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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Überwindung des europäischen Nihilismus

stetigen Vervollkommnung der Welt beiträgt. Aber eben dieses Verhältnis von
Zweck und Wert ist ein Irrtum. Es ist nicht wahr, daß die Werte an Zwecke
gebunden seien, wie sehr auch die Empfindung dafür spreche; Wert und Zweck
sind überhaupt nicht zwei verschiedene Dinge, sondern zwei Seiten desselben
Dinges. Was uns subjektiv als Wert ins Bewußtsein tritt, das projicieren wir
in die Außenwelt als Zweck. Man kann es auch so ausdrücken: die Spontaneität
der Seele äußert sich als Trieb, Werte zu erzeugen, und diese scheinbar
objektiven Werte bietet sie dem Willen als Zweck dar. In unserer Empfindung
ist der Zweck das Primäre, wonach sich der Wert richtet; in Wirklichkeit ist der seelische
Vorgang des Wertens das Primäre, und aus den Werten erst bilden sich die Zwecke.

Das Werten, Wertsetzen, Werteschaffen ist eine Grundfunktion des mensch¬
lichen Geistes, die er ausübt mit derselben Notwendigkeit, mit der er das
Kausalgesetz anwendet. Auf die Eindrücke der Außenwelt, welche seiner Seele
dargeboten werden, reagiert er mit Gruppierung nach Wertstufen. Wo der
Mensch hinkommt oder auch nur hinblickt, da sind Werte.

Die Wertsetzungen stehen in unmittelbarer Beziehung zum Willen des
Menschen; Werte find die seinem Willen gemäßen Dinge, ihr Wert steigt, je
mehr sie dem Willen entsprechen oder ihn befördern, der höchste und letzte Wert,
das summum bonum, ist das Korrelat seines Grundwillens, nämlich dessen,
was er abgesehen von den jeweiligen Bedingungen überhaupt will. Unser
Grundwille ist dasselbe, was Kant in die Formel des kategorischen Imperativs
gefaßt hat, ist dasselbe, was als sittliche Forderung und als Gewissen in unser
Bewußtsein tritt.

Der Inhalt dieses Grundwillens, also auch des letzten und höchsten Wertes,
also auch aller anderen Werte wird beeinflußt durch die Erkenntnis. Diese
wirkt zwar nicht als Urheber der Wertsetzung, aber als ihr Korrektiv. Ein im
wesentlichen auf Lebensgenuß gerichteter Wille z. B. kann ebensogut Sinnen¬
freude wie Enthaltsamkeit aufsuchen, je nachdem er erkannt hat, daß das eine
oder das andere ihm im ganzen mehr Behagen schafft. Und auf höherem
Gebiete: ob man der Gottheit besser diene durch Darbringung von Menschen¬
opfern oder durch Selbstaufopferung im Dienste der Nächstenliebe ist Sache der
Erkenntnis, des Wissens oder Meinens; der zugrunde liegende Grundwille,
nämlich das Gute zu tun auch gegen Neigung und Behagen, kann in beiden
Fällen derselbe sein.

Aus dem Grundwillen des Menschen in Verbindung mit seinem allgemeinen
Wissen und Meinen, mit seiner geistigen und kulturellen Verfassung ergibt sich
als notwendige Funktion, beinahe mathematisch zu berechnen, die Grundwertung,
der "absolute" oder "objektive" Wert, wie wir ruhig sagen könne,:, das wonach
alle übrigen Werte sich orientieren, und was allem Tun und Treiben Wert,
d. h. Sinn gibt.

Es ist aber ohne weiteres klar, daß die Stärke, Wucht, Wirkungskraft dieser
Grundwertung von der Stärke des Wollens, d. h. von der Größe und Kraft


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Die Überwindung des europäischen Nihilismus

stetigen Vervollkommnung der Welt beiträgt. Aber eben dieses Verhältnis von
Zweck und Wert ist ein Irrtum. Es ist nicht wahr, daß die Werte an Zwecke
gebunden seien, wie sehr auch die Empfindung dafür spreche; Wert und Zweck
sind überhaupt nicht zwei verschiedene Dinge, sondern zwei Seiten desselben
Dinges. Was uns subjektiv als Wert ins Bewußtsein tritt, das projicieren wir
in die Außenwelt als Zweck. Man kann es auch so ausdrücken: die Spontaneität
der Seele äußert sich als Trieb, Werte zu erzeugen, und diese scheinbar
objektiven Werte bietet sie dem Willen als Zweck dar. In unserer Empfindung
ist der Zweck das Primäre, wonach sich der Wert richtet; in Wirklichkeit ist der seelische
Vorgang des Wertens das Primäre, und aus den Werten erst bilden sich die Zwecke.

Das Werten, Wertsetzen, Werteschaffen ist eine Grundfunktion des mensch¬
lichen Geistes, die er ausübt mit derselben Notwendigkeit, mit der er das
Kausalgesetz anwendet. Auf die Eindrücke der Außenwelt, welche seiner Seele
dargeboten werden, reagiert er mit Gruppierung nach Wertstufen. Wo der
Mensch hinkommt oder auch nur hinblickt, da sind Werte.

Die Wertsetzungen stehen in unmittelbarer Beziehung zum Willen des
Menschen; Werte find die seinem Willen gemäßen Dinge, ihr Wert steigt, je
mehr sie dem Willen entsprechen oder ihn befördern, der höchste und letzte Wert,
das summum bonum, ist das Korrelat seines Grundwillens, nämlich dessen,
was er abgesehen von den jeweiligen Bedingungen überhaupt will. Unser
Grundwille ist dasselbe, was Kant in die Formel des kategorischen Imperativs
gefaßt hat, ist dasselbe, was als sittliche Forderung und als Gewissen in unser
Bewußtsein tritt.

