Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Mochte Fremdwort

Denken vollzogen werden kann, bleibt die Rückdeutung auf den Gedanken nur
zu oft der subjektiven Auffassung überlassen.

Als dritter und letzter Umformungsprozeß folgt endlich der Ausdruck des
gesprochenen Wortes in einem Schriftzeichen. Auf den ersten Blick ist man
wohl geneigt, eine solche Unterscheidung für eine akademische Spitzfindigkeit zu
halten. Aber diese Umformung ist, wenn auch nicht so einschneidend wie die
vorangegangene, doch in ihrer Bedeutung nicht zu übersehen. Allerdings ist
das Schriftzeichen, wenn man so sagen darf, ex ante mit dem zugehörigen
Lautwort identisch, aber es kann und wird meistens durch veränderte Wirkungs¬
weise eine Sinnverschiebung ex p08t eintreten. Sie äußert sich darin, daß das
gelesene Wort flüchtiger, formelhafter, blutloser bleibt als das gehörte. Damit
ist nicht eigentlich von einem Bedeutungswechsel die Rede, da eine Umprägung
des Wortes, um die es sich hier nur handelt, wohl eine Neu-, aber noch keine
Anderswertung bedingt. An einer Sinnverschiebung können wir jedoch fest¬
halten, insofern wir (im Gegensatz zur "Bedeutung", als seines bloßen Inhaltes)
unter dem "Sinn" eines Wortes seinen totalen Eigenwert nach Inhalt und
Form verstehen.

Die Erstarrung der lebendigen Idee ist hier in der Stufenfolge ihrer
fortschreitenden Umformung auf dem äußersten Punkt angelangt. Da liegt sie
nun, kunstvoll einbalsamiert zum immerwährenden, eigenen Gebrauch oder zu
Nutz und Frommen einer schaulustigen Menge: sie ist "fixiert"; allerdings um
denselben Preis wie der Schmetterling, der unter der Nadel des Entomologen
seine letzten Zuckungen macht. Beide kann man nun getrost nach Hause tragen.

So geartet ist das Material, auf das sich der wissenschaftliche Schriftsteller
angewiesen sieht. Demgegenüber steht seine Aufgabe in ihrer ganzen Strenge.
Das Ziel jeder Wissenschaft ist objektive Wahrheit. Ohne uns hier auf die
alte Pilatusfrage einzulassen, ist es zunächst zweifellos, daß die objektive Wahr¬
heit nur auf dem Umwege der subjektiven zu gewinnen ist. Das Wahre ist
ein Nebenerfolg des Wahrhaftigen. Bedeutet dies für den Gelehrten schon
eine mit der Natur seiner Methode unlöslich verkettete Resignation, so liegt in
der geschilderten Eigenart seines Materials die weitere Gefahr, daß sogar die
ihm allein erreichbare subjektive Wahrheit in Frage gestellt ist. Angesichts der
jedesmal von neuem drohenden Sinnverschiebung erhebt sich für ihn die
kategorische Forderung, in der dreifachen Umformung der ausgesagten Wahrheit
die willkürliche Aufeinanderfolge durch eine notwendige Aufeinanderfolge zu
ersetzen. Um das zu erreichen muß er bei jedem der drei Prozesse die äußerste
Klarheit walten lassen. Sie ergibt sich dabei für ihn als eine Umkehrung des
Verhaltens, das der Laie ihnen gegenüber einnimmt. Wenn dieser, seine
Ideen durch Vorurteil und Gewöhnung gedanklich vergewaltigend, bei dem
ersten Prozeß die Willkür unbewußt und aktiv ausübt, läßt ihn der wissen¬
schaftliche Schriftsteller sich passiv, tendenziös in seinem Bewußtsein abspielen.
Er zwingt sich zur Rolle des Zuschauers bei dem Vorgang, wie sich die Ge-


Das Mochte Fremdwort

Denken vollzogen werden kann, bleibt die Rückdeutung auf den Gedanken nur
zu oft der subjektiven Auffassung überlassen.

