Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das seltenste Fremdwort

daß es hier auf die formale Übereinstimmung von Sache und Ausdruck abgesehen
ist: "Wer etwas, der Form nach Deutsches zu sagen hat, der rede deutsch!"
Weder die inhaltlich deutsche Sache ist gemeint: sonst dürfte kein Carlyle über
Friedrich den Großen schreiben, noch die formal undeutsche Sache, wie die
Wissenschaft. Wie unsinnig hier eine nationale Forderung ist, ergibt sich, wenn
man ihr einmal die "formalen Wissenschaften" unterwirft: es gibt wohl deutsche
Arithmetiker oder deutsche Logiker, aber im Leben keine deutsche Arithmetik
oder Logik.

Daß nichts gegen das wissenschaftliche Fremdwort spricht, glaube ich dar¬
getan zu haben. Ein anderes ist es, seine Berechtigung positiv zu erweisen.
Dazu gehört eine sorgfältige Untersuchung der Gründe, die für seine wissen¬
schaftliche Anwendung wirksam sind. Gerade aus offenbarer Verkennung dieser
Motive entspringen die maßlosen Angriffe, die man heute gegen das Fremdwort
in der Wissenschaftssprache zu richten beliebt"), allerdings ohne von feiten der
Wissenschaft sehr beachtet zu werden.

Es ist in der Tat auffallend, daß die wissenschaftliche Ausdrucksweise von
jeher und allgemein mit so zäher Vorliebe an dem Fremdwort festhält. Diese
Tatsache muß anerkannt werden. Es genügt nicht, wie es immer wieder geschieht,
die "Fremdwörterei" als den Auswuchs eines bornierten Wissensdünkels hinzu¬
stellen. Wir lehnen den Theaterprofessor als Beweisobjekt ab und verlangen
eine Erklärung der Erscheinung, die ihrer realen Bedeutung gerecht wird. Es
genügt auch nicht, sie nur historisch aus der Tradition einer Wissenschaft abzu¬
leiten, die mit der Konservierung der alten Sprachen eine eigene Gelehrtensprache
begründet hatte, weil die lebenden noch zu jung und unausgebildet waren, um
sogleich das reiche Erbe der klassischen Kultur anzutreten. Damit ist das
Problem nur weiter zurückgeschoben. Denn die fertige Übernahme einer ganzen
Sprache ohne auch nur den Versuch der Einschmelzung und ihre geflissentliche
"Tot"-erhaltung durch ein rundes Jahrtausend bedeutet bereits eine Absage an
die lebende Volkssprache, die über das Maß der realen Notwendigkeit hinaus¬
ging**). Außerdem ist der Unterschied in der Bildsamkeit zwischen den alten
und neuen Sprachen längst in sein Gegenteil umgeschlagen. Alle diese Er¬
klärungen rühren uicht an die Wurzel des Problems. Wo ist nun diese zu
suchen? Offenbar in der Psyche des Gelehrten, und zwar nicht als einer zeitlich
oder subjektiv bedingten Einzelerscheinung, sondern sofern sie objektiv an die
Methodik einer jeden Wissenschaft gebunden ist, d. h. wir haben das Problem
objektiv psychologisch zu erklären. Dazu erfordert es, den Weg zu verfolgen,
auf dem der Gelehrte zur schriftlichen Fixierung seiner Ideen gelangt.

Zunächst werden wir dabei finden, daß diese nie restlos gelingt.

Was ist denn eine Idee? Wir können darüber nicht mehr als Bildliches
sagen: als eine dunkle, psychische Regung taucht sie triebhaft aus den Tiefen




") Vgl. E, Engel: Fremdwörterei. (Deutsche Tageszeitung vom 29. Mai 19to.)
Um 360 war z, B, die gotische Sprache schon imstande, die Bibel wiederzugeben.
Das seltenste Fremdwort

daß es hier auf die formale Übereinstimmung von Sache und Ausdruck abgesehen
ist: „Wer etwas, der Form nach Deutsches zu sagen hat, der rede deutsch!"
Weder die inhaltlich deutsche Sache ist gemeint: sonst dürfte kein Carlyle über
Friedrich den Großen schreiben, noch die formal undeutsche Sache, wie die
Wissenschaft. Wie unsinnig hier eine nationale Forderung ist, ergibt sich, wenn
man ihr einmal die „formalen Wissenschaften" unterwirft: es gibt wohl deutsche
Arithmetiker oder deutsche Logiker, aber im Leben keine deutsche Arithmetik
oder Logik.

