833 war der Kutscher Christoph am Fleckfieber erkrankt gewesen, und im Jahre darauf dichtete Hebbel für den Fackelzug anläßlich von Mohrs Vermählung Verse, die überströmen von Dankbarkeit (Sämtliche Werke. Historisch - kritische Ausgabe, VII. Band, S. 117). Da heißt es u. a.:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/121>, abgerufen am 27.07.2024.