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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und UnmcisMl'liebes

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schaften zu ergründen suchen, und bedient sich
dabei grundsätzlich derselbe" Mittel. Vielfach
sieht man jedoch nicht auf diese wesentliche
Übereinstimmung zwischen Philosophie und
Einzelwissenschafte" in den Mitteln, sondern
rückt, unter einseitiger Betonung der Gleichheit
des Zieles, die Philosophie von den Einzel-
wissenschafle" ab und an Kunst und Religion
heran. In der Tat streben Philosophie, Re¬
ligion und Kunst alle drei nach dem gleichen
Ziele einer Gesamtauffassung des Wirklichen.
Aber während die Kunst dieses Ziel durch die
sinnliche Anschauung und Gestaltung, die Re¬
ligion auf der Grundlage des Gefühlserleb¬
nisses zu erreichen sucht, will die Philosophie er¬
kenne" und verstehen, um zuallgemeingültigen,
d. h, wissenschaftlichen Urteilen zu gelangen.

Die Vorurteile der Einzelwissenschaftcn
gegen die Philosophie werden am besten da¬
durch beseitigt, daß man das Verhältnis
zwischen beiden klar bestimmt. Ist die Philo¬
sophie Wissenschaft im gleichen Sinne wie die
Einzelwissenschaften? Was führt alle Einzel¬
wissenschafter mit Notwendigkeit zur Philo¬
sophie hin? Die erste Frage hat man zu
verneinen gesucht "ut dem Hinweis auf die
geschichtliche Tatsache, daß die heutigen Einzel¬
wissenschaften der Reihe nach aus der ur¬
sprünglichen Bormundschaft der philosophischen
Mutterwissenschaft ausgeschieden seien. Dieser
geschichtliche Vorgang soll ein Beweis sein
für die systematische Tatsache, daß für die
Philosophie nach endgültiger angemessener
Verteilung des gesamten wissenschaftlichen
Forschungsstoffes nichts "lehr übrig bleibe.
Der Philosoph soll gegenüber den Einzel¬
wissenschaftern zu kurz gekommen sein, wie
der Poet in Schillers "Teilung der Erde".
Aber jener Ausscheidungsprozeß, der sich im
Laufe der geschichtlichen Entwicklung vollzogen
hat, war niemals ein Auflösungsprozeß! Er
bewirkte vielmehr nur die Trennung Philo¬
sophischer und sonderwissenschnftlicher Probleme
und Problemlösungen auf immer zahlreicheren
und spezielleren Gebieten. Durch diesen natür¬
lichen Entwicklungsgang wird die Philosophie
nicht nur nicht vernichtet, sondern sie wächst
durch ihn an Fülle und Reichhaltigkeit ihrer
Wissensinhalte. Auch die in der Gegenwart
sich vollziehende Verselbständigung der Psycho¬
logie unter dem Einfluß der erperimentellen

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Forschnngsmethode wird der Philosophie keine
Verarmung bringen. Denn die Trennung
in experimentelle und philosophische Psycho¬
logie bedeutet ebensowenig einen Zerfall wie
die Trennung der alten Physik in Natur¬
wissenschaft und Naturphilosophie.