Daß nichts gegen das wissenschaftliche Fremdwort spricht, glaube ich dar¬
getan zu haben. Ein anderes ist es, seine Berechtigung positiv zu erweisen.
Dazu gehört eine sorgfältige Untersuchung der Gründe, die für seine wissen¬
schaftliche Anwendung wirksam sind. Gerade aus offenbarer Verkennung dieser
Motive entspringen die maßlosen Angriffe, die man heute gegen das Fremdwort
in der Wissenschaftssprache zu richten beliebt"), allerdings ohne von feiten der
Wissenschaft sehr beachtet zu werden.

Es ist in der Tat auffallend, daß die wissenschaftliche Ausdrucksweise von
jeher und allgemein mit so zäher Vorliebe an dem Fremdwort festhält. Diese
Tatsache muß anerkannt werden. Es genügt nicht, wie es immer wieder geschieht,
die „Fremdwörterei" als den Auswuchs eines bornierten Wissensdünkels hinzu¬
stellen. Wir lehnen den Theaterprofessor als Beweisobjekt ab und verlangen
eine Erklärung der Erscheinung, die ihrer realen Bedeutung gerecht wird. Es
genügt auch nicht, sie nur historisch aus der Tradition einer Wissenschaft abzu¬
leiten, die mit der Konservierung der alten Sprachen eine eigene Gelehrtensprache
begründet hatte, weil die lebenden noch zu jung und unausgebildet waren, um
sogleich das reiche Erbe der klassischen Kultur anzutreten. Damit ist das
Problem nur weiter zurückgeschoben. Denn die fertige Übernahme einer ganzen
Sprache ohne auch nur den Versuch der Einschmelzung und ihre geflissentliche
„Tot"-erhaltung durch ein rundes Jahrtausend bedeutet bereits eine Absage an
die lebende Volkssprache, die über das Maß der realen Notwendigkeit hinaus¬
ging**). Außerdem ist der Unterschied in der Bildsamkeit zwischen den alten
und neuen Sprachen längst in sein Gegenteil umgeschlagen. Alle diese Er¬
klärungen rühren uicht an die Wurzel des Problems. Wo ist nun diese zu
suchen? Offenbar in der Psyche des Gelehrten, und zwar nicht als einer zeitlich
oder subjektiv bedingten Einzelerscheinung, sondern sofern sie objektiv an die
Methodik einer jeden Wissenschaft gebunden ist, d. h. wir haben das Problem
objektiv psychologisch zu erklären. Dazu erfordert es, den Weg zu verfolgen,
auf dem der Gelehrte zur schriftlichen Fixierung seiner Ideen gelangt.

Zunächst werden wir dabei finden, daß diese nie restlos gelingt.

Was ist denn eine Idee? Wir können darüber nicht mehr als Bildliches
sagen: als eine dunkle, psychische Regung taucht sie triebhaft aus den Tiefen




