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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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gleich zwischen den nationalwirtschaftlichen
und nationalpolitischen Forderungen des
Augenblicks herbeiführen könnten. Vom
Kriegsministerium können wir in dieser Rich¬
tung eine Anregung kaum erwarten: Die
Heeresleitung fühlt sich, und zwar mit Recht,
zu sehr als rein technische Behörde, als daß sie
geneigt sein könnte, die angedeuteten
Verhältnisse zu studieren. Die Regierung
versucht durch innere Kolonisation -- leider
unter ständigen Widerstande maßgebender
konservativer Kreise -- das Loch in unserer
Bevölkerung zuzustopfen. Aber schnellerwir¬
kende Maßnahmen wird auch sie nicht bringen.
Da ist es eine schöne Aufgabe für die natio¬
nalen Parteien, im Reichstage einzuspringen
und die gangbaren Wege zu finden.

G. Lleinow
Philosophie

Philosophie und Einzelwissenschaften.
Das starke Anwachsen des philosophischen
Interesses in weitesten Kreisen der Gebildeten
ist eine der interessantesten und bedeutsamsten
Erscheinungen im Geistesleben der Gegenwart.
Für die wissenschaftliche Philosophie bedeutet
diese Tatsache zugleich einen großen Vorteil
und eine schwere Gefahr. Der Vorteil liegt
auf der Hand. Wo viele Geister sich lebhaft
regen, da ist unter sonst gleichen Umständen
die Wahrscheinlichkeit, daß die Wissenschaft
daraus Gewinn ziehe, größer, als da wo nur
wenige Kräfte am Werke sind. Die Gefahr
einer solchen geistigen Bewegung ist dagegen
nicht so leicht erkennbar. Sie liegt darin,
daß der Gewinn an Breite oft nur auf Kosten
eines Verlustes an Tiefe erzielt wird. Dies
ist die Gefahr, die jeder Art Philosophischer
"Aufklärungsbewegung" innewohnt. Unser
gegenwärtiges Zeitalter befindet sich nach der
Ansicht vieler kundiger Beurteiler in einer
philosophischen Aufklärungsbewegung. Zahl¬
reiche akademische und literarische Erfahrungen
bestätigen diese Ansicht. Wir haben daher die
Pflicht, uns auf die Gefahren zu besinnen,
die diese Bewegung auch heute wieder -- wie
schon so oft in der Geschichte der Kulturent¬
wicklung -- mit sich bringt. Gefährlich ist
das starke Anwachsen der Anzahl der Zuhörer
aller Alters- und Berufsklassen und beiderlei
Geschlechtes in den Vortragssälen, in denen

[Spaltenumbruch]

"Populär-Wissenschaftliche" Vorträge philo¬
sophischen Inhaltes gehalten werden.

Der Begriff: populär-wissenschaftlich ist
zwar an sich gewiß nicht widerspruchsvoll. Es
ist theoretisch und auch Praktisch durchaus mög¬
lich, Forschungsverfahren und Forschungs¬
ergebnisse einer Wissenschaft auch Leuten ohne
besondere Vorkenntnisse innerhalb gewisser
Grenzen zugänglich zu machen. Aber die
Erfüllung dieser Aufgabe ist für den Lehren¬
den ganz außerordentlich schwer. Sie er¬
fordert ein Einfühlungsvermögen, das nicht
jeder Gelehrte besitzt. Ja, oft fehlt gerade
den scharfsinnigsten und erfolgreichsten For¬
schern jede Fähigkeit für eine auch dem Laien
verständliche Darstellungsweise ihrer For¬
schungsergebnisse. Auch auf feiten des Hörers
Populär-Wissenschaftlicher Vorträge müssen die
Umstände besonders günstig liegen, wenn das
Ergebnis ein erfreuliches sein soll. Halb¬
verstandenes und Falschverstandcnes ist schäd¬
licher als Garnichtverstandenes. Alles dies
trifft für die Philosophie in erhöhtem Maße zu!

