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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Zur Entvölkernngsfrage

vierwöchige Arbeitsruhe nach der Entbindung und, auf Grund ärztlichen Zeug¬
nisses bei Gefahr für die Schwangere oder das Kind, schon vorher, auch in
Frankreich zu sichern, das bisher neben Rußland und der Türkei allein unter
den außereuropäischen Staaten mit der Einführung gezögert hatte. Der Ent¬
wurf richtet sich namentlich gegen die Kindersterblichkeit während des ersten
Monats, die immer noch mehr als ein Drittel der Sterblichkeit während des
ersten Lebensjahres ausmacht, nämlich 30000 von 88000 im Jahre 1910.
d. h. 35,17 Prozent, also -- außer vorübergehendem Sinken auf 33,77 Prozent
gegen Ende des Jahrhunderts -- kaum gemindert ist seit Beginn der achtziger
Jahre, wo sie 37,72 Prozent betrug. Er bekämpft damit zugleich die Kinder¬
sterblichkeit während des ersten Lebensjahres, die von 169°/^ in den Jahren
1889 bis 1894 schon auf 130°/^ in den Jahren 1906 bis 1910 gesunken
ist. Den genannten Wöchnerinnen wird gleichzeitig, salls sie französischer
Nationalität und bedürftig sind, und vorausgesetzt, daß sie wirklich häuslicher Ruhe
pflegen sowie die nötigen Gesundheitsvorschriften befolgen, während der Ruhe¬
zeit, jedoch für höchstens acht Wochen, eine tägliche unübertragbare und unpfänd¬
bare Entschädigung, sei es in Geld, sei es in Natur, als Entgelt für den ent-
gangenen Arbeitsverdienst in Aussicht gestellt, dessen Höhe im Finanzgesetz des
nächsten Jahres festzusetzen ist. Der französische Staat in Verbindung mit
Departements und Gemeinden hat damit eine erhebliche Ausgabe auf sich
genommen, die man auf jährlich 3^ bis 6^ (selbst auf 20 bis 25) Millionen
Franken veranschlagt hat. d. h. je 50 Franken für 127000 bis 150000 (oder
500000) Mütter, unter Ersparung der schon bisher den Wöchnerinnen gewährten
Unterstützung durch Anrechnung der von den Eisenbahngesellschaften ihren
weiblichen Angestellten und den Frauen ihrer Beamten geleisteten Beihilfe von
50 Franken und der in den Staatsunternehmen den Lehrerinnen und An¬
gestellten im Post- und Telegraphendienste gewährten vollständigen Behandlung
während zweier Monate. Wie nach den Verhandlungen anzunehmen ist, wird
er vielleicht ein ähnliches Opfer, etwa 1^-z bis 2^ Millionen Franken, d. h.
je 25 Franken für 100000 Mütter jährlich unter Anrechnung bisher schon zu¬
gebilligter Beihilfen, nach Erklärung des Finanzministers über 13 Millionen
Franken, zur Unterstützung der Heimarbeiterinnen bringen, wenngleich hier eine
Veranlassung für die Mutter, das Kind einer Ziehmutter zu überlassen und
damit erheblichen Gefahren auszusetzen, nicht vorliegt.

Einen zweiten Gesetzentwurf hat der französische Senat Ende Januar und
Anfang Februar d. I. zu der in Frankreich infolge des Neumalthusianismus
außerordentlich weit verbreiteten Abtreibung beraten. Ohne diese würde die
Zahl der reichlich 700 000 jährlichen Geburten nach Schätzung des JustizministeN
Barthou um 70 000, nach anderen um 170 bis 180 000, ja sogar um 500 000
vermehrt werden, Ziffern, deren Genauigkeit sich schwerlich nachprüfen läßt. In
den Entbindungsanstalten und Kliniken werden mehr Abtreibungen als Geburten
behandelt; in den Hospitälern von Paris liegen 50 bis 70 Prozent der geschlechts-