Worin liegt -- zweitens -- die innere
Notwendigkeit, die alle Einzelwissenschafter
zur Philosophie hinführt, wenn sie ihre einzel¬
wissenschaftlichen Probleme folgerichtig bis zu
Ende durchdenken? Sie liegt darin, daß
alles einzelwissenschaftliche Denken gewissen
formalen Bedingungen seiner Gültigkeit
unterworfen ist und sachlich von gewissen
Boraussetzungen ausgeht. Jene Bedingungen
untersucht die Philosophische Disziplin der
Logik, diese Voraussetzungen die Erkenntnis¬
theorie. Die Logik fragt, welchen allgemeinen
Gesetzmäßigkeiten denn die wirklichen Gegen¬
stände unterliegen, wenn ich einmal
von den besonderen Gesetzmäßigkeiten absehe,
denen sie als Naturgegenstände oder als
geistige Gegenstände unterworfen sind. Welches
sind die allgemeinen Gesetze, denen die wirk¬
lichen Dinge gehorchen, noch über die natur¬
wissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen
Sondergesetze hinaus? So fragt die Logik.
Und auch die Erkenntnistheorie hat es mit
dem Wirklichen zu tun, sofern es ganz all¬
gemein vom wissenschaftlichen Denken zum
Gegenstand genommen wird. Alle Einzel-
Wissenschaften machen -- gleichviel um welches
Forschungsgebiet es sich handelt -- in ge¬
meinsamer Weise gewisse Voraussetzungen.
So setzten sie alle voraus, daß das Wirkliche
aus einem Inbegriff von Dingen in Raum
und Zeit bestehe, bei denen sich Borgänge
abspielen, die durch einen durchgreifenden
Kausalzusammenhang miteinander verknüpft
sind. Die Erkenntnistheorie prüft die Be¬
rechtigung aller dieser Voraussetzungen nach.
Logik und Erkenntnistheorie bilden somit die
beiden Hauptwege, die für alle Einzelwissen-
schaften in gemeinsamer Weise den Zugang
zur Philosophie vermitteln. Daneben gibt
es für jede besondere Einzelwissenschnft auch
noch besondere Wege, die den unermüdlichen
oinzelwissenschciftlichen Forscher in das Land
der Philosophie führen.

Die Philosophie darf kühnlich jedem Einzel¬
wissenschafter das Versprechen geben, daß sich

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Maßgebliches und UnmcisMl'liebes

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schaften zu ergründen suchen, und bedient sich
dabei grundsätzlich derselbe» Mittel. Vielfach
sieht man jedoch nicht auf diese wesentliche
Übereinstimmung zwischen Philosophie und
Einzelwissenschafte» in den Mitteln, sondern
rückt, unter einseitiger Betonung der Gleichheit
des Zieles, die Philosophie von den Einzel-
wissenschafle» ab und an Kunst und Religion
heran. In der Tat streben Philosophie, Re¬
ligion und Kunst alle drei nach dem gleichen
Ziele einer Gesamtauffassung des Wirklichen.
Aber während die Kunst dieses Ziel durch die
sinnliche Anschauung und Gestaltung, die Re¬
ligion auf der Grundlage des Gefühlserleb¬
nisses zu erreichen sucht, will die Philosophie er¬
kenne» und verstehen, um zuallgemeingültigen,
d. h, wissenschaftlichen Urteilen zu gelangen.

Die Vorurteile der Einzelwissenschaftcn
gegen die Philosophie werden am besten da¬
durch beseitigt, daß man das Verhältnis
zwischen beiden klar bestimmt. Ist die Philo¬
sophie Wissenschaft im gleichen Sinne wie die
Einzelwissenschaften? Was führt alle Einzel¬
wissenschafter mit Notwendigkeit zur Philo¬
sophie hin? Die erste Frage hat man zu
verneinen gesucht »ut dem Hinweis auf die
geschichtliche Tatsache, daß die heutigen Einzel¬
wissenschaften der Reihe nach aus der ur¬
sprünglichen Bormundschaft der philosophischen
Mutterwissenschaft ausgeschieden seien. Dieser
geschichtliche Vorgang soll ein Beweis sein
für die systematische Tatsache, daß für die
Philosophie nach endgültiger angemessener
Verteilung des gesamten wissenschaftlichen
Forschungsstoffes nichts »lehr übrig bleibe.
Der Philosoph soll gegenüber den Einzel¬
wissenschaftern zu kurz gekommen sein, wie
der Poet in Schillers „Teilung der Erde".
Aber jener Ausscheidungsprozeß, der sich im
Laufe der geschichtlichen Entwicklung vollzogen
hat, war niemals ein Auflösungsprozeß! Er
bewirkte vielmehr nur die Trennung Philo¬
sophischer und sonderwissenschnftlicher Probleme
und Problemlösungen auf immer zahlreicheren
und spezielleren Gebieten. Durch diesen natür¬
lichen Entwicklungsgang wird die Philosophie
nicht nur nicht vernichtet, sondern sie wächst
durch ihn an Fülle und Reichhaltigkeit ihrer
Wissensinhalte. Auch die in der Gegenwart
sich vollziehende Verselbständigung der Psycho¬
logie unter dem Einfluß der erperimentellen

[Spaltenumbruch]

Forschnngsmethode wird der Philosophie keine
Verarmung bringen. Denn die Trennung
in experimentelle und philosophische Psycho¬
logie bedeutet ebensowenig einen Zerfall wie
die Trennung der alten Physik in Natur¬
wissenschaft und Naturphilosophie.

