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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Zur Lntvölkerungsfrcrge

kranken Frauen infolge von Abtreibung darnieder, siebenmal soviel wie vor
zehn Jahren. -- Nachdem schon ein Gesetz von 1904 für geheime Entbindung
wieder Zufluchtshäuser eingerichtet hatte, um die Kinder der Mütter zu retten,
die Furcht vor Entehrung zur Abtreibung veranlaßt, will der jetzige Entwurf
zunächst die im Artikel 317 des Loäe pörial angedrohte Strafe -- mildern (ab¬
gesehen von einer Ausnahme), nämlich Zuchthaus und zeitige Zwangsarbeit durch
Gefängnis und Geldstrafe und damit die Zuständigkeit des Schwurgerichts durch
die des Korrektionstribunals (entsprechend unserer Strafkammer) ersetzen. Diese
auf den ersten Blick widersinnig erscheinende Neuerung wird durch die Erwägung
gerechtfertigt, daß die Geschworenen selbst unter dem geringen Prozentsatz der
mit sicherer Aussicht auf Verurteilung zur Anklage gebrachten Abtreibungsfälle
1903 bis 1907 über zwei Drittel und 1908 gar vier Fünftel (53 von 66) der
Angeklagten freigesprochen haben, sei es, weil die Hauptschuldigen entkommen
waren, sei es aus Furcht vor einer als unverhältnismäßig hoch empfundenen
Strafe. Daneben sollen aber die Strafbestimmungen auf den Versuch der An¬
schaffung von Abtreibungsmitteln ausgedehnt, die Hebammen den Ärzten gleich¬
gestellt und sämtliche Heilpersonen mit dem Verbot der Ausübung ihres Berufs
bedroht werden; außerdem sollen Aufenthaltsbeschränkungen und besondere Strafen
für Körperverletzung oder sonstige schlechte Behandlung einer Schwangeren ein¬
geführt werden. Des weiteren wird Konzessionierung und Überwachung der
Entbindungsanstalten, deren man allein in Paris 517 zählt, durch die Verwaltungs¬
behörden, auf eigene Anregung der Hebammen Unterdrückung der von diesen
bisher so aufdringlich betriebenen Anpreisung von Abtreibungsmitteln wie jeg¬
licher, namentlich öffentlicher, Aufforderung zur Abtreibung, die nach wiederholter
Rechtsprechung des Kassationshofes heute straflos ist (vgl. dagegen unseren Z 183
Ziffer 3 Strafgesetzbuchs), sowie bessere Ausbildung der Hebammen durch Unter¬
drückung ihres Diploms 2. Klasse gefordert.

Außer diesen Gesetzen spricht man von Entwürfen betreffend Bekämpfung
des Alkoholismus, der Tuberkulose und der Kindersterblichkeit, betreffend einen
Staatszuschuß zur Mitgift und selbst, um dem Ordensbedürfnis der Franzosen
entgegenzukommen, von einer den Müttern zu gewährenden Dekoration. Nach
el nem Bericht des Finanzministers wird ferner Erleichterung der Naturalisation,
Vereinfachung der Eheförmlichkeiten und Bevorzugung der Familienväter im
Verwaltungsrecht geplant. Auch hat man die Wiedereinführung des Religions¬
unterrichts in den Schulen angedeutet, um die Kinder nicht nur zur Sparsam¬
keit, sondern auch zu sozialen Opfern zu erziehen.

Werden alle diese Gesetze die Sitten ändern? Ist in Frankreich der Weg
zur Schaffung eines Gesetzes schon recht lang, so ist der zu seiner Anwendung
noch erheblich länger, wie die Durchführung der Sozialgesetzgebung zur Genüge
bewiesen hat.




Zur Lntvölkerungsfrcrge

kranken Frauen infolge von Abtreibung darnieder, siebenmal soviel wie vor
zehn Jahren. — Nachdem schon ein Gesetz von 1904 für geheime Entbindung
wieder Zufluchtshäuser eingerichtet hatte, um die Kinder der Mütter zu retten,
die Furcht vor Entehrung zur Abtreibung veranlaßt, will der jetzige Entwurf
zunächst die im Artikel 317 des Loäe pörial angedrohte Strafe — mildern (ab¬
gesehen von einer Ausnahme), nämlich Zuchthaus und zeitige Zwangsarbeit durch
Gefängnis und Geldstrafe und damit die Zuständigkeit des Schwurgerichts durch
die des Korrektionstribunals (entsprechend unserer Strafkammer) ersetzen. Diese
auf den ersten Blick widersinnig erscheinende Neuerung wird durch die Erwägung
gerechtfertigt, daß die Geschworenen selbst unter dem geringen Prozentsatz der
mit sicherer Aussicht auf Verurteilung zur Anklage gebrachten Abtreibungsfälle
1903 bis 1907 über zwei Drittel und 1908 gar vier Fünftel (53 von 66) der
Angeklagten freigesprochen haben, sei es, weil die Hauptschuldigen entkommen
waren, sei es aus Furcht vor einer als unverhältnismäßig hoch empfundenen
Strafe. Daneben sollen aber die Strafbestimmungen auf den Versuch der An¬
schaffung von Abtreibungsmitteln ausgedehnt, die Hebammen den Ärzten gleich¬
gestellt und sämtliche Heilpersonen mit dem Verbot der Ausübung ihres Berufs
bedroht werden; außerdem sollen Aufenthaltsbeschränkungen und besondere Strafen
für Körperverletzung oder sonstige schlechte Behandlung einer Schwangeren ein¬
geführt werden. Des weiteren wird Konzessionierung und Überwachung der
Entbindungsanstalten, deren man allein in Paris 517 zählt, durch die Verwaltungs¬
behörden, auf eigene Anregung der Hebammen Unterdrückung der von diesen
bisher so aufdringlich betriebenen Anpreisung von Abtreibungsmitteln wie jeg¬
licher, namentlich öffentlicher, Aufforderung zur Abtreibung, die nach wiederholter
Rechtsprechung des Kassationshofes heute straflos ist (vgl. dagegen unseren Z 183
Ziffer 3 Strafgesetzbuchs), sowie bessere Ausbildung der Hebammen durch Unter¬
drückung ihres Diploms 2. Klasse gefordert.