Zur Entvölkernngsfrage

vierwöchige Arbeitsruhe nach der Entbindung und, auf Grund ärztlichen Zeug¬
nisses bei Gefahr für die Schwangere oder das Kind, schon vorher, auch in
Frankreich zu sichern, das bisher neben Rußland und der Türkei allein unter
den außereuropäischen Staaten mit der Einführung gezögert hatte. Der Ent¬
wurf richtet sich namentlich gegen die Kindersterblichkeit während des ersten
Monats, die immer noch mehr als ein Drittel der Sterblichkeit während des
ersten Lebensjahres ausmacht, nämlich 30000 von 88000 im Jahre 1910.
d. h. 35,17 Prozent, also — außer vorübergehendem Sinken auf 33,77 Prozent
gegen Ende des Jahrhunderts — kaum gemindert ist seit Beginn der achtziger
Jahre, wo sie 37,72 Prozent betrug. Er bekämpft damit zugleich die Kinder¬
sterblichkeit während des ersten Lebensjahres, die von 169°/^ in den Jahren
1889 bis 1894 schon auf 130°/^ in den Jahren 1906 bis 1910 gesunken
ist. Den genannten Wöchnerinnen wird gleichzeitig, salls sie französischer
Nationalität und bedürftig sind, und vorausgesetzt, daß sie wirklich häuslicher Ruhe
pflegen sowie die nötigen Gesundheitsvorschriften befolgen, während der Ruhe¬
zeit, jedoch für höchstens acht Wochen, eine tägliche unübertragbare und unpfänd¬
bare Entschädigung, sei es in Geld, sei es in Natur, als Entgelt für den ent-
gangenen Arbeitsverdienst in Aussicht gestellt, dessen Höhe im Finanzgesetz des
nächsten Jahres festzusetzen ist. Der französische Staat in Verbindung mit
Departements und Gemeinden hat damit eine erhebliche Ausgabe auf sich
genommen, die man auf jährlich 3^ bis 6^ (selbst auf 20 bis 25) Millionen
Franken veranschlagt hat. d. h. je 50 Franken für 127000 bis 150000 (oder
500000) Mütter, unter Ersparung der schon bisher den Wöchnerinnen gewährten
Unterstützung durch Anrechnung der von den Eisenbahngesellschaften ihren
weiblichen Angestellten und den Frauen ihrer Beamten geleisteten Beihilfe von
50 Franken und der in den Staatsunternehmen den Lehrerinnen und An¬
gestellten im Post- und Telegraphendienste gewährten vollständigen Behandlung
während zweier Monate. Wie nach den Verhandlungen anzunehmen ist, wird
er vielleicht ein ähnliches Opfer, etwa 1^-z bis 2^ Millionen Franken, d. h.
je 25 Franken für 100000 Mütter jährlich unter Anrechnung bisher schon zu¬
gebilligter Beihilfen, nach Erklärung des Finanzministers über 13 Millionen
Franken, zur Unterstützung der Heimarbeiterinnen bringen, wenngleich hier eine
Veranlassung für die Mutter, das Kind einer Ziehmutter zu überlassen und
damit erheblichen Gefahren auszusetzen, nicht vorliegt.

Einen zweiten Gesetzentwurf hat der französische Senat Ende Januar und
Anfang Februar d. I. zu der in Frankreich infolge des Neumalthusianismus
außerordentlich weit verbreiteten Abtreibung beraten. Ohne diese würde die
Zahl der reichlich 700 000 jährlichen Geburten nach Schätzung des JustizministeN
Barthou um 70 000, nach anderen um 170 bis 180 000, ja sogar um 500 000
vermehrt werden, Ziffern, deren Genauigkeit sich schwerlich nachprüfen läßt. In
den Entbindungsanstalten und Kliniken werden mehr Abtreibungen als Geburten
behandelt; in den Hospitälern von Paris liegen 50 bis 70 Prozent der geschlechts-


