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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Alfred von Aiderlen-Wacchter

sehr viel übrig hatte, fühlte sich tief gekränkt ob der augenscheinlichen Undank¬
barkeit. Kiderlen verschwand aus der Hofgesellschaft. Er wurde Gesandter zu¬
nächst in Hamburg, später in Kopenhagen, einem der wichtigsten Posten für
die europäische Politik zu Lebzeiten Christians des Neunten. Während er fern
von Berlin weilte, arbeiteten seine Gegner um so eifriger und ungestörter, und
sie ruhten auch dann nicht, als bis er in Bukarest in der Versenkung verschwand.

Kiderlen ist trotz seiner Neigungen zu Tafelfreuden stets von einem
starken Bedürfnis nach Betätigung im großen erfüllt gewesen. In der
Bukarester Zeit hat er seine Kräfte nicht schlummern lassen, oder dort gar ein
Schlemmerdasein geführt. Im Gegenteil hat er systematisch seine Kenntnisse
vertieft. Zum Teil unter des Königs Karol von Rumänien, dieses lang¬
jährigen Balkanpraktikers, Anleitung hat er alle Details des Balkanproblems
durchforscht, hat wiederholt inkognito und amtlich den nahen Orient bis gegen
Koweit, die Balkanstaaten, Ungarn und Südrußland die Kreuz und Quer bereist
und sich so zu einem der hervorragendsten und kenntnisreichsten Balkandiplomaten
und Balkankenner emporgearbeitet. Selbst Marschall von Biederstem, als dessen
heimlicher Rivale Kiderlen von seinen Gegnern hingestellt wird, ohne es je
gewesen zu sein, hat gern die Unterstützung Kiderlens für sich in Anspruch
genommen, und auf seinen ausdrücklichen Wunsch ist es immer Kiderlen gewesen,
den der Reichskanzler zur Vertretung des deutschen Botschafters an der Pforte
beorderte. Kiderlens Stellung in Bukarest konnte man vielleicht in übertragenden
Sinne mit der Stellung eines Konstantin opeler Vizebotschafters vergleichen. So
befand er sich wohl in gesellschaftlicher, nicht aber in dienstlicher Beziehung in
der Versenkung.

Die Balkanverhältnisse entwickelten mehr und mehr den Krieg drohenden
Charakter, den wir im Jahre 1909 und 1912 näher kennen lernten. Fürst
Bülow konnte die eminente dadurch verursachte Arbeit wohl verrichten, solange
er in dem Staatssekretär Freiherrn von Nichthofen und dem Geheimen Legationsrat
Hammann zwei durchaus selbstlos und unermüdlich arbeitende Gehilfen hatte.
Als aber im Jahre 1906 Nichthofen ihm durch den Tod entrissen wurde und
erst Herr von Tschirschky und dann Herr von Schoen die Zügel des Aus¬
wärtigen Amts in die Hand bekamen, dazu die Marokkofrage und die Dreibund¬
verhältnisse ein immer ungemütlicheres Aussehen erhielten, erwies sich die
Situation für den deutschen Reichskanzler als unhaltbar. Es zeigte sich als
unmöglich, eine Kraft wie Kiderlen fern von Berlin am Wege brach liegen zu
lassen, und das um so weniger, als die Ausbildung des Nachwuchses der
Diplomatie das Vorhandensein mehrerer Spezialkenner eines Gebiets sogut wie
vollständig ausschließt. Fürst Bülow setzte all sein diplomatisches Geschick und
seine persönliche Überredungskunst beim Kaiser in Bewegung, um diesen zur
Wiederanerkennung des schwäbischen Spötters zu bewegen. Mit welchem Erfolg
ist bekannt. Der Kaiser ließ es sich wohl gefallen, daß Herr von Kidcrlen
vorübergehend und zur Vertretung des erkrankten Herrn von Schoen ins Amt


Alfred von Aiderlen-Wacchter

sehr viel übrig hatte, fühlte sich tief gekränkt ob der augenscheinlichen Undank¬
barkeit. Kiderlen verschwand aus der Hofgesellschaft. Er wurde Gesandter zu¬
nächst in Hamburg, später in Kopenhagen, einem der wichtigsten Posten für
die europäische Politik zu Lebzeiten Christians des Neunten. Während er fern
von Berlin weilte, arbeiteten seine Gegner um so eifriger und ungestörter, und
sie ruhten auch dann nicht, als bis er in Bukarest in der Versenkung verschwand.

Kiderlen ist trotz seiner Neigungen zu Tafelfreuden stets von einem
starken Bedürfnis nach Betätigung im großen erfüllt gewesen. In der
Bukarester Zeit hat er seine Kräfte nicht schlummern lassen, oder dort gar ein
Schlemmerdasein geführt. Im Gegenteil hat er systematisch seine Kenntnisse
vertieft. Zum Teil unter des Königs Karol von Rumänien, dieses lang¬
jährigen Balkanpraktikers, Anleitung hat er alle Details des Balkanproblems
durchforscht, hat wiederholt inkognito und amtlich den nahen Orient bis gegen
Koweit, die Balkanstaaten, Ungarn und Südrußland die Kreuz und Quer bereist
und sich so zu einem der hervorragendsten und kenntnisreichsten Balkandiplomaten
und Balkankenner emporgearbeitet. Selbst Marschall von Biederstem, als dessen
heimlicher Rivale Kiderlen von seinen Gegnern hingestellt wird, ohne es je
gewesen zu sein, hat gern die Unterstützung Kiderlens für sich in Anspruch
genommen, und auf seinen ausdrücklichen Wunsch ist es immer Kiderlen gewesen,
den der Reichskanzler zur Vertretung des deutschen Botschafters an der Pforte
beorderte. Kiderlens Stellung in Bukarest konnte man vielleicht in übertragenden
Sinne mit der Stellung eines Konstantin opeler Vizebotschafters vergleichen. So
befand er sich wohl in gesellschaftlicher, nicht aber in dienstlicher Beziehung in
der Versenkung.

