Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Kämpfe unserer Lehrerschaft

mentarschule (natürlich nun nicht etwa eine etwas niedere Art Gelehrtenschule,
wie manche Beförderungssüchtige möchten), sie ist Erziehungsschule. Man kann
den Übergang eines großen Teils der Erziehung vom Haus an die Schule,
diese pädagogische Sozialisierung, bedauern -- aber sie ist da, sie ist unentbehr¬
lich. Und die höhere Schule? Ist sie noch Gelehrtenschule? -- Wer mit nicht
völlig umnebelten Blicken in dos praktische Leben steht, lacht über diese Frage.
Von der "Wissenschaft" ist im Lauf der Zeit doch gar zu viel gestrichen worden
und wird trotz philologischer Entrüstung immer mehr gestrichen werden. Unsere
höhere Schule wird auch von Tag zu Tag mehr Erziehungsschule -- und muß
es werden. Das moderne Leben hat auch -- oder gar erst recht? -- die Haus¬
gemeinschaft der leitenden Stände zu sehr gelockert und dabei die Ansprüche an
eine zielbewußte Jugenderziehung zu sehr gesteigert, als daß diese allein in den
Händen der Familie hätte bleiben können. Der Kreis der Besucher höherer
Schulen hat sich daher ungeheuer erweitert. Die praktische, tatsächliche Verwertung
der höheren Bildung ist bereits völlig umgestaltet. Nur die Philologenschaft
kämpft noch einen aussichtslosen Kampf um die Erhaltung des Typus Gelehrten¬
schule. Man kann die Charakterzähigkeit und den Idealismus, der sich in diesem
Kampf ausspricht, ruhig anerkennen und doch dem wirklichen Leben das Recht
zusprechen, sich seine Bildungsstätten nach seinen Bedürfnissen umzuformen. Die
Erfinder der Schußwaffen haben auch auf die Ehrenwertigkeit des Ritterstandes
keine Rücksicht nehmen können.

Erziehungsschule! Hier liegt die starke Gemeinsamkeit beider Schularten.
Der klare Unterschied liegt in der Standesverschiedenheit. Der künftige Leiter
und Führer des Volkes (darum handelt es sich bei der höheren Schulbildung)
bedarf einer, namentlich im fortgeschrittenen Alter, anders gearteten Erziehung
und darum anders gearteter Erzieher als der Angehörige niederer Stände. Ich
habe hier nicht den Raum, um diese Ketzereien gegen den heiligen Liberalismus
zu verteidigen*) -- ich würde ja auch doch keinen überzeugen. Hier liegt jeden¬
falls für mich der Grund, weshalb die höheren Schulen nicht den Seminarikern
"ausgeliefert" werden dürfen, woran natürlich mit dem fehr gemäßigten und
so übel aufgenommenen Mittelschullehrererlaß auch gar nicht gedacht ist.

Aber -- die große Gemeinsamkeit der beiden Lehrerstände bleibt bestehen:
sie sind beide (oder sollten es sein) Erzieher. Und da -- furchtbar zu hören! --
könnten die Philologen in der Volksschule und von den Seminarikern noch sehr
viel lernen. Deshalb begrüße ich meinerseits den Vorschlag eines praktischen
Jahres an einer Volksschule vor dem Studium als äußerst glücklich. Eben daß
so viele nicht "Oberlehrer" studieren, sondern Philologie, ist das Unglück unserer
höheren Schulen. Die Wissenschaft ist nicht mehr unser höchstes Ideal, sondern
Ureisschulinsxektor Dr, prit. Sigismund Raub d as Leben.