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[0639] Zur Entvölkernngsfrage vierwöchige Arbeitsruhe nach der Entbindung und, auf Grund ärztlichen Zeug¬ nisses bei Gefahr für die Schwangere oder das Kind, schon vorher, auch in Frankreich zu sichern, das bisher neben Rußland und der Türkei allein unter den außereuropäischen Staaten mit der Einführung gezögert hatte. Der Ent¬ wurf richtet sich namentlich gegen die Kindersterblichkeit während des ersten Monats, die immer noch mehr als ein Drittel der Sterblichkeit während des ersten Lebensjahres ausmacht, nämlich 30000 von 88000 im Jahre 1910. d. h. 35,17 Prozent, also — außer vorübergehendem Sinken auf 33,77 Prozent gegen Ende des Jahrhunderts — kaum gemindert ist seit Beginn der achtziger Jahre, wo sie 37,72 Prozent betrug. Er bekämpft damit zugleich die Kinder¬ sterblichkeit während des ersten Lebensjahres, die von 169°/^ in den Jahren 1889 bis 1894 schon auf 130°/^ in den Jahren 1906 bis 1910 gesunken ist. Den genannten Wöchnerinnen wird gleichzeitig, salls sie französischer Nationalität und bedürftig sind, und vorausgesetzt, daß sie wirklich häuslicher Ruhe pflegen sowie die nötigen Gesundheitsvorschriften befolgen, während der Ruhe¬ zeit, jedoch für höchstens acht Wochen, eine tägliche unübertragbare und unpfänd¬ bare Entschädigung, sei es in Geld, sei es in Natur, als Entgelt für den ent- gangenen Arbeitsverdienst in Aussicht gestellt, dessen Höhe im Finanzgesetz des nächsten Jahres festzusetzen ist. Der französische Staat in Verbindung mit Departements und Gemeinden hat damit eine erhebliche Ausgabe auf sich genommen, die man auf jährlich 3^ bis 6^ (selbst auf 20 bis 25) Millionen Franken veranschlagt hat. d. h. je 50 Franken für 127000 bis 150000 (oder 500000) Mütter, unter Ersparung der schon bisher den Wöchnerinnen gewährten Unterstützung durch Anrechnung der von den Eisenbahngesellschaften ihren weiblichen Angestellten und den Frauen ihrer Beamten geleisteten Beihilfe von 50 Franken und der in den Staatsunternehmen den Lehrerinnen und An¬ gestellten im Post- und Telegraphendienste gewährten vollständigen Behandlung während zweier Monate. Wie nach den Verhandlungen anzunehmen ist, wird er vielleicht ein ähnliches Opfer, etwa 1^-z bis 2^ Millionen Franken, d. h. je 25 Franken für 100000 Mütter jährlich unter Anrechnung bisher schon zu¬ gebilligter Beihilfen, nach Erklärung des Finanzministers über 13 Millionen Franken, zur Unterstützung der Heimarbeiterinnen bringen, wenngleich hier eine Veranlassung für die Mutter, das Kind einer Ziehmutter zu überlassen und damit erheblichen Gefahren auszusetzen, nicht vorliegt. Einen zweiten Gesetzentwurf hat der französische Senat Ende Januar und Anfang Februar d. I. zu der in Frankreich infolge des Neumalthusianismus außerordentlich weit verbreiteten Abtreibung beraten. Ohne diese würde die Zahl der reichlich 700 000 jährlichen Geburten nach Schätzung des JustizministeN Barthou um 70 000, nach anderen um 170 bis 180 000, ja sogar um 500 000 vermehrt werden, Ziffern, deren Genauigkeit sich schwerlich nachprüfen läßt. In den Entbindungsanstalten und Kliniken werden mehr Abtreibungen als Geburten behandelt; in den Hospitälern von Paris liegen 50 bis 70 Prozent der geschlechts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/639>, abgerufen am 22.12.2024.