Gefährlich ist ferner daS geradezu be¬
ängstigende Anwachsen der literarischen Pro¬
duktion auf Philosophischen Gebiete. Es
nehmen einen Raum von bedenklicher Breite
ein die Bücher, in denen "de omnibus rebus
et quibusllsm aliis" mit dem äußeren An¬
strich der Wissenschaftlichkeit in Wahrheit aber
mit größter Oberflächlichkeit gehandelt wird.

Solche Schriften, die von den Einzel¬
wissenschaften einmütig als dilettantische Orien¬
tierungsversuche int unbekannten Gelände ab¬
gelehnt werden, erscheinen dann mit der Eti¬
kette "Philosophie" versehen auf dem Markte
und finden oft bei einem breiten Publikum
Philosophischer Laien einen reißenden Absatz.

Die größte Gefahr dieser "AufklärungS-
bewegung" in der Philosophie der Gegenwart
ist, daß sie eine Entfremdung zwischen Philo¬
sophie und Einzelwissenschaften herbeizuführen
droht. Eine völlige Trennung zwischen Phi¬
losophie und Einzelwissenschaften würde aber
einem Zusammenbruch der Philosophie gleich¬
kommen. Denn diese stellt den Versuch einer
wissenschaftlichen Gesamtauffassung deS Wirk¬
lichen dar. Sie wächst aus den Zusammen¬
hängen des wissenschaftlichen Denkens hervor,
macht dieselbe "Wirklichkeit" zum Gegenstand
ihrer Forschungen, die auch die Einzelwissen-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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gleich zwischen den nationalwirtschaftlichen
und nationalpolitischen Forderungen des
Augenblicks herbeiführen könnten. Vom
Kriegsministerium können wir in dieser Rich¬
tung eine Anregung kaum erwarten: Die
Heeresleitung fühlt sich, und zwar mit Recht,
zu sehr als rein technische Behörde, als daß sie
geneigt sein könnte, die angedeuteten
Verhältnisse zu studieren. Die Regierung
versucht durch innere Kolonisation — leider
unter ständigen Widerstande maßgebender
konservativer Kreise — das Loch in unserer
Bevölkerung zuzustopfen. Aber schnellerwir¬
kende Maßnahmen wird auch sie nicht bringen.
Da ist es eine schöne Aufgabe für die natio¬
nalen Parteien, im Reichstage einzuspringen
und die gangbaren Wege zu finden.

G. Lleinow
Philosophie

Philosophie und Einzelwissenschaften.
Das starke Anwachsen des philosophischen
Interesses in weitesten Kreisen der Gebildeten
ist eine der interessantesten und bedeutsamsten
Erscheinungen im Geistesleben der Gegenwart.
Für die wissenschaftliche Philosophie bedeutet
diese Tatsache zugleich einen großen Vorteil
und eine schwere Gefahr. Der Vorteil liegt
auf der Hand. Wo viele Geister sich lebhaft
regen, da ist unter sonst gleichen Umständen
die Wahrscheinlichkeit, daß die Wissenschaft
daraus Gewinn ziehe, größer, als da wo nur
wenige Kräfte am Werke sind. Die Gefahr
einer solchen geistigen Bewegung ist dagegen
nicht so leicht erkennbar. Sie liegt darin,
daß der Gewinn an Breite oft nur auf Kosten
eines Verlustes an Tiefe erzielt wird. Dies
ist die Gefahr, die jeder Art Philosophischer
„Aufklärungsbewegung" innewohnt. Unser
gegenwärtiges Zeitalter befindet sich nach der
Ansicht vieler kundiger Beurteiler in einer
philosophischen Aufklärungsbewegung. Zahl¬
reiche akademische und literarische Erfahrungen
bestätigen diese Ansicht. Wir haben daher die
Pflicht, uns auf die Gefahren zu besinnen,
die diese Bewegung auch heute wieder — wie
schon so oft in der Geschichte der Kulturent¬
wicklung — mit sich bringt. Gefährlich ist
das starke Anwachsen der Anzahl der Zuhörer
aller Alters- und Berufsklassen und beiderlei
Geschlechtes in den Vortragssälen, in denen

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„Populär-Wissenschaftliche" Vorträge philo¬
sophischen Inhaltes gehalten werden.