Die Balkanverhältnisse entwickelten mehr und mehr den Krieg drohenden
Charakter, den wir im Jahre 1909 und 1912 näher kennen lernten. Fürst
Bülow konnte die eminente dadurch verursachte Arbeit wohl verrichten, solange
er in dem Staatssekretär Freiherrn von Nichthofen und dem Geheimen Legationsrat
Hammann zwei durchaus selbstlos und unermüdlich arbeitende Gehilfen hatte.
Als aber im Jahre 1906 Nichthofen ihm durch den Tod entrissen wurde und
erst Herr von Tschirschky und dann Herr von Schoen die Zügel des Aus¬
wärtigen Amts in die Hand bekamen, dazu die Marokkofrage und die Dreibund¬
verhältnisse ein immer ungemütlicheres Aussehen erhielten, erwies sich die
Situation für den deutschen Reichskanzler als unhaltbar. Es zeigte sich als
unmöglich, eine Kraft wie Kiderlen fern von Berlin am Wege brach liegen zu
lassen, und das um so weniger, als die Ausbildung des Nachwuchses der
Diplomatie das Vorhandensein mehrerer Spezialkenner eines Gebiets sogut wie
vollständig ausschließt. Fürst Bülow setzte all sein diplomatisches Geschick und
seine persönliche Überredungskunst beim Kaiser in Bewegung, um diesen zur
Wiederanerkennung des schwäbischen Spötters zu bewegen. Mit welchem Erfolg
ist bekannt. Der Kaiser ließ es sich wohl gefallen, daß Herr von Kidcrlen
vorübergehend und zur Vertretung des erkrankten Herrn von Schoen ins Amt


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[0064] Alfred von Aiderlen-Wacchter sehr viel übrig hatte, fühlte sich tief gekränkt ob der augenscheinlichen Undank¬ barkeit. Kiderlen verschwand aus der Hofgesellschaft. Er wurde Gesandter zu¬ nächst in Hamburg, später in Kopenhagen, einem der wichtigsten Posten für die europäische Politik zu Lebzeiten Christians des Neunten. Während er fern von Berlin weilte, arbeiteten seine Gegner um so eifriger und ungestörter, und sie ruhten auch dann nicht, als bis er in Bukarest in der Versenkung verschwand. Kiderlen ist trotz seiner Neigungen zu Tafelfreuden stets von einem starken Bedürfnis nach Betätigung im großen erfüllt gewesen. In der Bukarester Zeit hat er seine Kräfte nicht schlummern lassen, oder dort gar ein Schlemmerdasein geführt. Im Gegenteil hat er systematisch seine Kenntnisse vertieft. Zum Teil unter des Königs Karol von Rumänien, dieses lang¬ jährigen Balkanpraktikers, Anleitung hat er alle Details des Balkanproblems durchforscht, hat wiederholt inkognito und amtlich den nahen Orient bis gegen Koweit, die Balkanstaaten, Ungarn und Südrußland die Kreuz und Quer bereist und sich so zu einem der hervorragendsten und kenntnisreichsten Balkandiplomaten und Balkankenner emporgearbeitet. Selbst Marschall von Biederstem, als dessen heimlicher Rivale Kiderlen von seinen Gegnern hingestellt wird, ohne es je gewesen zu sein, hat gern die Unterstützung Kiderlens für sich in Anspruch genommen, und auf seinen ausdrücklichen Wunsch ist es immer Kiderlen gewesen, den der Reichskanzler zur Vertretung des deutschen Botschafters an der Pforte beorderte. Kiderlens Stellung in Bukarest konnte man vielleicht in übertragenden Sinne mit der Stellung eines Konstantin opeler Vizebotschafters vergleichen. So befand er sich wohl in gesellschaftlicher, nicht aber in dienstlicher Beziehung in der Versenkung. Die Balkanverhältnisse entwickelten mehr und mehr den Krieg drohenden Charakter, den wir im Jahre 1909 und 1912 näher kennen lernten. Fürst Bülow konnte die eminente dadurch verursachte Arbeit wohl verrichten, solange er in dem Staatssekretär Freiherrn von Nichthofen und dem Geheimen Legationsrat Hammann zwei durchaus selbstlos und unermüdlich arbeitende Gehilfen hatte. Als aber im Jahre 1906 Nichthofen ihm durch den Tod entrissen wurde und erst Herr von Tschirschky und dann Herr von Schoen die Zügel des Aus¬ wärtigen Amts in die Hand bekamen, dazu die Marokkofrage und die Dreibund¬ verhältnisse ein immer ungemütlicheres Aussehen erhielten, erwies sich die Situation für den deutschen Reichskanzler als unhaltbar. Es zeigte sich als unmöglich, eine Kraft wie Kiderlen fern von Berlin am Wege brach liegen zu lassen, und das um so weniger, als die Ausbildung des Nachwuchses der Diplomatie das Vorhandensein mehrerer Spezialkenner eines Gebiets sogut wie vollständig ausschließt. Fürst Bülow setzte all sein diplomatisches Geschick und seine persönliche Überredungskunst beim Kaiser in Bewegung, um diesen zur Wiederanerkennung des schwäbischen Spötters zu bewegen. Mit welchem Erfolg ist bekannt. Der Kaiser ließ es sich wohl gefallen, daß Herr von Kidcrlen vorübergehend und zur Vertretung des erkrankten Herrn von Schoen ins Amt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/64>, abgerufen am 24.08.2024.