Der Inhalt dieses Grundwillens, also auch des letzten und höchsten Wertes,
also auch aller anderen Werte wird beeinflußt durch die Erkenntnis. Diese
wirkt zwar nicht als Urheber der Wertsetzung, aber als ihr Korrektiv. Ein im
wesentlichen auf Lebensgenuß gerichteter Wille z. B. kann ebensogut Sinnen¬
freude wie Enthaltsamkeit aufsuchen, je nachdem er erkannt hat, daß das eine
oder das andere ihm im ganzen mehr Behagen schafft. Und auf höherem
Gebiete: ob man der Gottheit besser diene durch Darbringung von Menschen¬
opfern oder durch Selbstaufopferung im Dienste der Nächstenliebe ist Sache der
Erkenntnis, des Wissens oder Meinens; der zugrunde liegende Grundwille,
nämlich das Gute zu tun auch gegen Neigung und Behagen, kann in beiden
Fällen derselbe sein.

Aus dem Grundwillen des Menschen in Verbindung mit seinem allgemeinen
Wissen und Meinen, mit seiner geistigen und kulturellen Verfassung ergibt sich
als notwendige Funktion, beinahe mathematisch zu berechnen, die Grundwertung,
der „absolute" oder „objektive" Wert, wie wir ruhig sagen könne,:, das wonach
alle übrigen Werte sich orientieren, und was allem Tun und Treiben Wert,
d. h. Sinn gibt.

Es ist aber ohne weiteres klar, daß die Stärke, Wucht, Wirkungskraft dieser
Grundwertung von der Stärke des Wollens, d. h. von der Größe und Kraft


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[0615] Die Überwindung des europäischen Nihilismus stetigen Vervollkommnung der Welt beiträgt. Aber eben dieses Verhältnis von Zweck und Wert ist ein Irrtum. Es ist nicht wahr, daß die Werte an Zwecke gebunden seien, wie sehr auch die Empfindung dafür spreche; Wert und Zweck sind überhaupt nicht zwei verschiedene Dinge, sondern zwei Seiten desselben Dinges. Was uns subjektiv als Wert ins Bewußtsein tritt, das projicieren wir in die Außenwelt als Zweck. Man kann es auch so ausdrücken: die Spontaneität der Seele äußert sich als Trieb, Werte zu erzeugen, und diese scheinbar objektiven Werte bietet sie dem Willen als Zweck dar. In unserer Empfindung ist der Zweck das Primäre, wonach sich der Wert richtet; in Wirklichkeit ist der seelische Vorgang des Wertens das Primäre, und aus den Werten erst bilden sich die Zwecke. Das Werten, Wertsetzen, Werteschaffen ist eine Grundfunktion des mensch¬ lichen Geistes, die er ausübt mit derselben Notwendigkeit, mit der er das Kausalgesetz anwendet. Auf die Eindrücke der Außenwelt, welche seiner Seele dargeboten werden, reagiert er mit Gruppierung nach Wertstufen. Wo der Mensch hinkommt oder auch nur hinblickt, da sind Werte. Die Wertsetzungen stehen in unmittelbarer Beziehung zum Willen des Menschen; Werte find die seinem Willen gemäßen Dinge, ihr Wert steigt, je mehr sie dem Willen entsprechen oder ihn befördern, der höchste und letzte Wert, das summum bonum, ist das Korrelat seines Grundwillens, nämlich dessen, was er abgesehen von den jeweiligen Bedingungen überhaupt will. Unser Grundwille ist dasselbe, was Kant in die Formel des kategorischen Imperativs gefaßt hat, ist dasselbe, was als sittliche Forderung und als Gewissen in unser Bewußtsein tritt. Der Inhalt dieses Grundwillens, also auch des letzten und höchsten Wertes, also auch aller anderen Werte wird beeinflußt durch die Erkenntnis. Diese wirkt zwar nicht als Urheber der Wertsetzung, aber als ihr Korrektiv. Ein im wesentlichen auf Lebensgenuß gerichteter Wille z. B. kann ebensogut Sinnen¬ freude wie Enthaltsamkeit aufsuchen, je nachdem er erkannt hat, daß das eine oder das andere ihm im ganzen mehr Behagen schafft. Und auf höherem Gebiete: ob man der Gottheit besser diene durch Darbringung von Menschen¬ opfern oder durch Selbstaufopferung im Dienste der Nächstenliebe ist Sache der Erkenntnis, des Wissens oder Meinens; der zugrunde liegende Grundwille, nämlich das Gute zu tun auch gegen Neigung und Behagen, kann in beiden Fällen derselbe sein. Aus dem Grundwillen des Menschen in Verbindung mit seinem allgemeinen Wissen und Meinen, mit seiner geistigen und kulturellen Verfassung ergibt sich als notwendige Funktion, beinahe mathematisch zu berechnen, die Grundwertung, der „absolute" oder „objektive" Wert, wie wir ruhig sagen könne,:, das wonach alle übrigen Werte sich orientieren, und was allem Tun und Treiben Wert, d. h. Sinn gibt. Es ist aber ohne weiteres klar, daß die Stärke, Wucht, Wirkungskraft dieser Grundwertung von der Stärke des Wollens, d. h. von der Größe und Kraft 39*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/615>, abgerufen am 22.07.2024.