Der Begriff: populär-wissenschaftlich ist
zwar an sich gewiß nicht widerspruchsvoll. Es
ist theoretisch und auch Praktisch durchaus mög¬
lich, Forschungsverfahren und Forschungs¬
ergebnisse einer Wissenschaft auch Leuten ohne
besondere Vorkenntnisse innerhalb gewisser
Grenzen zugänglich zu machen. Aber die
Erfüllung dieser Aufgabe ist für den Lehren¬
den ganz außerordentlich schwer. Sie er¬
fordert ein Einfühlungsvermögen, das nicht
jeder Gelehrte besitzt. Ja, oft fehlt gerade
den scharfsinnigsten und erfolgreichsten For¬
schern jede Fähigkeit für eine auch dem Laien
verständliche Darstellungsweise ihrer For¬
schungsergebnisse. Auch auf feiten des Hörers
Populär-Wissenschaftlicher Vorträge müssen die
Umstände besonders günstig liegen, wenn das
Ergebnis ein erfreuliches sein soll. Halb¬
verstandenes und Falschverstandcnes ist schäd¬
licher als Garnichtverstandenes. Alles dies
trifft für die Philosophie in erhöhtem Maße zu!

Gefährlich ist ferner daS geradezu be¬
ängstigende Anwachsen der literarischen Pro¬
duktion auf Philosophischen Gebiete. Es
nehmen einen Raum von bedenklicher Breite
ein die Bücher, in denen „de omnibus rebus
et quibusllsm aliis" mit dem äußeren An¬
strich der Wissenschaftlichkeit in Wahrheit aber
mit größter Oberflächlichkeit gehandelt wird.

Solche Schriften, die von den Einzel¬
wissenschaften einmütig als dilettantische Orien¬
tierungsversuche int unbekannten Gelände ab¬
gelehnt werden, erscheinen dann mit der Eti¬
kette „Philosophie" versehen auf dem Markte
und finden oft bei einem breiten Publikum
Philosophischer Laien einen reißenden Absatz.

Die größte Gefahr dieser „AufklärungS-
bewegung" in der Philosophie der Gegenwart
ist, daß sie eine Entfremdung zwischen Philo¬
sophie und Einzelwissenschaften herbeizuführen
droht. Eine völlige Trennung zwischen Phi¬
losophie und Einzelwissenschaften würde aber
einem Zusammenbruch der Philosophie gleich¬
kommen. Denn diese stellt den Versuch einer
wissenschaftlichen Gesamtauffassung deS Wirk¬
lichen dar. Sie wächst aus den Zusammen¬
hängen des wissenschaftlichen Denkens hervor,
macht dieselbe „Wirklichkeit" zum Gegenstand
ihrer Forschungen, die auch die Einzelwissen-