Als dritter und letzter Umformungsprozeß folgt endlich der Ausdruck des
gesprochenen Wortes in einem Schriftzeichen. Auf den ersten Blick ist man
wohl geneigt, eine solche Unterscheidung für eine akademische Spitzfindigkeit zu
halten. Aber diese Umformung ist, wenn auch nicht so einschneidend wie die
vorangegangene, doch in ihrer Bedeutung nicht zu übersehen. Allerdings ist
das Schriftzeichen, wenn man so sagen darf, ex ante mit dem zugehörigen
Lautwort identisch, aber es kann und wird meistens durch veränderte Wirkungs¬
weise eine Sinnverschiebung ex p08t eintreten. Sie äußert sich darin, daß das
gelesene Wort flüchtiger, formelhafter, blutloser bleibt als das gehörte. Damit
ist nicht eigentlich von einem Bedeutungswechsel die Rede, da eine Umprägung
des Wortes, um die es sich hier nur handelt, wohl eine Neu-, aber noch keine
Anderswertung bedingt. An einer Sinnverschiebung können wir jedoch fest¬
halten, insofern wir (im Gegensatz zur „Bedeutung", als seines bloßen Inhaltes)
unter dem „Sinn" eines Wortes seinen totalen Eigenwert nach Inhalt und
Form verstehen.

Die Erstarrung der lebendigen Idee ist hier in der Stufenfolge ihrer
fortschreitenden Umformung auf dem äußersten Punkt angelangt. Da liegt sie
nun, kunstvoll einbalsamiert zum immerwährenden, eigenen Gebrauch oder zu
Nutz und Frommen einer schaulustigen Menge: sie ist „fixiert"; allerdings um
denselben Preis wie der Schmetterling, der unter der Nadel des Entomologen
seine letzten Zuckungen macht. Beide kann man nun getrost nach Hause tragen.