Außer diesen Gesetzen spricht man von Entwürfen betreffend Bekämpfung
des Alkoholismus, der Tuberkulose und der Kindersterblichkeit, betreffend einen
Staatszuschuß zur Mitgift und selbst, um dem Ordensbedürfnis der Franzosen
entgegenzukommen, von einer den Müttern zu gewährenden Dekoration. Nach
el nem Bericht des Finanzministers wird ferner Erleichterung der Naturalisation,
Vereinfachung der Eheförmlichkeiten und Bevorzugung der Familienväter im
Verwaltungsrecht geplant. Auch hat man die Wiedereinführung des Religions¬
unterrichts in den Schulen angedeutet, um die Kinder nicht nur zur Sparsam¬
keit, sondern auch zu sozialen Opfern zu erziehen.

Werden alle diese Gesetze die Sitten ändern? Ist in Frankreich der Weg
zur Schaffung eines Gesetzes schon recht lang, so ist der zu seiner Anwendung
noch erheblich länger, wie die Durchführung der Sozialgesetzgebung zur Genüge
bewiesen hat.




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[0640] Zur Lntvölkerungsfrcrge kranken Frauen infolge von Abtreibung darnieder, siebenmal soviel wie vor zehn Jahren. — Nachdem schon ein Gesetz von 1904 für geheime Entbindung wieder Zufluchtshäuser eingerichtet hatte, um die Kinder der Mütter zu retten, die Furcht vor Entehrung zur Abtreibung veranlaßt, will der jetzige Entwurf zunächst die im Artikel 317 des Loäe pörial angedrohte Strafe — mildern (ab¬ gesehen von einer Ausnahme), nämlich Zuchthaus und zeitige Zwangsarbeit durch Gefängnis und Geldstrafe und damit die Zuständigkeit des Schwurgerichts durch die des Korrektionstribunals (entsprechend unserer Strafkammer) ersetzen. Diese auf den ersten Blick widersinnig erscheinende Neuerung wird durch die Erwägung gerechtfertigt, daß die Geschworenen selbst unter dem geringen Prozentsatz der mit sicherer Aussicht auf Verurteilung zur Anklage gebrachten Abtreibungsfälle 1903 bis 1907 über zwei Drittel und 1908 gar vier Fünftel (53 von 66) der Angeklagten freigesprochen haben, sei es, weil die Hauptschuldigen entkommen waren, sei es aus Furcht vor einer als unverhältnismäßig hoch empfundenen Strafe. Daneben sollen aber die Strafbestimmungen auf den Versuch der An¬ schaffung von Abtreibungsmitteln ausgedehnt, die Hebammen den Ärzten gleich¬ gestellt und sämtliche Heilpersonen mit dem Verbot der Ausübung ihres Berufs bedroht werden; außerdem sollen Aufenthaltsbeschränkungen und besondere Strafen für Körperverletzung oder sonstige schlechte Behandlung einer Schwangeren ein¬ geführt werden. Des weiteren wird Konzessionierung und Überwachung der Entbindungsanstalten, deren man allein in Paris 517 zählt, durch die Verwaltungs¬ behörden, auf eigene Anregung der Hebammen Unterdrückung der von diesen bisher so aufdringlich betriebenen Anpreisung von Abtreibungsmitteln wie jeg¬ licher, namentlich öffentlicher, Aufforderung zur Abtreibung, die nach wiederholter Rechtsprechung des Kassationshofes heute straflos ist (vgl. dagegen unseren Z 183 Ziffer 3 Strafgesetzbuchs), sowie bessere Ausbildung der Hebammen durch Unter¬ drückung ihres Diploms 2. Klasse gefordert. Außer diesen Gesetzen spricht man von Entwürfen betreffend Bekämpfung des Alkoholismus, der Tuberkulose und der Kindersterblichkeit, betreffend einen Staatszuschuß zur Mitgift und selbst, um dem Ordensbedürfnis der Franzosen entgegenzukommen, von einer den Müttern zu gewährenden Dekoration. Nach el nem Bericht des Finanzministers wird ferner Erleichterung der Naturalisation, Vereinfachung der Eheförmlichkeiten und Bevorzugung der Familienväter im Verwaltungsrecht geplant. Auch hat man die Wiedereinführung des Religions¬ unterrichts in den Schulen angedeutet, um die Kinder nicht nur zur Sparsam¬ keit, sondern auch zu sozialen Opfern zu erziehen. Werden alle diese Gesetze die Sitten ändern? Ist in Frankreich der Weg zur Schaffung eines Gesetzes schon recht lang, so ist der zu seiner Anwendung noch erheblich länger, wie die Durchführung der Sozialgesetzgebung zur Genüge bewiesen hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/640>, abgerufen am 22.12.2024.