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[0103] Maßgebliches und Unmaßgebliches gleich zwischen den nationalwirtschaftlichen und nationalpolitischen Forderungen des Augenblicks herbeiführen könnten. Vom Kriegsministerium können wir in dieser Rich¬ tung eine Anregung kaum erwarten: Die Heeresleitung fühlt sich, und zwar mit Recht, zu sehr als rein technische Behörde, als daß sie geneigt sein könnte, die angedeuteten Verhältnisse zu studieren. Die Regierung versucht durch innere Kolonisation — leider unter ständigen Widerstande maßgebender konservativer Kreise — das Loch in unserer Bevölkerung zuzustopfen. Aber schnellerwir¬ kende Maßnahmen wird auch sie nicht bringen. Da ist es eine schöne Aufgabe für die natio¬ nalen Parteien, im Reichstage einzuspringen und die gangbaren Wege zu finden. G. Lleinow Philosophie Philosophie und Einzelwissenschaften. Das starke Anwachsen des philosophischen Interesses in weitesten Kreisen der Gebildeten ist eine der interessantesten und bedeutsamsten Erscheinungen im Geistesleben der Gegenwart. Für die wissenschaftliche Philosophie bedeutet diese Tatsache zugleich einen großen Vorteil und eine schwere Gefahr. Der Vorteil liegt auf der Hand. Wo viele Geister sich lebhaft regen, da ist unter sonst gleichen Umständen die Wahrscheinlichkeit, daß die Wissenschaft daraus Gewinn ziehe, größer, als da wo nur wenige Kräfte am Werke sind. Die Gefahr einer solchen geistigen Bewegung ist dagegen nicht so leicht erkennbar. Sie liegt darin, daß der Gewinn an Breite oft nur auf Kosten eines Verlustes an Tiefe erzielt wird. Dies ist die Gefahr, die jeder Art Philosophischer „Aufklärungsbewegung" innewohnt. Unser gegenwärtiges Zeitalter befindet sich nach der Ansicht vieler kundiger Beurteiler in einer philosophischen Aufklärungsbewegung. Zahl¬ reiche akademische und literarische Erfahrungen bestätigen diese Ansicht. Wir haben daher die Pflicht, uns auf die Gefahren zu besinnen, die diese Bewegung auch heute wieder — wie schon so oft in der Geschichte der Kulturent¬ wicklung — mit sich bringt. Gefährlich ist das starke Anwachsen der Anzahl der Zuhörer aller Alters- und Berufsklassen und beiderlei Geschlechtes in den Vortragssälen, in denen „Populär-Wissenschaftliche" Vorträge philo¬ sophischen Inhaltes gehalten werden. Der Begriff: populär-wissenschaftlich ist zwar an sich gewiß nicht widerspruchsvoll. Es ist theoretisch und auch Praktisch durchaus mög¬ lich, Forschungsverfahren und Forschungs¬ ergebnisse einer Wissenschaft auch Leuten ohne besondere Vorkenntnisse innerhalb gewisser Grenzen zugänglich zu machen. Aber die Erfüllung dieser Aufgabe ist für den Lehren¬ den ganz außerordentlich schwer. Sie er¬ fordert ein Einfühlungsvermögen, das nicht jeder Gelehrte besitzt. Ja, oft fehlt gerade den scharfsinnigsten und erfolgreichsten For¬ schern jede Fähigkeit für eine auch dem Laien verständliche Darstellungsweise ihrer For¬ schungsergebnisse. Auch auf feiten des Hörers Populär-Wissenschaftlicher Vorträge müssen die Umstände besonders günstig liegen, wenn das Ergebnis ein erfreuliches sein soll. Halb¬ verstandenes und Falschverstandcnes ist schäd¬ licher als Garnichtverstandenes. Alles dies trifft für die Philosophie in erhöhtem Maße zu! Gefährlich ist ferner daS geradezu be¬ ängstigende Anwachsen der literarischen Pro¬ duktion auf Philosophischen Gebiete. Es nehmen einen Raum von bedenklicher Breite ein die Bücher, in denen „de omnibus rebus et quibusllsm aliis" mit dem äußeren An¬ strich der Wissenschaftlichkeit in Wahrheit aber mit größter Oberflächlichkeit gehandelt wird. Solche Schriften, die von den Einzel¬ wissenschaften einmütig als dilettantische Orien¬ tierungsversuche int unbekannten Gelände ab¬ gelehnt werden, erscheinen dann mit der Eti¬ kette „Philosophie" versehen auf dem Markte und finden oft bei einem breiten Publikum Philosophischer Laien einen reißenden Absatz. Die größte Gefahr dieser „AufklärungS- bewegung" in der Philosophie der Gegenwart ist, daß sie eine Entfremdung zwischen Philo¬ sophie und Einzelwissenschaften herbeizuführen droht. Eine völlige Trennung zwischen Phi¬ losophie und Einzelwissenschaften würde aber einem Zusammenbruch der Philosophie gleich¬ kommen. Denn diese stellt den Versuch einer wissenschaftlichen Gesamtauffassung deS Wirk¬ lichen dar. Sie wächst aus den Zusammen¬ hängen des wissenschaftlichen Denkens hervor, macht dieselbe „Wirklichkeit" zum Gegenstand ihrer Forschungen, die auch die Einzelwissen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/103>, abgerufen am 27.07.2024.