") Vgl. meinen Aufsatz "Standeserziehung" in Heft 12, Jahrgang 1912 der "Blätter
für deutsche Erziehung".
Kämpfe unserer Lehrerschaft

mentarschule (natürlich nun nicht etwa eine etwas niedere Art Gelehrtenschule,
wie manche Beförderungssüchtige möchten), sie ist Erziehungsschule. Man kann
den Übergang eines großen Teils der Erziehung vom Haus an die Schule,
diese pädagogische Sozialisierung, bedauern — aber sie ist da, sie ist unentbehr¬
lich. Und die höhere Schule? Ist sie noch Gelehrtenschule? — Wer mit nicht
völlig umnebelten Blicken in dos praktische Leben steht, lacht über diese Frage.
Von der „Wissenschaft" ist im Lauf der Zeit doch gar zu viel gestrichen worden
und wird trotz philologischer Entrüstung immer mehr gestrichen werden. Unsere
höhere Schule wird auch von Tag zu Tag mehr Erziehungsschule — und muß
es werden. Das moderne Leben hat auch — oder gar erst recht? — die Haus¬
gemeinschaft der leitenden Stände zu sehr gelockert und dabei die Ansprüche an
eine zielbewußte Jugenderziehung zu sehr gesteigert, als daß diese allein in den
Händen der Familie hätte bleiben können. Der Kreis der Besucher höherer
Schulen hat sich daher ungeheuer erweitert. Die praktische, tatsächliche Verwertung
der höheren Bildung ist bereits völlig umgestaltet. Nur die Philologenschaft
kämpft noch einen aussichtslosen Kampf um die Erhaltung des Typus Gelehrten¬
schule. Man kann die Charakterzähigkeit und den Idealismus, der sich in diesem
Kampf ausspricht, ruhig anerkennen und doch dem wirklichen Leben das Recht
zusprechen, sich seine Bildungsstätten nach seinen Bedürfnissen umzuformen. Die
Erfinder der Schußwaffen haben auch auf die Ehrenwertigkeit des Ritterstandes
keine Rücksicht nehmen können.

Erziehungsschule! Hier liegt die starke Gemeinsamkeit beider Schularten.
Der klare Unterschied liegt in der Standesverschiedenheit. Der künftige Leiter
und Führer des Volkes (darum handelt es sich bei der höheren Schulbildung)
bedarf einer, namentlich im fortgeschrittenen Alter, anders gearteten Erziehung
und darum anders gearteter Erzieher als der Angehörige niederer Stände. Ich
habe hier nicht den Raum, um diese Ketzereien gegen den heiligen Liberalismus
zu verteidigen*) — ich würde ja auch doch keinen überzeugen. Hier liegt jeden¬
falls für mich der Grund, weshalb die höheren Schulen nicht den Seminarikern
„ausgeliefert" werden dürfen, woran natürlich mit dem fehr gemäßigten und
so übel aufgenommenen Mittelschullehrererlaß auch gar nicht gedacht ist.

Aber — die große Gemeinsamkeit der beiden Lehrerstände bleibt bestehen:
sie sind beide (oder sollten es sein) Erzieher. Und da — furchtbar zu hören! —
könnten die Philologen in der Volksschule und von den Seminarikern noch sehr
viel lernen. Deshalb begrüße ich meinerseits den Vorschlag eines praktischen
Jahres an einer Volksschule vor dem Studium als äußerst glücklich. Eben daß
so viele nicht „Oberlehrer" studieren, sondern Philologie, ist das Unglück unserer
höheren Schulen. Die Wissenschaft ist nicht mehr unser höchstes Ideal, sondern
Ureisschulinsxektor Dr, prit. Sigismund Raub d as Leben.