") Vgl. E, Engel: Fremdwörterei. (Deutsche Tageszeitung vom 29. Mai 19to.)
Um 360 war z, B, die gotische Sprache schon imstande, die Bibel wiederzugeben.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0069" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324939"/>
          <fw type="header" place="top"> Das seltenste Fremdwort</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_188" prev="#ID_187"> daß es hier auf die formale Übereinstimmung von Sache und Ausdruck abgesehen<lb/>
ist: &#x201E;Wer etwas, der Form nach Deutsches zu sagen hat, der rede deutsch!"<lb/>
Weder die inhaltlich deutsche Sache ist gemeint: sonst dürfte kein Carlyle über<lb/>
Friedrich den Großen schreiben, noch die formal undeutsche Sache, wie die<lb/>
Wissenschaft. Wie unsinnig hier eine nationale Forderung ist, ergibt sich, wenn<lb/>
man ihr einmal die &#x201E;formalen Wissenschaften" unterwirft: es gibt wohl deutsche<lb/>
Arithmetiker oder deutsche Logiker, aber im Leben keine deutsche Arithmetik<lb/>
oder Logik.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_189"> Daß nichts gegen das wissenschaftliche Fremdwort spricht, glaube ich dar¬<lb/>
getan zu haben. Ein anderes ist es, seine Berechtigung positiv zu erweisen.<lb/>
Dazu gehört eine sorgfältige Untersuchung der Gründe, die für seine wissen¬<lb/>
schaftliche Anwendung wirksam sind. Gerade aus offenbarer Verkennung dieser<lb/>
Motive entspringen die maßlosen Angriffe, die man heute gegen das Fremdwort<lb/>
in der Wissenschaftssprache zu richten beliebt"), allerdings ohne von feiten der<lb/>
Wissenschaft sehr beachtet zu werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_190"> Es ist in der Tat auffallend, daß die wissenschaftliche Ausdrucksweise von<lb/>
jeher und allgemein mit so zäher Vorliebe an dem Fremdwort festhält. Diese<lb/>
Tatsache muß anerkannt werden. Es genügt nicht, wie es immer wieder geschieht,<lb/>
die &#x201E;Fremdwörterei" als den Auswuchs eines bornierten Wissensdünkels hinzu¬<lb/>
stellen. Wir lehnen den Theaterprofessor als Beweisobjekt ab und verlangen<lb/>
eine Erklärung der Erscheinung, die ihrer realen Bedeutung gerecht wird. Es<lb/>
genügt auch nicht, sie nur historisch aus der Tradition einer Wissenschaft abzu¬<lb/>
leiten, die mit der Konservierung der alten Sprachen eine eigene Gelehrtensprache<lb/>
begründet hatte, weil die lebenden noch zu jung und unausgebildet waren, um<lb/>
sogleich das reiche Erbe der klassischen Kultur anzutreten. Damit ist das<lb/>
Problem nur weiter zurückgeschoben. Denn die fertige Übernahme einer ganzen<lb/>
Sprache ohne auch nur den Versuch der Einschmelzung und ihre geflissentliche<lb/>
&#x201E;Tot"-erhaltung durch ein rundes Jahrtausend bedeutet bereits eine Absage an<lb/>
die lebende Volkssprache, die über das Maß der realen Notwendigkeit hinaus¬<lb/>
ging**). Außerdem ist der Unterschied in der Bildsamkeit zwischen den alten<lb/>
und neuen Sprachen längst in sein Gegenteil umgeschlagen. Alle diese Er¬<lb/>
klärungen rühren uicht an die Wurzel des Problems. Wo ist nun diese zu<lb/>
suchen? Offenbar in der Psyche des Gelehrten, und zwar nicht als einer zeitlich<lb/>
oder subjektiv bedingten Einzelerscheinung, sondern sofern sie objektiv an die<lb/>
Methodik einer jeden Wissenschaft gebunden ist, d. h. wir haben das Problem<lb/>
objektiv psychologisch zu erklären. Dazu erfordert es, den Weg zu verfolgen,<lb/>
auf dem der Gelehrte zur schriftlichen Fixierung seiner Ideen gelangt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_191"> Zunächst werden wir dabei finden, daß diese nie restlos gelingt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_192" next="#ID_193"> Was ist denn eine Idee? Wir können darüber nicht mehr als Bildliches<lb/>