Worin liegt — zweitens — die innere
Notwendigkeit, die alle Einzelwissenschafter
zur Philosophie hinführt, wenn sie ihre einzel¬
wissenschaftlichen Probleme folgerichtig bis zu
Ende durchdenken? Sie liegt darin, daß
alles einzelwissenschaftliche Denken gewissen
formalen Bedingungen seiner Gültigkeit
unterworfen ist und sachlich von gewissen
Boraussetzungen ausgeht. Jene Bedingungen
untersucht die Philosophische Disziplin der
Logik, diese Voraussetzungen die Erkenntnis¬
theorie. Die Logik fragt, welchen allgemeinen
Gesetzmäßigkeiten denn die wirklichen Gegen¬
stände unterliegen, wenn ich einmal
von den besonderen Gesetzmäßigkeiten absehe,
denen sie als Naturgegenstände oder als
geistige Gegenstände unterworfen sind. Welches
sind die allgemeinen Gesetze, denen die wirk¬
lichen Dinge gehorchen, noch über die natur¬
wissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen
Sondergesetze hinaus? So fragt die Logik.
Und auch die Erkenntnistheorie hat es mit
dem Wirklichen zu tun, sofern es ganz all¬
gemein vom wissenschaftlichen Denken zum
Gegenstand genommen wird. Alle Einzel-
Wissenschaften machen — gleichviel um welches
Forschungsgebiet es sich handelt — in ge¬
meinsamer Weise gewisse Voraussetzungen.
So setzten sie alle voraus, daß das Wirkliche
aus einem Inbegriff von Dingen in Raum
und Zeit bestehe, bei denen sich Borgänge
abspielen, die durch einen durchgreifenden
Kausalzusammenhang miteinander verknüpft
sind. Die Erkenntnistheorie prüft die Be¬
rechtigung aller dieser Voraussetzungen nach.
Logik und Erkenntnistheorie bilden somit die
beiden Hauptwege, die für alle Einzelwissen-
schaften in gemeinsamer Weise den Zugang
zur Philosophie vermitteln. Daneben gibt
es für jede besondere Einzelwissenschnft auch
noch besondere Wege, die den unermüdlichen
oinzelwissenschciftlichen Forscher in das Land
der Philosophie führen.

Die Philosophie darf kühnlich jedem Einzel¬
wissenschafter das Versprechen geben, daß sich