") Vgl. meinen Aufsatz „Standeserziehung" in Heft 12, Jahrgang 1912 der „Blätter
für deutsche Erziehung".
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0628" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325498"/>
            <fw type="header" place="top"> Kämpfe unserer Lehrerschaft</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2928" prev="#ID_2927"> mentarschule (natürlich nun nicht etwa eine etwas niedere Art Gelehrtenschule,<lb/>
wie manche Beförderungssüchtige möchten), sie ist Erziehungsschule. Man kann<lb/>
den Übergang eines großen Teils der Erziehung vom Haus an die Schule,<lb/>
diese pädagogische Sozialisierung, bedauern &#x2014; aber sie ist da, sie ist unentbehr¬<lb/>
lich. Und die höhere Schule? Ist sie noch Gelehrtenschule? &#x2014; Wer mit nicht<lb/>
völlig umnebelten Blicken in dos praktische Leben steht, lacht über diese Frage.<lb/>
Von der &#x201E;Wissenschaft" ist im Lauf der Zeit doch gar zu viel gestrichen worden<lb/>
und wird trotz philologischer Entrüstung immer mehr gestrichen werden. Unsere<lb/>
höhere Schule wird auch von Tag zu Tag mehr Erziehungsschule &#x2014; und muß<lb/>
es werden. Das moderne Leben hat auch &#x2014; oder gar erst recht? &#x2014; die Haus¬<lb/>
gemeinschaft der leitenden Stände zu sehr gelockert und dabei die Ansprüche an<lb/>
eine zielbewußte Jugenderziehung zu sehr gesteigert, als daß diese allein in den<lb/>
Händen der Familie hätte bleiben können. Der Kreis der Besucher höherer<lb/>
Schulen hat sich daher ungeheuer erweitert. Die praktische, tatsächliche Verwertung<lb/>
der höheren Bildung ist bereits völlig umgestaltet. Nur die Philologenschaft<lb/>
kämpft noch einen aussichtslosen Kampf um die Erhaltung des Typus Gelehrten¬<lb/>
schule. Man kann die Charakterzähigkeit und den Idealismus, der sich in diesem<lb/>
Kampf ausspricht, ruhig anerkennen und doch dem wirklichen Leben das Recht<lb/>
zusprechen, sich seine Bildungsstätten nach seinen Bedürfnissen umzuformen. Die<lb/>
Erfinder der Schußwaffen haben auch auf die Ehrenwertigkeit des Ritterstandes<lb/>
keine Rücksicht nehmen können.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2929"> Erziehungsschule! Hier liegt die starke Gemeinsamkeit beider Schularten.<lb/>
Der klare Unterschied liegt in der Standesverschiedenheit. Der künftige Leiter<lb/>
und Führer des Volkes (darum handelt es sich bei der höheren Schulbildung)<lb/>
bedarf einer, namentlich im fortgeschrittenen Alter, anders gearteten Erziehung<lb/>
und darum anders gearteter Erzieher als der Angehörige niederer Stände. Ich<lb/>
habe hier nicht den Raum, um diese Ketzereien gegen den heiligen Liberalismus<lb/>
zu verteidigen*) &#x2014; ich würde ja auch doch keinen überzeugen. Hier liegt jeden¬<lb/>
falls für mich der Grund, weshalb die höheren Schulen nicht den Seminarikern<lb/>
&#x201E;ausgeliefert" werden dürfen, woran natürlich mit dem fehr gemäßigten und<lb/>
so übel aufgenommenen Mittelschullehrererlaß auch gar nicht gedacht ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2930"> Aber &#x2014; die große Gemeinsamkeit der beiden Lehrerstände bleibt bestehen:<lb/>
sie sind beide (oder sollten es sein) Erzieher. Und da &#x2014; furchtbar zu hören! &#x2014;<lb/>
könnten die Philologen in der Volksschule und von den Seminarikern noch sehr<lb/>
viel lernen. Deshalb begrüße ich meinerseits den Vorschlag eines praktischen<lb/>
Jahres an einer Volksschule vor dem Studium als äußerst glücklich. Eben daß<lb/>
so viele nicht &#x201E;Oberlehrer" studieren, sondern Philologie, ist das Unglück unserer<lb/>