sagen: als eine dunkle, psychische Regung taucht sie triebhaft aus den Tiefen</p><lb/>
          <note xml:id="FID_35" place="foot"> ") Vgl. E, Engel: Fremdwörterei. (Deutsche Tageszeitung vom 29. Mai 19to.)</note><lb/>
          <note xml:id="FID_36" place="foot"> Um 360 war z, B, die gotische Sprache schon imstande, die Bibel wiederzugeben.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] Das seltenste Fremdwort daß es hier auf die formale Übereinstimmung von Sache und Ausdruck abgesehen ist: „Wer etwas, der Form nach Deutsches zu sagen hat, der rede deutsch!" Weder die inhaltlich deutsche Sache ist gemeint: sonst dürfte kein Carlyle über Friedrich den Großen schreiben, noch die formal undeutsche Sache, wie die Wissenschaft. Wie unsinnig hier eine nationale Forderung ist, ergibt sich, wenn man ihr einmal die „formalen Wissenschaften" unterwirft: es gibt wohl deutsche Arithmetiker oder deutsche Logiker, aber im Leben keine deutsche Arithmetik oder Logik. Daß nichts gegen das wissenschaftliche Fremdwort spricht, glaube ich dar¬ getan zu haben. Ein anderes ist es, seine Berechtigung positiv zu erweisen. Dazu gehört eine sorgfältige Untersuchung der Gründe, die für seine wissen¬ schaftliche Anwendung wirksam sind. Gerade aus offenbarer Verkennung dieser Motive entspringen die maßlosen Angriffe, die man heute gegen das Fremdwort in der Wissenschaftssprache zu richten beliebt"), allerdings ohne von feiten der Wissenschaft sehr beachtet zu werden. Es ist in der Tat auffallend, daß die wissenschaftliche Ausdrucksweise von jeher und allgemein mit so zäher Vorliebe an dem Fremdwort festhält. Diese Tatsache muß anerkannt werden. Es genügt nicht, wie es immer wieder geschieht, die „Fremdwörterei" als den Auswuchs eines bornierten Wissensdünkels hinzu¬ stellen. Wir lehnen den Theaterprofessor als Beweisobjekt ab und verlangen eine Erklärung der Erscheinung, die ihrer realen Bedeutung gerecht wird. Es genügt auch nicht, sie nur historisch aus der Tradition einer Wissenschaft abzu¬ leiten, die mit der Konservierung der alten Sprachen eine eigene Gelehrtensprache begründet hatte, weil die lebenden noch zu jung und unausgebildet waren, um sogleich das reiche Erbe der klassischen Kultur anzutreten. Damit ist das Problem nur weiter zurückgeschoben. Denn die fertige Übernahme einer ganzen Sprache ohne auch nur den Versuch der Einschmelzung und ihre geflissentliche „Tot"-erhaltung durch ein rundes Jahrtausend bedeutet bereits eine Absage an die lebende Volkssprache, die über das Maß der realen Notwendigkeit hinaus¬ ging**). Außerdem ist der Unterschied in der Bildsamkeit zwischen den alten und neuen Sprachen längst in sein Gegenteil umgeschlagen. Alle diese Er¬ klärungen rühren uicht an die Wurzel des Problems. Wo ist nun diese zu suchen? Offenbar in der Psyche des Gelehrten, und zwar nicht als einer zeitlich oder subjektiv bedingten Einzelerscheinung, sondern sofern sie objektiv an die Methodik einer jeden Wissenschaft gebunden ist, d. h. wir haben das Problem objektiv psychologisch zu erklären. Dazu erfordert es, den Weg zu verfolgen, auf dem der Gelehrte zur schriftlichen Fixierung seiner Ideen gelangt. Zunächst werden wir dabei finden, daß diese nie restlos gelingt. Was ist denn eine Idee? Wir können darüber nicht mehr als Bildliches sagen: als eine dunkle, psychische Regung taucht sie triebhaft aus den Tiefen ") Vgl. E, Engel: Fremdwörterei. (Deutsche Tageszeitung vom 29. Mai 19to.) Um 360 war z, B, die gotische Sprache schon imstande, die Bibel wiederzugeben.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/69
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/69>, abgerufen am 03.07.2024.