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[0104] Maßgebliches und UnmcisMl'liebes schaften zu ergründen suchen, und bedient sich dabei grundsätzlich derselbe» Mittel. Vielfach sieht man jedoch nicht auf diese wesentliche Übereinstimmung zwischen Philosophie und Einzelwissenschafte» in den Mitteln, sondern rückt, unter einseitiger Betonung der Gleichheit des Zieles, die Philosophie von den Einzel- wissenschafle» ab und an Kunst und Religion heran. In der Tat streben Philosophie, Re¬ ligion und Kunst alle drei nach dem gleichen Ziele einer Gesamtauffassung des Wirklichen. Aber während die Kunst dieses Ziel durch die sinnliche Anschauung und Gestaltung, die Re¬ ligion auf der Grundlage des Gefühlserleb¬ nisses zu erreichen sucht, will die Philosophie er¬ kenne» und verstehen, um zuallgemeingültigen, d. h, wissenschaftlichen Urteilen zu gelangen. Die Vorurteile der Einzelwissenschaftcn gegen die Philosophie werden am besten da¬ durch beseitigt, daß man das Verhältnis zwischen beiden klar bestimmt. Ist die Philo¬ sophie Wissenschaft im gleichen Sinne wie die Einzelwissenschaften? Was führt alle Einzel¬ wissenschafter mit Notwendigkeit zur Philo¬ sophie hin? Die erste Frage hat man zu verneinen gesucht »ut dem Hinweis auf die geschichtliche Tatsache, daß die heutigen Einzel¬ wissenschaften der Reihe nach aus der ur¬ sprünglichen Bormundschaft der philosophischen Mutterwissenschaft ausgeschieden seien. Dieser geschichtliche Vorgang soll ein Beweis sein für die systematische Tatsache, daß für die Philosophie nach endgültiger angemessener Verteilung des gesamten wissenschaftlichen Forschungsstoffes nichts »lehr übrig bleibe. Der Philosoph soll gegenüber den Einzel¬ wissenschaftern zu kurz gekommen sein, wie der Poet in Schillers „Teilung der Erde". Aber jener Ausscheidungsprozeß, der sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung vollzogen hat, war niemals ein Auflösungsprozeß! Er bewirkte vielmehr nur die Trennung Philo¬ sophischer und sonderwissenschnftlicher Probleme und Problemlösungen auf immer zahlreicheren und spezielleren Gebieten. Durch diesen natür¬ lichen Entwicklungsgang wird die Philosophie nicht nur nicht vernichtet, sondern sie wächst durch ihn an Fülle und Reichhaltigkeit ihrer Wissensinhalte. Auch die in der Gegenwart sich vollziehende Verselbständigung der Psycho¬ logie unter dem Einfluß der erperimentellen Forschnngsmethode wird der Philosophie keine Verarmung bringen. Denn die Trennung in experimentelle und philosophische Psycho¬ logie bedeutet ebensowenig einen Zerfall wie die Trennung der alten Physik in Natur¬ wissenschaft und Naturphilosophie. Worin liegt — zweitens — die innere Notwendigkeit, die alle Einzelwissenschafter zur Philosophie hinführt, wenn sie ihre einzel¬ wissenschaftlichen Probleme folgerichtig bis zu Ende durchdenken? Sie liegt darin, daß alles einzelwissenschaftliche Denken gewissen formalen Bedingungen seiner Gültigkeit unterworfen ist und sachlich von gewissen Boraussetzungen ausgeht. Jene Bedingungen untersucht die Philosophische Disziplin der Logik, diese Voraussetzungen die Erkenntnis¬ theorie. Die Logik fragt, welchen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten denn die wirklichen Gegen¬ stände unterliegen, wenn ich einmal von den besonderen Gesetzmäßigkeiten absehe, denen sie als Naturgegenstände oder als geistige Gegenstände unterworfen sind. Welches sind die allgemeinen Gesetze, denen die wirk¬ lichen Dinge gehorchen, noch über die natur¬ wissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Sondergesetze hinaus? So fragt die Logik. Und auch die Erkenntnistheorie hat es mit dem Wirklichen zu tun, sofern es ganz all¬ gemein vom wissenschaftlichen Denken zum Gegenstand genommen wird. Alle Einzel- Wissenschaften machen — gleichviel um welches Forschungsgebiet es sich handelt — in ge¬ meinsamer Weise gewisse Voraussetzungen. So setzten sie alle voraus, daß das Wirkliche aus einem Inbegriff von Dingen in Raum und Zeit bestehe, bei denen sich Borgänge abspielen, die durch einen durchgreifenden Kausalzusammenhang miteinander verknüpft sind. Die Erkenntnistheorie prüft die Be¬ rechtigung aller dieser Voraussetzungen nach. Logik und Erkenntnistheorie bilden somit die beiden Hauptwege, die für alle Einzelwissen- schaften in gemeinsamer Weise den Zugang zur Philosophie vermitteln. Daneben gibt es für jede besondere Einzelwissenschnft auch noch besondere Wege, die den unermüdlichen oinzelwissenschciftlichen Forscher in das Land der Philosophie führen. Die Philosophie darf kühnlich jedem Einzel¬ wissenschafter das Versprechen geben, daß sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/104>, abgerufen am 27.07.2024.