So geartet ist das Material, auf das sich der wissenschaftliche Schriftsteller
angewiesen sieht. Demgegenüber steht seine Aufgabe in ihrer ganzen Strenge.
Das Ziel jeder Wissenschaft ist objektive Wahrheit. Ohne uns hier auf die
alte Pilatusfrage einzulassen, ist es zunächst zweifellos, daß die objektive Wahr¬
heit nur auf dem Umwege der subjektiven zu gewinnen ist. Das Wahre ist
ein Nebenerfolg des Wahrhaftigen. Bedeutet dies für den Gelehrten schon
eine mit der Natur seiner Methode unlöslich verkettete Resignation, so liegt in
der geschilderten Eigenart seines Materials die weitere Gefahr, daß sogar die
ihm allein erreichbare subjektive Wahrheit in Frage gestellt ist. Angesichts der
jedesmal von neuem drohenden Sinnverschiebung erhebt sich für ihn die
kategorische Forderung, in der dreifachen Umformung der ausgesagten Wahrheit
die willkürliche Aufeinanderfolge durch eine notwendige Aufeinanderfolge zu
ersetzen. Um das zu erreichen muß er bei jedem der drei Prozesse die äußerste
Klarheit walten lassen. Sie ergibt sich dabei für ihn als eine Umkehrung des
Verhaltens, das der Laie ihnen gegenüber einnimmt. Wenn dieser, seine
Ideen durch Vorurteil und Gewöhnung gedanklich vergewaltigend, bei dem
ersten Prozeß die Willkür unbewußt und aktiv ausübt, läßt ihn der wissen¬
schaftliche Schriftsteller sich passiv, tendenziös in seinem Bewußtsein abspielen.
Er zwingt sich zur Rolle des Zuschauers bei dem Vorgang, wie sich die Ge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0071" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324941"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Mochte Fremdwort</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_195" prev="#ID_194"> Denken vollzogen werden kann, bleibt die Rückdeutung auf den Gedanken nur<lb/>
zu oft der subjektiven Auffassung überlassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_196"> Als dritter und letzter Umformungsprozeß folgt endlich der Ausdruck des<lb/>
gesprochenen Wortes in einem Schriftzeichen. Auf den ersten Blick ist man<lb/>
wohl geneigt, eine solche Unterscheidung für eine akademische Spitzfindigkeit zu<lb/>
halten. Aber diese Umformung ist, wenn auch nicht so einschneidend wie die<lb/>
vorangegangene, doch in ihrer Bedeutung nicht zu übersehen. Allerdings ist<lb/>
das Schriftzeichen, wenn man so sagen darf, ex ante mit dem zugehörigen<lb/>
Lautwort identisch, aber es kann und wird meistens durch veränderte Wirkungs¬<lb/>
weise eine Sinnverschiebung ex p08t eintreten. Sie äußert sich darin, daß das<lb/>
gelesene Wort flüchtiger, formelhafter, blutloser bleibt als das gehörte. Damit<lb/>
ist nicht eigentlich von einem Bedeutungswechsel die Rede, da eine Umprägung<lb/>
des Wortes, um die es sich hier nur handelt, wohl eine Neu-, aber noch keine<lb/>
Anderswertung bedingt. An einer Sinnverschiebung können wir jedoch fest¬<lb/>
halten, insofern wir (im Gegensatz zur &#x201E;Bedeutung", als seines bloßen Inhaltes)<lb/>
unter dem &#x201E;Sinn" eines Wortes seinen totalen Eigenwert nach Inhalt und<lb/>
Form verstehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_197"> Die Erstarrung der lebendigen Idee ist hier in der Stufenfolge ihrer<lb/>
fortschreitenden Umformung auf dem äußersten Punkt angelangt. Da liegt sie<lb/>
nun, kunstvoll einbalsamiert zum immerwährenden, eigenen Gebrauch oder zu<lb/>
Nutz und Frommen einer schaulustigen Menge: sie ist &#x201E;fixiert"; allerdings um<lb/>
denselben Preis wie der Schmetterling, der unter der Nadel des Entomologen<lb/>
seine letzten Zuckungen macht.  Beide kann man nun getrost nach Hause tragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_198" next="#ID_199"> So geartet ist das Material, auf das sich der wissenschaftliche Schriftsteller<lb/>
angewiesen sieht. Demgegenüber steht seine Aufgabe in ihrer ganzen Strenge.<lb/>
Das Ziel jeder Wissenschaft ist objektive Wahrheit. Ohne uns hier auf die<lb/>
alte Pilatusfrage einzulassen, ist es zunächst zweifellos, daß die objektive Wahr¬<lb/>
heit nur auf dem Umwege der subjektiven zu gewinnen ist. Das Wahre ist<lb/>
ein Nebenerfolg des Wahrhaftigen. Bedeutet dies für den Gelehrten schon<lb/>
eine mit der Natur seiner Methode unlöslich verkettete Resignation, so liegt in<lb/>