höheren Schulen. Die Wissenschaft ist nicht mehr unser höchstes Ideal, sondern<lb/><note type="byline"> Ureisschulinsxektor Dr, prit. Sigismund Raub </note> d as Leben.   </p><lb/>
            <note xml:id="FID_141" place="foot"> ") Vgl. meinen Aufsatz &#x201E;Standeserziehung" in Heft 12, Jahrgang 1912 der &#x201E;Blätter<lb/>
für deutsche Erziehung".</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0628] Kämpfe unserer Lehrerschaft mentarschule (natürlich nun nicht etwa eine etwas niedere Art Gelehrtenschule, wie manche Beförderungssüchtige möchten), sie ist Erziehungsschule. Man kann den Übergang eines großen Teils der Erziehung vom Haus an die Schule, diese pädagogische Sozialisierung, bedauern — aber sie ist da, sie ist unentbehr¬ lich. Und die höhere Schule? Ist sie noch Gelehrtenschule? — Wer mit nicht völlig umnebelten Blicken in dos praktische Leben steht, lacht über diese Frage. Von der „Wissenschaft" ist im Lauf der Zeit doch gar zu viel gestrichen worden und wird trotz philologischer Entrüstung immer mehr gestrichen werden. Unsere höhere Schule wird auch von Tag zu Tag mehr Erziehungsschule — und muß es werden. Das moderne Leben hat auch — oder gar erst recht? — die Haus¬ gemeinschaft der leitenden Stände zu sehr gelockert und dabei die Ansprüche an eine zielbewußte Jugenderziehung zu sehr gesteigert, als daß diese allein in den Händen der Familie hätte bleiben können. Der Kreis der Besucher höherer Schulen hat sich daher ungeheuer erweitert. Die praktische, tatsächliche Verwertung der höheren Bildung ist bereits völlig umgestaltet. Nur die Philologenschaft kämpft noch einen aussichtslosen Kampf um die Erhaltung des Typus Gelehrten¬ schule. Man kann die Charakterzähigkeit und den Idealismus, der sich in diesem Kampf ausspricht, ruhig anerkennen und doch dem wirklichen Leben das Recht zusprechen, sich seine Bildungsstätten nach seinen Bedürfnissen umzuformen. Die Erfinder der Schußwaffen haben auch auf die Ehrenwertigkeit des Ritterstandes keine Rücksicht nehmen können. Erziehungsschule! Hier liegt die starke Gemeinsamkeit beider Schularten. Der klare Unterschied liegt in der Standesverschiedenheit. Der künftige Leiter und Führer des Volkes (darum handelt es sich bei der höheren Schulbildung) bedarf einer, namentlich im fortgeschrittenen Alter, anders gearteten Erziehung und darum anders gearteter Erzieher als der Angehörige niederer Stände. Ich habe hier nicht den Raum, um diese Ketzereien gegen den heiligen Liberalismus zu verteidigen*) — ich würde ja auch doch keinen überzeugen. Hier liegt jeden¬ falls für mich der Grund, weshalb die höheren Schulen nicht den Seminarikern „ausgeliefert" werden dürfen, woran natürlich mit dem fehr gemäßigten und so übel aufgenommenen Mittelschullehrererlaß auch gar nicht gedacht ist. Aber — die große Gemeinsamkeit der beiden Lehrerstände bleibt bestehen: sie sind beide (oder sollten es sein) Erzieher. Und da — furchtbar zu hören! — könnten die Philologen in der Volksschule und von den Seminarikern noch sehr viel lernen. Deshalb begrüße ich meinerseits den Vorschlag eines praktischen Jahres an einer Volksschule vor dem Studium als äußerst glücklich. Eben daß so viele nicht „Oberlehrer" studieren, sondern Philologie, ist das Unglück unserer höheren Schulen. Die Wissenschaft ist nicht mehr unser höchstes Ideal, sondern Ureisschulinsxektor Dr, prit. Sigismund Raub d as Leben. ") Vgl. meinen Aufsatz „Standeserziehung" in Heft 12, Jahrgang 1912 der „Blätter für deutsche Erziehung".

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/628
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/628>, abgerufen am 28.06.2024.