der geschilderten Eigenart seines Materials die weitere Gefahr, daß sogar die<lb/>
ihm allein erreichbare subjektive Wahrheit in Frage gestellt ist. Angesichts der<lb/>
jedesmal von neuem drohenden Sinnverschiebung erhebt sich für ihn die<lb/>
kategorische Forderung, in der dreifachen Umformung der ausgesagten Wahrheit<lb/>
die willkürliche Aufeinanderfolge durch eine notwendige Aufeinanderfolge zu<lb/>
ersetzen. Um das zu erreichen muß er bei jedem der drei Prozesse die äußerste<lb/>
Klarheit walten lassen. Sie ergibt sich dabei für ihn als eine Umkehrung des<lb/>
Verhaltens, das der Laie ihnen gegenüber einnimmt. Wenn dieser, seine<lb/>
Ideen durch Vorurteil und Gewöhnung gedanklich vergewaltigend, bei dem<lb/>
ersten Prozeß die Willkür unbewußt und aktiv ausübt, läßt ihn der wissen¬<lb/>
schaftliche Schriftsteller sich passiv, tendenziös in seinem Bewußtsein abspielen.<lb/>
Er zwingt sich zur Rolle des Zuschauers bei dem Vorgang, wie sich die Ge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0071] Das Mochte Fremdwort Denken vollzogen werden kann, bleibt die Rückdeutung auf den Gedanken nur zu oft der subjektiven Auffassung überlassen. Als dritter und letzter Umformungsprozeß folgt endlich der Ausdruck des gesprochenen Wortes in einem Schriftzeichen. Auf den ersten Blick ist man wohl geneigt, eine solche Unterscheidung für eine akademische Spitzfindigkeit zu halten. Aber diese Umformung ist, wenn auch nicht so einschneidend wie die vorangegangene, doch in ihrer Bedeutung nicht zu übersehen. Allerdings ist das Schriftzeichen, wenn man so sagen darf, ex ante mit dem zugehörigen Lautwort identisch, aber es kann und wird meistens durch veränderte Wirkungs¬ weise eine Sinnverschiebung ex p08t eintreten. Sie äußert sich darin, daß das gelesene Wort flüchtiger, formelhafter, blutloser bleibt als das gehörte. Damit ist nicht eigentlich von einem Bedeutungswechsel die Rede, da eine Umprägung des Wortes, um die es sich hier nur handelt, wohl eine Neu-, aber noch keine Anderswertung bedingt. An einer Sinnverschiebung können wir jedoch fest¬ halten, insofern wir (im Gegensatz zur „Bedeutung", als seines bloßen Inhaltes) unter dem „Sinn" eines Wortes seinen totalen Eigenwert nach Inhalt und Form verstehen. Die Erstarrung der lebendigen Idee ist hier in der Stufenfolge ihrer fortschreitenden Umformung auf dem äußersten Punkt angelangt. Da liegt sie nun, kunstvoll einbalsamiert zum immerwährenden, eigenen Gebrauch oder zu Nutz und Frommen einer schaulustigen Menge: sie ist „fixiert"; allerdings um denselben Preis wie der Schmetterling, der unter der Nadel des Entomologen seine letzten Zuckungen macht. Beide kann man nun getrost nach Hause tragen. So geartet ist das Material, auf das sich der wissenschaftliche Schriftsteller angewiesen sieht. Demgegenüber steht seine Aufgabe in ihrer ganzen Strenge. Das Ziel jeder Wissenschaft ist objektive Wahrheit. Ohne uns hier auf die alte Pilatusfrage einzulassen, ist es zunächst zweifellos, daß die objektive Wahr¬ heit nur auf dem Umwege der subjektiven zu gewinnen ist. Das Wahre ist ein Nebenerfolg des Wahrhaftigen. Bedeutet dies für den Gelehrten schon eine mit der Natur seiner Methode unlöslich verkettete Resignation, so liegt in der geschilderten Eigenart seines Materials die weitere Gefahr, daß sogar die ihm allein erreichbare subjektive Wahrheit in Frage gestellt ist. Angesichts der jedesmal von neuem drohenden Sinnverschiebung erhebt sich für ihn die kategorische Forderung, in der dreifachen Umformung der ausgesagten Wahrheit die willkürliche Aufeinanderfolge durch eine notwendige Aufeinanderfolge zu ersetzen. Um das zu erreichen muß er bei jedem der drei Prozesse die äußerste Klarheit walten lassen. Sie ergibt sich dabei für ihn als eine Umkehrung des Verhaltens, das der Laie ihnen gegenüber einnimmt. Wenn dieser, seine Ideen durch Vorurteil und Gewöhnung gedanklich vergewaltigend, bei dem ersten Prozeß die Willkür unbewußt und aktiv ausübt, läßt ihn der wissen¬ schaftliche Schriftsteller sich passiv, tendenziös in seinem Bewußtsein abspielen. Er zwingt sich zur Rolle des Zuschauers bei dem Vorgang, wie sich die Ge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/71
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/71>, abgerufen am 22.12.2024.